1953: Eine verzweifelte Warnung – Der „Todesmarsch“ der Deutschen und Ladiner Südtirols
Am 28. Oktober 1953 sah sich Kanonikus Michael Gamper, der große Vorkämpfer für die Rechte seiner Volksgruppe, veranlasst, in den „Dolomiten“ zu schreiben: „Die gewollte Unterwanderung unseres Volkes geht unaufhaltsam weiter. … Viele Zehntausende sind nach 1945 und nach Abschluss des Pariser Vertrages aus den südlichen Provinzen in unser Land eingewandert, während zur gleichen Zeit die Rückkehr von einigen Zehntausenden unserer umgesiedelten Landsleute unterbunden wurde. Von Jahr zu Jahr sinkt so der Prozentsatz der einheimischen Bevölkerung steil ab gegenüber dem unheimlichen Anschwellen der Einwanderer.
Fast mit mathematischer Sicherheit können wir den Zeitpunkt errechnen, zu dem wir nicht bloß innerhalb der zu unserer Majorisierung geschaffenen Region, sondern auch innerhalb der engeren Landesgrenzen eine wehrlose Minderheit bilden werden. Dies in einem Raume, in dem noch vor kurzem die Italiener nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung ausgemacht hatten.
Es ist ein Todesmarsch, auf dem wir Südtiroler seit 1945 uns befinden, wenn nicht noch in letzter Stunde Rettung kommt.“
Am 24. November 1953 wies auch der Nordtiroler Landeshauptmann Alois Grauß, ein ehemaliger Kaiserjäger aus dem Ersten Weltkrieg, im Tiroler Landtag auf den von Kanonikus Gamper aufgezeigten „Todesmarsch“ hin und mahnte das Selbstbestimmungsrecht für Südtirol ein.
Das Entstehen des „Befreiungsausschusses Südtirol“ BAS
Ab 1956 hatte sich unter der Leitung des Frangarter Kleinbauern und Gemischtwarenhändlers Sepp Kerschbaumer der „Befreiungsausschuß Südtirol“ (BAS) gebildet, der entschlossen war, notfalls durch demonstrative Anschläge die internationale Öffentlichkeit aufzurütteln. Die ersten demonstrativen Anschläge der Jahre 1956 und 1957 wurden allerdings nicht von BAS-Leuten verübt, sondern von einem Kreis von Widerständlern um den Druckereiangestellten Hans Stieler in Bozen.
Versuche mit friedlichen Mitteln
Der damalige SVP-Ortsobmann Sepp Kerschbaumer versuchte zunächst mit friedlichen Mitteln eine Wende herbeizuführen. Er hisste demonstrativ am 20. Februar 1957, dem Todestag von Andreas Hofer, zwei Tiroler Fahnen an und vor der Frangarter Ortskirche. Daraufhin erschienen die Carabinieri und beschlagnahmten die Fahnen. (Bericht in der Tageszeitung „Dolomiten“ am 23. Februar 1957)
Kerschbaumer hängte am Herz-Jesu-Sonntag erneut zwei Tiroler Fahnen aus. Nun wurde er wegen „aufrührerischer Kundgebung“ vor Gericht gestellt und zu 10 Tagen Haft verurteilt, wobei der Artikel 654 („Grida e manifestazioni sediziose“ – „Aufrührerische Schreie und Kundgebungen“) des alten und immer noch in Geltung befindlichen faschistischen Strafgesetzbuches angewandt wurde. Der Staatsanwalt Dott. Mario Martin bezeichnete in der Verhandlung die Tiroler Fahnen abfällig als „stracci“ – als „Fetzen“. (Bericht der SVP-Wochenzeitung „Der Volksbote“ am 20. Juli 1957)
Kerschbaumer versandte zahlreiche Briefe und Flugblätter und richtete beschwörende Briefe an Südtirols Politiker, verstärkt für die Rechte des Landes einzutreten.
