Ein erhellendes Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofes
Ein vom Geist einer wenig rühmenswerten Vergangenheit geprägtes Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofes vom 25. September 2018 sorgt für berechtigte Aufregung in Südtirol, obwohl es zunächst formal vor allem Welschtirol – das heutige „Trentino“ – betrifft. Seine rechtlichen Auswirkungen auf Südtirol sind jedoch nicht zu übersehen.
Im ladinischen Fassatal hatten sich die Gemeinden Pozza und Vigo zu einer Großgemeinde zusammengeschlossen, welcher man den ladinischen Namen „Sen Jan“ gab, welcher für den Heiligen Johannes steht. Ergänzt hatte man den ladinischen Heiligennamen durch das italienische „di Fassa“ – auf Deutsch: „im Fassatal“.
Der ladinisch-italienische Mischname „Sen Jan di Fassa“ wurde durch ein Regionalratsgesetz festgeschrieben.
Dem aus 15 italienischen Richtern bestehenden Verfassungsgerichtshof in Rom war der Name zu wenig italienisch. Ungeachtet der Regionalautonomie für Trentino-Südtirol stellte der Gerichtshof fest, dass
„der Schutz der Minderheitssprachen nicht durch den Verzicht auf den Gebrauch der offiziellen Nationalsprache erfolgen kann.“
Der Verfassungsgerichtshof bezog sich hierbei auf die Staatsverfassung und auf den Artikel 1 des Staatsgesetzes N. 482 vom 15. Dezember 1999, in welchem es heißt:
„Die offizielle Sprache der Republik ist Italienisch“.
Daher erklärte der italienische Verfassungsgerichtshof in seiner Sitzung vom 25. September 2018 die Bezeichnung „Sèn Jan di Fassa-Sèn Jan“ für illegitim. Der Ortsnamen müsse vielmehr zweisprachig heißen: „San Giovanni di Fassa-Sèn Jan“.
Heiligsprechung der erfundenen faschistischen Ortsnamen
Für Südtirol bedeutet dieses Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofes wiederum eine Heiligsprechung der erfundenen faschistischen Ortsnamen. In dem Urteil waren nämlich auch die deutschen Ortsnamen Südtirols kurz zur Sprache gekommen:
„Das Autonomiestatut beinhaltet zwar auch Bestimmungen zur Toponomastik – zutiefst beeinflusst von geschichtlichen Ereignissen in den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts –, aber dieses bringt keine Abweichung von der offiziellen italienischen Staatssprache mit sich. In verschiedenen Fällen können auch Namen auf Deutsch, Ladinisch, Zimbrisch oder Fersentalerisch zusätzlich verwendet werden“, hielten die Richter in ihrem Urteil fest.
Damit bekräftigte der Verfassungsgerichtshof auch in Bezug auf Südtirol wieder, dass die deutschen oder ladinischen Ortsnamen zwar verwendet werden dürften, ihnen aber kein offizieller Charakter und keine Rechtsgültigkeit zukommt. Offizielle Namen sind demnächst nur die erfundenen faschistischen Namen.
Damit bekräftigt der Verfassungsgerichtshof die faschistische Gesetzgebung von 1923 und 1940, mit welcher die von dem faschistischen Senator Ettore Tolomei zum größten Teil frei erfundenen italienischen Ortsnamen für offiziell alleine gültig erklärt worden waren.
Mit dem auch von Mussolini unterschriebenen Königlichen Dekret vom 29. März 1923 waren die erfundenen Ortsnamen in Südtirol eingeführt worden.
Mit einem weiteren Dekret vom 10. Juli 1940 wurde den über 8.000 italienischen Orts- und Flurnamen ihre amtliche Bedeutung nochmals bestätigt.
Dieses faschistische Dekret aus dem Jahre 1940 ist heute noch die einzige gesetzliche Grundlage für die unsägliche und zum Großteil lächerliche Ortsnamensgesetzgebung in Südtirol.
Widerspruch aus Südtirol
Das sehr unkonventionelle Internetportal „Brennerbasisdemokratie“ hat dazu am 23. November 2018 eine Abhandlung aus der Feder von Simon Constantini veröffentlich, welche inhaltlich interessant ist:
„Mit gestern veröffentlichtem Urteil (Nr. 210/2018) hat das italienische Verfassungsgericht beschlossen, dass die Gemeinde Sèn Jan künftig auch eine italienische Ortsbezeichnung (San Giovanni) braucht. Der Entscheid geht auf eine Anfechtung der angeblich weltoffenen und autonomiefreundlichen Mittelinksregierung von Paolo Gentiloni (PD) Ende Dezember 2017 zurück”.
Hierbei habe sich der Verfassungsgerichtshof, so Simon Constantini, über die Argumente der Region Südtirol-Trentino hinweggesetzt.
Diese hatte auf die Situation im französisch-sprachigen Aostatal und in Teilen des Piemont verwiesen, wo einnamig französiche bzw. frankoprovenzalische Ortsbezeichnungen existieren.
