Vor 100 Jahren: Der faschistische Marsch auf Bozen

Vor rund 100 Jahren kündigte sich mit dem berüchtigten „Marsch auf Bozen“ bereits die bevorstehende faschistische Machtergreifung in Italien an.

Am 12. September 1922 hatten die Bozener Faschisten eine Reihe von Forderungen an den Gemeinderat von Bozen gestellt. Unter anderem hatten sie den Rücktritt des deutschbewussten Bürgermeisters Dr. Julius Perathoner verlangt. Perathoner war deshalb zur Zielscheibe der Italiener geworden, weil er am 4. November 1918 von den deutschen Parteien zum Vorsitzenden eines „Südtiroler Nationalrates“ gewählt worden war, der sich vergeblich gegen den Anschluss Südtirols an Italien gestellt hatte. 

Als der Gemeinderat den Bürgermeister nicht absetzte und auch andere Forderungen nicht erfüllte, kamen am 2. Oktober 1922 tausende schwer bewaffnete Faschisten nach Bozen. Sie wurden von keiner Behörde daran gehindert. 

Schlagzeile in den „Bozner Nachrichten“ vom 2. Oktober 1922.
Schlagzeile in den „Bozner Nachrichten“ vom 2. Oktober 1922.

Sie besetzten gewaltsam die deutsche Elisabethschule, tauften sie „Scuola Regina Elena“ (Auf Deutsch: „Schule Königin Elena“) und erklärten, dies sei jetzt die italienische Schule von Bozen. Damit wurde 700 deutschen Kindern die Schule genommen. Dann drangen die Faschisten ins Rathaus ein und zwangen den Gemeinderat zum Rücktritt. Statt dass die italienische Regierung der faschistischen Gewalt mithilfe des Militärs Einhalt gebot, erklärte der König in Rom den Bozener Bürgermeister Dr. Julius Perathoner für abgesetzt. Anstelle des Bürgermeisters und des Gemeinderates wurde ein staatlicher Kommissar als Verwalter eingesetzt.

Links: Die treibende Kraft dieser Aktion war vor allem der aus Apulien stammende politische Sekretär des „fascio“ von Bozen, Achille Starace (ganz links im Bild), der es noch zum Generalsekretär der Faschistischen Partei („Partito Fascista Nazionale“ – PNF) bringen sollte. Rechts: Der abgesetzte Bürgermeister Dr. Julius Perathoner.
Links: Die treibende Kraft dieser Aktion war vor allem der aus Apulien stammende politische Sekretär des „fascio“ von Bozen, Achille Starace (ganz links im Bild), der es noch zum Generalsekretär der Faschistischen Partei („Partito Fascista Nazionale“ – PNF) bringen sollte. Rechts: Der abgesetzte Bürgermeister Dr. Julius Perathoner.

Ein sensationelles neues Buch von Günther Rauch 

Über dieses Geschehen und darüber, was sich in der Folge daraus entwickelte, hat der Südtiroler Historiker Günther Rauch ein herausragendes Werk verfasst.

„Der Marsch auf Bozen“
„Wie der Fall Südtirol Mussolini und Hitler Lust auf mehr machte“

Günther Rauch: „DER MARSCH auf BOZEN. Wie der Fall Südtirol Mussolini und Hitler Lust auf mehr machte.“
Hardcover, 654 Seiten, 14×21,6 cm; reich bebildert
Effekt-Verlag Neumarkt/Südtirol 2022, ISBN 978-8-89-705398-9
€ 27,40

Der Autor Günther Rauch war von 1979 bis 1991 Vorsitzender des „Allgemeinen Gewerkschaftsbundes in Südtirol“, Mitarbeiter des „Europäischen Gewerkschaftsbundes“ (EGB) und auch in führenden Positionen in der Wirtschaft tätig. 

Vor allem aber ist Günther Rauch ein herausragender Zeithistoriker Südtirols, dessen Werke unverzichtbar sind. Hier seien  nur jene genannt, über die bereits in den Ausgaben des „Südtirol-Information-Dienstes“ (SID) berichtet wurde:

Italiens vergessenes Konzentrationslager“ (21.9.2018);
„Lautlose Opfer“ (13.11.2020);
„Bozner Obstplatz“ (18.5.2021).

Nachfolgend eine Besprechung seines neuesten Werkes

von Georg Dattenböck

Am 23.September 2022 durfte ich im Kolpinghaus in Bozen zusammen mit über 100 Persönlichkeiten aus Süd-, Welschtirol und Österreich die Präsentation des Buches „Der Marsch auf Bozen“ erleben. Dieses ist zweifellos ein nicht nur für Südtirol, sondern für die gesamte Geschichte Europas sehr wichtiges Werk und in mehrfacher Hinsicht eine historisch-politische Bombe!