Das Scheitern friedlicher Mittel – Kerschbaumer kündigt Magnago künftige Anschläge an
Kerschbaumer und sein Freundeskreis mussten das Scheitern friedlicher Mittel zur Kenntnis nehmen. Südtirol verfügte über keine großen unkontrollierbaren Ballungszentren, in denen eine Untergrundbewegung friedliche aber politisch wirksame Massenbewegungen hätte organisieren können. Das ganze Land wurde durch polizeilichen Terror faschistischen Zuschnittes geduckt gehalten. Die Justiz agiert mit der Hilfe immer gültiger Polit-Paragraphen des alten faschistischen Strafgesetzbuches – ein Unikum in Europa! Angezeigt und eingesperrt wurde bei jedem Anlass:
1958 sprach der SVP-Ortsobmann Kerschbaumer bei seinem Parteiobmann Silvius Magnago vor und beklagte die Ergebnislosigkeit der Verhandlungen mit den Italienern. Er erklärte, dass Anschläge „auf Objekte, nicht auf Menschen“ durchgeführt werden müssten. Magnago erklärte, dass er Kerschbaumer nicht die Hände zubinden könne, warnte aber vor der Gefahr einer Parteiauflösung, wenn dieser als SVP-Ortsobmann in illegale Tätigkeiten verwickelt werde. Kerschbaumer zog aus diesem Gespräch die Konsequenz, nicht mehr zur Wahl als SVP-Ortsobmann anzutreten, jedoch den aktiven Widerstand weiter vorzubereiten. (Siehe: Josef Fontana / Hans Mayr: „Sepp Kerschbaumer“, Bozen 2000, S. 102f)
Die Mitwisserschaft weiterer hoher Politiker
Sepp Kerschbaumer war mit dem Nordtiroler Landtagsabgeordneten und späteren Landesrat Rupert Zechtl (SPÖ) befreundet, der voll in die Pläne des BAS eingeweiht wurde und darüber brieflich an Außenminister Bruno Kreisky (SPÖ) nach Wien berichtete. Diese Briefe sind im Kreisky-Archiv in Wien erhalten und dokumentieren die Mitwisserschaft der „hohen Politik“.
In Nordtirol organisierten die ehemaligen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, der Schriftsteller Wolfgang Pfaundler und der Universitätsassistent Helmut Heuberger zusammen mit dem Landesrat Aloys Oberhammer (ÖVP), dem Innsbrucker Kaufmann Kurt Welser, dem Schriftsteller Heinrich Klier und dem Innsbrucker Universitätsassistenten Norbert Burger die Unterstützung des BAS mit Geld und Sprengstoff. Ihnen standen in Wien der mächtige Zeitungsverleger Fritz Molden, ebenfalls ein ehemaliger Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, und der spätere ORF-Chef Gerd Bacher als Mitverschworene zur Seite.
Es gab auch direkte Kontakte des BAS mit Außenminister Kreisky. Besprechungen mit Sepp Kerschbaumer, Wolfgang Pfaundler, den Südtiroler Schützenoffizieren Georg Klotz und Jörg Pircher sowie dem BAS-Mann Karl Tietscher sind aktenmäßig dokumentiert. Bezeugt sind auch Äußerungen von Kreisky, wonach es „auf ein paar Masten mehr oder weniger“ nicht ankommen solle.
In Südtirol waren SVP-Politiker wie Peter Brugger, Friedl Volgger, Franz Widmann und Hans Dietl näher eingeweiht.
Das endgültige Scheitern aller Verhandlungen
Am 25. Mai 1961 brachte Außenminister Kreisky bei den Südtirol-Verhandlungen in Klagenfurt neben den Autonomie-Forderungen der Südtiroler auch das geplante Ausbürgerungs-Gesetz zur Sprache und sagt dem italienischen Außenminister Segni ins Gesicht: „Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, entsteht eine sehr ernste Situation … Ich sage Ihnen aber allen Ernstes, wenn dieses Gesetz zustande kommt, gibt es kein Verhandeln mehr.“
Die Verhandlungen scheiterten noch am selben Tag, weil die italienische Seite insgesamt zu keinerlei Zugeständnissen bereit war.
Die Situation duldete keinen Aufschub mehr – Der große Schlag der Feuernacht
In dieser Situation beschloss der BAS in einer Beratung im schweizerischen Zernez am 1. Juni 1961den großen Schlag der „Feuernacht“, um die Weltöffentlichkeit auf das Unhaltbare der Situation aufmerksam zu machen.
