Hintergründe zur Aushöhlung der Südtirol-Autonomie

Die Verabschiedung Österreichs aus seiner Schutzmachtrolle und der Streitfall vor der UNO und die „Streitbeilegung“

Am 6. Juli 1960 hatte der österreichische Außenminister Dr. Bruno Kreisky der Vollversammlung der Vereinten Nationen ein Memorandum überreicht, in welchem über die nach 1945 fortgesetzten Italianisierungsmaßnahmen Italiens in Südtirol Bericht erstattet wurde. Am Schluss des Memorandums hatte es geheißen: „Österreich richtet daher an die Vollversammlung gemäß Artikel 10 und Artikel 14 der UN-Satzung das Ersuchen, den aus der Vorenthaltung der Autonomie entstandenen österreichisch-italienischen Streitfall zu behandeln und im Geiste der Charta eine demokratischen Grundsätzen entsprechende gerechte Lösung herbeizuführen, die der österreichischen Minderheit in Italien die von ihr geforderte und zur Erhaltung ihrer Existenz als Minderheit auch benötigte Selbstverwaltung und Selbstregierung im Sinne einer echten Autonomie gewährt und sicherstellt.“

Unter dem Druck der Anschläge der Südtiroler Freiheitskämpfer, welche die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das ungelöste Südtirol-Problem lenkten, war es zu Verhandlungen mit Rom gekommen, die letztlich zu dem Autonomie-Statut von 1972 führten.

Am 11. Juni 1992 hatten Österreich und Italien dann gegenüber der UNO die sogenannte „Streitbeilegungserklärung“ abgegeben.

Anschließend setzte eine nach Salamitaktik scheibchenweise vorgenommene Autonomiebeschneidung durch Rom ein, gegen die Österreich nichts unternahm. Wie neuere Untersuchungen zeigen, sind bis heute mehr als 50 Prozent der Landeskompetenzen Südtirols von Italien eingeschränkt oder gar abgeschafft worden. Die „Schutzmacht“ Österreich hat diesem Geschehen tatenlos zugesehen. Die Hintergründe für dieses Verhalten werden in dieser Dokumentation aufgezeigt.

Jubelveranstaltung in Bozen

Am 11. Juni 2022 fand im Bozner Stadttheater eine offizielle Jubelveranstaltung unter dem Titel „30 Jahre Streitbeilegung vor den Vereinten Nationen – Südtirols Autonomie als gemeinsame Verantwortung“ statt.

Dort schwangen Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP), der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) und der italienische Außenminister Luigi di Maio salbungsvolle Reden.

Aus: „Dolomiten“ vom 13. Juni 2022.

Landeshauptmann Kompatscher erklärte die Südtirol-Autonomie zu einem „Vorzeigemodell“ und forderte in seltsamem Widerspruch dazu, dass man die verloren gegangenen Kompetenzen wieder herstellen müsse.

Außenminister Schallenberg erklärte, dass in Südtirol eine „Win-win-Situation“ auf einem einvernehmlichen bilateralen Weg geschaffen worden sei. Außenminister Di Maio erklärte, dass Österreich und Italien eine tiefe Freundschaft verbinde. (Siehe „Die neue Südtiroler Tageszeitung“ online vom 11. Juni 2022)

Wie es tatsächlich um das „Vorzeigemodell“ der Südtirol-Autonomie steht, zeigt die nachstehende kurze Dokumentation, welche der ehemalige Landeskommandant des „Südtiroler Schützenbundes“, Elmar Thaler, in seinem Blog auf der Internetseite des Portals „Unser Tirol 24“ veröffentlicht hat.

Die international-rechtlich nicht abgesicherte Südtirol-Autonomie

 von Elmar Thaler

Elmar Thaler

Nun, da der offizielle Jubel über „30 Jahre Streitbeilegung vor den Vereinten Nationen“ verklungen ist, zeigt die nachstehende Darstellung, dass die Südtirol-Autonomie auf tönernen Beinen steht. Die Behauptung, dass sie international-rechtlich gut abgesichert sei und der ganzen Welt als Vorbild dienen könne, ist eine Irreführung der Bevölkerung.

 

Das EWG-Veto Italiens und Österreichs Verzicht auf eine vertragliche Absicherung der Autonomie

Der österreichische Außenminister Dr. Bruno Kreisky und sein italienischer Kollege Giuseppe Saragat hatten eine zwischenstaatliche Vereinbarung über das künftige Autonomie-„Paket“ und die Einrichtung eines Schiedsgerichtes für die Klärung allfälliger Streitfragen geplant gehabt.

Als die Österreichische Volkspartei (ÖVP) 1966 bei den Nationalratswahlen die absolute Mehrheit errang, ließ der neue Außenminister Dr. Lujo Toncic-Sorinj unter dem Druck des italienischen Vetos gegen einen Beitritt Österreichs zur „Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft“ (EWG) die Forderung nach internationaler Verankerung fallen.

Die italienische Seite beharrte darauf, dass in Zukunft Streitfragen in Bezug auf die Autonomie von Österreich vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gebracht werden müssten. Dort könnten jedoch nicht die Autonomiebestimmungen des italienischen „Sonderstatuts für Trentino-Südtirol“ von 1972 eingeklagt werden, die rein innerstaatliche italienische Rechtsakte seien, auf die Österreich keinen internationalen Rechtsanspruch habe und die eine „Übererfüllung“ des „Pariser Vertrages“ darstellten. Eingeklagt werden könne nur das „Pariser Abkommen“ von 1946.