Rauch liefert bislang unbekannte Details über die enge Zusammenarbeit zwischen Mussolini und Hitler, die nach dem „Marsch auf Bozen“ einsetzte. Dazu gehörte die geheime Finanzierung des politischen Aufstieges der Hitler-Bewegung durch den „Duce“. Der Buchautor belegt alle diese Enthüllungen mit Dokumenten, die er in Archiven aufgespürt und nun erstmalig veröffentlicht hat.

Der Verleger Elmar Thaler berichtete auf der Veranstaltung über das Werden des Buches und die lebhafte und gute Zusammenarbeit mit Günter Rauch. 

Dieses Bild zeigt mich (rechts) zusammen mit dem Verleger Elmar Thaler auf der Veranstaltung.
Dieses Bild zeigt mich (rechts) zusammen mit dem Verleger Elmar Thaler auf der Veranstaltung.

Zum Inhalt des Buches meldeten sich nach der Begrüßung durch Roland Lang, Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB), bedeutende Persönlichkeiten zu Wort: 

Luis Walcher, Vizebürgermeister der Stadt Bozen und der Landeskommandant-Stellvertreter des „Südtirol-Schützen-Bundes“, Christoph Schmidt lobten den Autor und sein wichtiges Werk. 

Die Lektorin, die bekannte Südtiroler Historikerin Dr. Margreth Lun, betonte in ihrer Rede, dass Günther Rauch die Südtiroler Geschichtsliteratur mit seinem Werk bereichert habe. Alles, was Günther Rauch mit diesem Buch aufgedeckt hat, kann er mit Quellen belegen.“

Von links nach rechts: Roland Lang begrüßte die Versammelten, Dr. Margareth Lun und der Autor Günther Rauch referierten über das Buch.
Von links nach rechts: Roland Lang begrüßte die Versammelten, Dr. Margareth Lun und der Autor Günther Rauch referierten über das Buch.

Der Bozner Rechtswissenschaftler Dr. Josef Perkmann schloss sich dieser Beurteilung voll an und die ehemalige SVP-Landtagsabgeordnete und Historikerin Martha Stocker sowie die ehemalige Landtagsabgeordnete Dr. Eva Klotz sprachen ebenfalls lobende Dankesworte. 

Der Trentiner Alt-Landeshauptmann Carlo Andreotti; bedankte sich bei dem Autor dafür, dass dieser in seinem Werk nicht auf die italienischsprachigen „tirolesi“ im Trentino vergessen habe, denn beide Landesteile hätten eine gemeinsame Geschichte.

Die Rede des Trentiner Alt-Landeshauptmannes Carlo Andreotti wurde von Frau Sartori verlesen. (Bild: UT24)
Die Rede des Trentiner Alt-Landeshauptmannes Carlo Andreotti wurde von Frau Sartori verlesen. (Bild: UT24)

Mussolinis Aufstieg zur Macht – Korruption, Blut und Verbrechen

Rauch präsentiert im 1. Teil seines Buches viele unbekannte, jedoch stets belegte Fakten zu Mussolinis steilem Aufstieg. Im Kapitel „Vom Pazifisten zum revolutionären Kriegstreiber“ zeichnete er mit Genauigkeit das zunächst unglaubliche Doppelgesicht des mit so viel Blut und Verbrechen befleckten Demagogen: 

„Zwei Tage vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien (28. Juni 1914) betitelte Mussolini als Chefredakteur des ‚Avanti‘ seinen Leitartikel mit: ‚Nieder mit dem Krieg! Keinen Soldaten und keinen Cent für den Krieg! Koste es, was es wolle! Wenn die gekrönten Häupter die Mobilisierung wollen, dann gibt es Revolution.“

Doch insgeheim war Mussolini für den Krieg: „Die Wandlung Mussolinis vom Pazifisten zum Kriegshetzer hatte, wie man sich vorstellen kann, hohe Wellen geschlagen… Mussolini hatte sich dem ‚sacro egoismo‘, dem ‚heiligen Eigennutz‘ folgend, in die Front der revolutionären Interventionisten, Eroberer und Annexionisten begeben.“