Die „Feuernacht“, das war die Herz-Jesu-Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961. In dieser Nacht wurden zahlreiche Feuer zum Gedenken an die Freiheitskämpfe von 1796 und 1809 abgebrannt und es waren zahlreiche Menschen unterwegs. So fielen auch die Attentäter des BAS nicht auf, als sie im ganzen Land Hochspannungsmasten mit Zeitzünder-gesteuerten Sprengladungen versahen.
Wie man den späteren Verhaftungslisten entnehmen kann, handelte es sich bei den Südtiroler Attentätern nicht um verhetzte Ideologen oder gar um Irre, sondern um durchwegs christlich gesinnte Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende, die mit beiden Beinen auf dem Boden standen und die aus Verzweiflung einfach keinen anderen Ausweg mehr sahen, um die Entrechtung und Vernichtung ihrer Volksgruppe zu verhindern.
Die Nordtiroler Teilnehmer an der Feuernacht kamen zumeist aus gutbürgerlichen und teilweise akademischen Kreisen. Eine Reihe von ihnen reiste im Rahmen eines von dem Innsbrucker Komponisten und Musikprofessor Günther Andergassen organisierten Kulturausfluges „Pro Arte et Musica“ nach Oberitalien.
Auf dem Rückweg hielt der Bus am Abend in Bozen. Die Insassen schwärmten in die Umgebung aus und „luden“ ebenso wie ihre Südtiroler Freunde ausgewählte und ihnen zugewiesene Hochspannungsmasten. „Kurz nach Mitternacht bebte das Gebiet um den Bozner Talkessel fast zwei Stunden lang unter heftigen Explosionen, die in kurzen Abständen erfolgten, schlagartig die Nacht erhellten, um darauf die Stadt umso tiefer in Dunkelheit zu stürzen. Fenster barsten, viele Stadtbewohner stürmten von Panik getrieben auf die Straßen. Dasselbe im ganzen Land …“ (Franz Widmann: „Es stand nicht gut um Südtirol“, Bozen 1998, S. 561)
In der Herz-Jesu-Nacht wurden an die 40 Hochspannungsmasten gesprengt, 37 Masten erlitten Totalschaden, die anderen waren beschädigt.
Der Donnerschlag der Herz-Jesu-Nacht und die nach darauf folgenden Anschläge der nächsten Tage rückten mit einem Schlag das ungelöste Südtirolproblem in den Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit.
Am nächsten Tag kam tragischer Weise bei der Salurner Klause der Straßenwärter Giovanni Postal ums Leben, als er eigenmächtig eine nicht detonierte Sprengladung entschärfen wollte.
Die Auswirkungen der „Feuernacht“
Der große Schlag der Feuernacht löste eine Reihe von Ereignissen aus: Massenhaft wurden Carabinieri, Polizei und Militär ins Land gebracht und in Militärlagern, Kasernen, Feldlagern und in beschlagnahmten Hotels untergebracht. Anfänglich waren es etwa 15.000 Mann, ihre Zahl sollte laut Medienberichten jedoch bis auf 45.000 steigen.
Rom reagierte auf die Anschläge mit Härte und mit unglaublichen Methoden des Terrors und der Folter. Die Welt blickt geschockt auf Südtirol.
Parallel zu den Repressionsmaßnahmen machte Rom aber nun ein direktes Autonomie-Verhandlungsangebot an die Südtiroler Volkspartei.
Die Feuernacht warf das Vorhaben des Ausbürgerungsgesetzes – eines wahrhaft gigantischen Anschlages auf die deutsche und ladinische Volksgruppe – auf den Müllhaufen der Geschichte und zwang die römische Regierung, in Verhandlungen mit der SVP eine politische Lösung zu suchen. Der Preis, den zahlreiche Freiheitskämpfer bezahlten, war jedoch ein schrecklicher: Folter, Tod, Erniedrigung – in einem Ausmaß, welches man im zivilisierten Mitteleuropa nach Hitler und Mussolini nicht mehr für möglich gehalten hatte.
Darüber Näheres in der nächsten Dokumentation