Ein vernichtendes Gutachten

Der Teufelsfuß an der Sache: Das „Pariser Abkommen“ von 1946 umfasst lediglich 40 Textzeilen und besteht vorwiegend aus unverbindlichen Absichtserklärungen.

Eindeutig geregelt sind nur der gleichberechtigte Gebrauch der deutschen Sprache in öffentlichen Ämtern, der Schulunterricht in der Muttersprache und die Gleichberechtigung bei dem Eintritt in den öffentlichen Dienst. In einer allgemein gehaltenen Floskel wurde eine autonome regionale Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis zugesichert, deren Umfang jedoch nicht definiert war.

Das lediglich 40 Textzeilen umfassende und nahezu nur aus allgemeinen Absichtserklärungen bestehende „Pariser Abkommen“.
Das lediglich 40 Textzeilen umfassende und nahezu nur aus allgemeinen Absichtserklärungen bestehende „Pariser Abkommen“.

Am 1. Mai.1992 legte der Salzburger Jurist Univ.-Prof. DDr. Franz Matscher dem österreichischen Außenminister Dr. Alois Mock ein Gutachten „Zur internationalen Verankerung des Pakets“ vor. (Seinerzeit zur Verfügung gestellt von Univ.-Prof. Dr. Felix Ermacora)

In diesem Gutachten erklärte Univ.-Prof. DDr. Matscher, dass Italien seinen Rechtsstandpunkt nicht aufgegeben habe, wonach „die Paketmaßnahmen innerstaatliche, Österreich gegenüber völkerrechtlich nicht verbindliche Rechtsakte“ darstellten.

Eine erfolgreiche Einklagbarkeit von Paketmaßnahmen vor dem IGH sei davon abhängig, dass der Nachweis gelinge, dass die verletzte Autonomiebestimmung, derentwegen die Klage erhoben werde, aus dem Pariser Vertrag ableitbar und zu seiner Erfüllung auch notwendig sei.

Bei den Fällen unmittelbarer Ableitbarkeit aus dem Pariser Vertrag dürfte dieser Nachweis relativ leicht, bei den Fällen mittelbarer Ableitbarkeit schwierig und bei den Fällen entfernter Ableitbarkeit eher zu verneinen sein.

Diese Feststellungen des Gutachters Univ.-Prof. DDr. Matscher standen in offenem Widerspruch zu der offiziellen Behauptung der österreichischen Bundesregierung, wonach alle Paketmaßnahmen als notwendig zur Erfüllung des Pariser Abkommens von 1946 anzusehen und daher mit Erfolg vor dem IGH einklagbar seien.

Ende Mai 1992 veröffentlichte die „Autonome Region Trentino-Südtirol“ den damaligen Autonomiebestand in einem dicken Buch von 741 Seiten. Man kann sich ungefähr vorstellen, wieviel dieser Materie aus einem 40 Zeilen umfassenden Schriftstück namens „Pariser Abkommen“ direkt abgeleitet werden kann!!!

Österreichs Verabschiedung aus der Schutzmachtrolle für die Autonomie

Am 5. Juni 1992 stimmte der Österreichische Nationalrat trotz dieses Gutachtens und zahlreicher Proteste von Rechtskundigen wie Univ.-Prof. Dr. Felix Ermacora mit den Stimmen der ÖVP und der SPÖ gegen die Stimmen der FPÖ der Unterzeichnung des sogenannten IGH-Vertrages zu, in welchem die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes (IGH) für Streitigkeiten über Auslegungen des „Pariser Abkommens“ vereinbart wurde.

Am 11. Juni 1992 übergab der österreichische Außenminister Dr. Alois Mock dem italienischen Botschafter Quaroni eine Verbalnote, mit der Österreich die Erfüllung des Autonomie-„Pakets“ durch Italien formell anerkannte.

Am 19. Juni 1992 gaben Österreich und Italien gegenüber den Vereinten Nationen die sogenannte „Streitbeilegungserklärung“ ab

Österreich scheut bis heute den Gang zu dem IGH

Trotz fortgesetzter Autonomieaushöhlungen scheut die österreichische Bundesregierung bis heute den Gang zum Internationalen Gerichtshof (IGH). Die Gefahr, eine solche Klage formalrechtlich zu verlieren, ist zu groß. Eine österreichische Niederlage vor dem IGH würde weiteren italienischen Eingriffen in die Autonomie erst richtig Tür und Tor öffnen und der Öffentlichkeit zeigen, wie es um die „Schutzmachtrolle“ Österreichs in Bezug auf die Autonomie „international-rechtlich“ in Wahrheit bestellt ist.

Damit erklärt sich, weshalb Südtirol bei allen bisherigen Autonomie-Aushöhlungen von Österreich allein gelassen wurde und bis heute darauf angewiesen ist, in endlosem Kuhhandel durch Gegengeschäfte und gefällige Abstimmungen im römischen Parlament zu versuchen, jeweils zu retten, was zu retten ist.

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