Die Region hatte auch auf das Unrecht der faschistischen Zwangsitalianisierung verwiesen. Des weiteren hatte sie festgestellt, dass sich die italienischsprachige Gemeinschaft vor Ort mit dem Namen Sèn Jan (di Fassa) voll identifiziert und dass die Ortsbezeichnung von der Stimmbevölkerung direktdemokratisch abgesegnet worden sei.
Der seinerzeitige Präsident der italienischen verfassunggebenden Nationalversammlung, Umberto Terracini, habe in Bezug auf das Aosta-Tal erklärt gehabt: „die Ortsnamen und die Eigennamen sind nicht Teil der anderen Sprache, sondern sie sind was sie sind”. Daher, so Constantini: „Mehrsprachigkeit ist nicht Mehrnamigkeit.”
Auch darüber fährt das Gericht laut Constantini „mit einer Argumentationsweise drüber, die fassungslos macht”.
„So dürften die Vorherrschaft der italienischen Sprache – als alleinige Staatssprache und alleinige Sprache des Verfassungssystems (!!) – durch den Minderheitenschutz nicht infrage gestellt und die italienische Mehrheitsbevölkerung nicht benachteiligt werden. Dies gelte ausdrücklich auch für die Ortsnamengebung und dürfe niemals dazu führen, dass eine Minderheitensprache alternativ zur italienischen benutzt wird. Außerdem sei das Primat der italienischen Sprache – Achtung Brechreizgefahr – entscheidend für die fortwährende Weitergabe des historischen Erbes und der Identität der Republik, zudem Gewährleistung für den Fortbestand der italienischen Sprache an sich.
Was ist das für ein Verfassungssystem, das solche Urteile hervorbringt?
Was soll das für eine bemitleidenswerte Identität sein, die sich von einer kleinen Minderheit wie der ladinischen und einem Ortsnamen gefährdet sieht?
Und was können wir uns von einem Staat erwarten, der gleichberechtigte Mehrsprachigkeit so fürchtet und daher vehement bekämpft?
Nachbemerkung vom 27. November 2018: Auch in Frankreich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Zweisprachigkeit nicht Zweinamigkeit ist — weshalb ein öffentliches Büro in der Bretagne den Gemeinden ausdrücklich bretonische Einnamigkeit empfiehlt. Aber was selbst im jakobinischen Frankreich möglich ist, geht in Italien offenbar ganz und gar nicht.”
„Das Urteil ist ein Warnschuss für uns“
Unter diesem Titel veröffentlichte der ehemalige SVP-Parlamentsabgeordnete, Senator und Autonomiefachmann Dr. Karl Zeller am 26. November 2018 eine Warnung in der Tageszeitung „Dolomiten“.
Karl Zeller ist nicht irgendwer. Er hatte 1989 an der Universität Innsbruck über das Thema „Die Eingriffsmöglichkeiten der römischen Zentralorgane in die autonome Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt des Landes Südtirol“ dissertiert und er hatte vier Jahre lang als Assistent am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck gewirkt. In seiner Stellungnahme in den „Dolomiten“ sagt Dr. Karl Zeller voraus, dass „die Frage nicht beantwortet wird, was zu tun ist, wenn es keinen italienischen Ortsnamen gibt“. Was werde nun im einsprachig-französischsprachigen Aosta passieren, frägt Zeller, „müssen da dann italienische Ortsnamen erfunden werden?“
Zeller sieht sogar die jetzige Landesgesetzgebung Südtirols gefährdet, mit welcher die deutschen und ladinischen Ortsnamen bestätigt wurden. Er ruft die Politik zur Wachsamkeit auf.
„Skandalös und beschämend“
Als skandalös und beschämend bezeichnet die Süd-Tiroler Freiheit (STF) das Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofes.
Der Verfassungsgerichtshof macht sich laut der Südtiroler Freiheit damit zum Vollstrecker des italienischen Nationalismus und führe Südtirol deutlich vor Augen, was man von Italien zu erwarten habe.
„Der Verfassungsgerichtshof stellt mit einer abgeschmackten Überheblichkeit die italienische Kultur über die anderen Kulturen und setzt sich nicht nur über wissenschaftliche Erkenntnisse hinweg, sondern ignoriert auch alle internationalen Empfehlungen im Umgang mit Ortsnamen in Minderheitengebieten. Das ist Sprachimperialismus in Reinform“, so der Ortsnamenexperte Cristian Kollmann.
Die Süd-Tiroler Freiheit sehe sich in ihrer Haltung bestätigt, dass nur eine Abschaffung der faschistischen Ortsnamendekrete zu einer Lösung der Ortsnamenfrage in Südtirol führen könne. Faschistische Ortsnamen seien laut der Süd-Tiroler Freiheit demnach kein Kulturgut, sondern ein „Kulturverbrechen“.
Anmerkung des SID dazu: Das ist alles richtig. Es zeigt sich jedoch, dass es in der italienischen Politik parteiübergreifend einen breiten Konsens gibt, die behauptete „Italianita“ Südtirols weiterhin festzuschreiben.
Eine solche Einigkeit in Grundsatzfragen ist auf der Seite der österreichisch-tirolerischen Politik bislang noch nicht vorhanden. Hier ist zwischen den Parteien noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, bevor man hoffen kann, Rom wirksam unter Druck setzen zu können.