In dem Kapitel „Mit Schmiergeldern Agitrop und Hetzblättern finanziert“ beschreibt Rauch akribisch, dass „innerhalb weniger Tage nach seinem Ausscheiden aus dem ‚Avanti‘ Mussolini eine dreibundfeindliche und kriegshetzerische Zeitung ‚Il Popolo d’Italia‘ (Das Volk Italiens) gründete … Für ihn war der Krieg ein revolutionärer Faktor…“

Dieses von mir im Internet aufgefundene Bild unterstreicht den Bericht von Günther Rauch. Es zeigt die kriegshetzerische Schlagzeile in dem „Quotidiano Socialista“ (der „Sozialistischen Tageszeitung“) „Il Popolo d’Italia“ („Das Volk Italiens“) vom 21. Jänner 1915: „Für den Sozialismus und für den Krieg: Gegen die Fossilien!“
Dieses von mir im Internet aufgefundene Bild unterstreicht den Bericht von Günther Rauch. Es zeigt die kriegshetzerische Schlagzeile in dem „Quotidiano Socialista“ (der „Sozialistischen Tageszeitung“) „Il Popolo d’Italia“ („Das Volk Italiens“) vom 21. Jänner 1915: „Für den Sozialismus und für den Krieg: Gegen die Fossilien!“

Besonders aufschlussreich wird es ab dem Kapitel „Geld wie Heu, das nur abzuholen war.“ Hier wird im Detail beschrieben, wie Mussolini die Millionen seines ersten „Judaslohnes“ im Hotel d’Angletere in Genf von den Vertretern der Entente-Staaten nur abzuholen brauchte. Es war Geld aus den Kassen der alliierten Rüstungsindustrie, den Kriegs- und Spionagefonds Frankreichs und Englands. Allein aus den französischen Geheimdepots flossen 25 Millionen Goldfranken nach Mailand bzw. in eine Genfer Bank. „Der Widerwille gegen die Freimaurerei hat Mussolini nicht gehindert, die Schwelle einer freimaurerischen Loge zu überschreiten, um die Gelder in Empfang zu nehmen, die die französische Regierung ihm 1914 zur Verfügung stellte, um den ‚Popolo d’Italia‘ zu gründen und die Agitation für Italiens Kriegseintritt einzuleiten.“

Hauptzeugen für die bodenlose Korruptheit Mussolinis und seines Verrates an seinem eigenen Land werden von Rauch vielfach zitiert. Rauch berichtet unter Bezugnahme auf Zeitzeugen, dass Mussolini im Jahre 1904 als „junger Vagabund in der französischen Schweiz Spitzeldienste für die französische Polizei geleistet hatte“.

Schweizer Polizeifoto des jungen Benito Mussolini.
Schweizer Polizeifoto des jungen Benito Mussolini.

Wie Mussolini die NSDAP und Hitler finanzierte – und damit den Weg in das Unheil Europas bereitete

In dem 2. Teil des Buches zitiert Günter Rauch einleitend Philipp Scheidemann (1856-1939), den damaligen Reichspräsidenten der Nationalversammlung:

Nationalsozialistische Arbeiterpartei. National? Man erinnere sich der zynischen Preisgabe Südtirols durch Adolf Hitler (…) Hitler sagte am 14.November 1922 in München: ‚Ein klarer Verzicht auf Südtirol ist nötig. In der Politik gibt es keine Sentiments, sondern nur Kaltschnäuzigkeit.‘‘“

Bereits am 17.April 1920 erklärte Hitler in einer Rede im Münchner Hofbräuhaus, dass der „Erbfeind“ Frankreich sei. Am 1. August 1920, berichtet Rauch, ließ Hitler auf einer Veranstaltung in der Rosenau in Nürnberg „das Thema einer italienischen Allianz anklingen … – in einer Zeit, als die italienischen Faschisten mit einem ansatzweise antikapitalistischen Programm bereits ihre Stoßtruppen, die ‚Fasci di combattimento‘, aufbauten.“

Wenige Tage vor der im italienischen Parlament vollzogenen Zerreißung des alten Landes Tirol, am 29.9.1920, sprach Hitler zwei Stunden im Stadtsaal in Innsbruck: „Zu Südtirol schwieg er.“ Die Innsbrucker Volkszeitung stempelte ihn deswegen als „politischen Komödianten ab.“

Mussolini besuchte Deutschland bereits vor seinem Marsch auf Bozen und dem darauf folgenden Marsch auf Rom, Dabei wurden auch Fäden zur NSDAP gesponnen. Rauch berichtet:

Vom 7. bis 17. März 1922 war Benito Mussolini in Begleitung seines Privatsekretärs Alessandro Chiavolini in Berlin und München. Die Reise nach Deutschland erfolgte wenige Monate vor seiner gut in Szene gesetzten republikanischen Abschwörung in Udine, dem Sturm auf das ‚staatenlose‘ Bozen, der Stippvisite nach Budapest zum Faschisten Miklós Horthy, zu den rechten Bewegungen in Prag und London und dem Marsch auf Rom.“

Im Grundsatzprogramm der DAP und der NSDAP war damals noch Forderung auf Rückgabe Südtirol enthalten. Das war Hitler lästig. Rauch berichtet:

„Erst als der lästige Punkt Südtirol von den Nationalsozialisten ad acta gelegt wurde und sich das Einschwenken der Nationalsozialisten auf Mussolinis ethnische Säuberung und Vertreibung als Mittel der Politik längst vollzogen hatte, war im Jahr 1929 in der 5. Auflage des NSDAP-Programms (S. 42) an die Stelle der Worte ‚in Südtirol‘ Elsaß-Lothringen getreten. Diese grundsätzliche Programmänderung war wenige Wochen vor dem im Amtsgericht München am 6. Mai 1929 beginnenden großen Hitler-Prozess gefallen. Bei diesem, wie bei den nachfolgenden Prozessen, ging es um die italienisch-freundliche Haltung Hitlers in der Südtirolfrage, die auf italienische finanzielle Unterstützung an die NSDAP und Waffenlieferungen an die bayerischen Putschisten und Braunhemden zurückzuführen war.“

Die herzliche Komplizenschaft wurde auch öffentlich bekundet. 1932 überbrachte der nationalsozialistische Funktionär Theodor Eicke vor dem „Siegesdenkmal“ in Bozen dem faschistischen Herzog Filiberto Ludovico di Pistoia die persönlichen Grüße Hitlers.
Die herzliche Komplizenschaft wurde auch öffentlich bekundet. 1932 überbrachte der nationalsozialistische Funktionär Theodor Eicke vor dem „Siegesdenkmal“ in Bozen dem faschistischen Herzog Filiberto Ludovico di Pistoia die persönlichen Grüße Hitlers.

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg sprach Hitler aus rein taktischen Gründen über das Unrecht der Brennergrenze. In Wahrheit bekämpfte er führende Parteigenossen, die es mit Südtirol ernst nahmen, in späterer Folge mit allen Mitteln, bis hin zum gemeinen Mord.

Rauch berichtet: „Spätestens seit seiner Entlassung aus einer vier Wochen langen Kerkerhaft (wegen Gewalttaten bei einer Versammlung der Bayernbündler) am 4. August 1922 fing Hitler an, sich offen von der alten Überzeugung der Nationalsozialisten zu lösen und ein neues glorifizierendes Licht auf Italien zu lenken.“

Hitler begann, sich an Mussolini und den Faschismus anzubiedern. Sein „glorifizierendes Licht“ auf Mussolinis Italien wird dem Leser immer mehr verständlich, wenn über die von Günther Rauch in vielen Kapiteln aufgedeckten, tausendfach verschlungenen Wege der verdeckten Zusammenarbeit mit den Faschisten und vor allem über die vielen geheimen Wege des Geldflusses zu Hitler liest, die Rauch schonungslos aufdeckt: 

Das mit italienischen Banknoten bezahlte Terrornetzwerk lief in München zusammen… 18 Millionen Mark aus Italien für Hitlers Südtirol-Verrat… Südtirol verrecke: für viele Millionen Lire… Werner Abel enthüllt Hitlers italienische Geldquellen… OVRA-Agenten: Duce finanzierte Hitlers Aufstieg… Italiens Diplomaten gaben unverblümt die NSDAP-Finanzierungen zu“, so lauten einzelne Kapitel-Überschriften.  

Es war bisher schon ansatzweise bekannt gewesen, dass Mussolini den Aufstieg der NSDAP und Hitlers finanziell unterstützt hatte. Das gewaltige und korrupte Ausmaß des Geschehens war aber bisher nicht aufgedeckt worden. Günther Rauch zieht nach vielen Jahrzehnten die verhüllende Decke weg und legt dokumentarisch belegt die umfassende Wahrheit vor. 

Fazit: Man muss dieses Buch von Günther Rauch gelesen haben, um die Beweggründe und die Tiefe des Verrates von Adolf Hitler an Südtirol zu begreifen, der 1939 in dem schändlichen Versuch der Aussiedlung der Südtiroler aus ihrer eigenen Heimat gipfelte. 

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