Viele österreichische Politiker bekundeten stets, dass ihnen „Südtirol eine Herzensangelegenheit“ sei.
In einer offiziellen Stellungnahme der österreichischen Regierung lautete die Erklärung so: „Österreich hat aufgrund des Pariser Abkommens aus 1946 eine Schutzfunktion für Südtirol, welche die Bundesregierung seit Jahrzehnten bis heute sehr verantwortungsbewusst wahrnimmt.“ (Bericht des Bundesministers für europäische und internationale Angelegenheiten an den Nationalrat betreffend Südtirol Autonomieentwicklung 2007-2008; III-29 der Beilagen XXIV. GP – Bericht – Hauptdokument).
Auch SPÖ-Nationalratsabgeordnete sind diesem Schönsprech verfallen, wie ein Textauszug aus einer parlamentarischen Anfrage zeigt:
„Die Schutzfunktion Österreichs für Südtirol ist im europäischen Vergleich einmalig. Insgesamt stellt die Autonomie Südtirols ein international anerkanntes Vorzeigemodell dar. (…) Österreich soll ein verlässlicher Partner für Südtirol bleiben…“ (236/J vom 02.12.2019 (XXVII. GP; Anfrage der Abgeordneten Petra Vorderwinkler, Genossinnen und Genossen an den Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres betreffend der Beziehungen Österreichs zu Südtirol)
Das Land Südtirol ist jedoch nichts Abstraktes, sondern besteht aus Menschen, die diesen politischen Erklärungen vielfach vertrauten und immer noch vertrauen.
Eine dieser Menschen ist Frau Hermine Orian (geborene Mayr), die am 23.4.2022 ihren 103. Geburtstag feierte.
Sie ist die letzte noch lebende Katakombenlehrerin, die in der Zeit des Faschismus unerhörten Mut und Opferbereitschaft zeigte, um für die Rechte ihres Volkes einzutreten.
Die Redaktion des SID berichtete bereits zweimal über ihr Schicksal (21.9.2021 und 3.5.2022) und ihren innigen Wunsch: Sie wünscht sich, als österr. Staatsbürgerin zu sterben, da sie 1919 als österreichische Staatsbürgerin geboren wurde.
Im Fall der Hermine Orian empfiehlt der Nordtiroler Landeshauptmann Günter Platter der Bundesregierung, unter Verweis auf eine Verfassungsbestimmung, ihr den Wunsch der Verleihung der Staatsbürgerschaft „wegen der von ihr bereits erbrachten außerordentlichen Leistungen, die im besonderen Interesse der Republik liegen“, zu gewähren.
LH Platter schrieb dem anfragenden „Andreas Hofer Bund Tirol“ (AHBT):
„Dieser Weg wird auch von Seiten des Herrn Landeshauptmannes begrüßt.“
Seit Anfang Dezember setzen sich die Redaktion des SID und der „Andreas Hofer Bund Tirol“ bei den höchsten Stellen der Republik Österreich für dieses Anliegen ein. Sie kontaktierten schriftlich BP Dr. Van der Bellen, BK Mag. Karl Nehammer, IM Gerhard Karner und AM Dr. Alexander Schallenberg. Sie baten diese Politiker, den letzten Wunsch der Frau Orian zu erfüllen. Bisher vergebens!
Die Redaktion des SID will mit nachfolgender Dokumentation die damalige Lage von Frau Orian in ihrem Heimatort Kurtatsch (und ebenso im Rest des Landes), in der Hermine Orian ihrem Gewissen folgte und als Katakombenlehrerin tätig wurde, den Verantwortlichen im Staat nahe bringen und eine ihnen eine Entscheidungshilfe für eine humane und rasche Entscheidung bieten.
Dokumentation:
Information über den Katakombenunterricht und die Notschullehrerin Hermine Orian (geb. Mayr)
Angesichts der vollständigen Beseitigung des Gebrauches der deutschen Muttersprache in Schulen, Kindergärten und Kinderhorten durch das faschistische Regime hatte der katholische Priester Kanonikus Michael Gamper am 1. November 1923 in einem Leitartikel in der katholischen Wochenzeitung „Volksbote“ unter dem Titel „Keine deutsche Schule mehr“ auf die Notwendigkeit hingewiesen, den staatlichen Verboten und Zwängen durch Privatunterricht entgegenzutreten. Notfalls müsse man so wie die frühen Christen, Zuflucht in „Katakomben“ suchen.
Am 2. Oktober 1924 schrieb Kanonikus Michael Gamper in der Zeitung „Volksbote“:
„Liebe Landsleute! Nun beginnt das Schuljahr. Aber wenn es nur mit dem italienischen Unterrichte beginnt, dann ist das für euch so viel wie keines. Dann müsst ihr selber für den Unterricht eurer Kinder in der Muttersprache sorgen. Jedes Haus, jede Hütte, muss zum Schulhaus, jede Stube zur Schulstube werden, in der die Kinder den Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten. Und die Lehrer seid ihr.“
In der Folge wurde unter der Leitung Gampers dieser Privatunterricht in ganz Südtirol organisiert und es wurden deutsche Lehrpersonen, welche ihre Stellungen verloren hatten, sowie zahlreiche Mädchen für den Unterricht in den Familien gewonnen.
In ganz Südtirol setzte dann der geheime Katakombenunterricht ein. Vielfach wurde er in Bauernhäusern, in Kellern, im Walde, aber auch in den Pfarrhäusern abgehalten und in den meisten Gemeinden waren die Pfarrer zumindest in das Geschehen eingeweiht und unterstützten es.
Zur Finanzierung dieser Tätigkeiten trug auch der im gesamten deutschen Raum durchgeführte Verkauf einer Postkarte bei, auf welcher eine von dem berühmten Bozner Maler Albert Stolz dargestellte Mutter zu sehen war, die ihr Kind lehrte. Auf der Karte war der Vers zu lesen:
„Muttersprache, Mutterlaut,
Wie so wonnesam, so traut“
Wenn der faschistische Staat Katakombenschulen aufdecken und die Geheimlehrer verhaften konnte, wurden diese auf kahle Felseninseln im Mittelmeer in die Verbannung geschickt oder in düsteren Gefängnissen eingekerkert.
Darüber berichtete Kanonikus Michael Gamper im Jahr 1927 in einer von ihm unter dem Decknamen „Athanasius“ verfassten Schrift:
„Gegen die Lehrpersonen, meistens waren es Mädchen zwischen 16 und 20 Jahren, wurde mit gerichtlichen Anzeigen, Abschubbefehlen, Ausweisungsandrohungen, Geldstrafen, Verhaftungen, Gefängnisstrafen vorgegangen. Die Verwendung der Miliz führte selbst zu Tätlichkeiten gegen weibliche Lehrpersonen und zu deren Verhaftung.“ (Athanasius: „Die Seelennot eines bedrängten Volkes – Von der nationalen zur religiösen Unterdrückung in Südtirol“, Innsbruck 1927)
In Kurtatsch leitete die Geheimschullehrerin Marianne Orian mehrere geheime Gruppen, in einer derselben unterrichtete die junge Hermine Mayr die Ortskinder in deutscher Sprache. (Näheres siehe in: Maria Villgrater, Katakombenschule, Bozen, 1984, S. 172 u. S. 402)
Hermine Mayr sollte später den Bruder von Marianne Orian heiraten und damit den Namen Hermine Orian annehmen.
Die geheime Tätigkeit von Hermine Mayr/Orian in Kurtatsch war sehr gefährlich. Eine Kollegin von ihr, Angela Nikoletti, gab im Hause ihrer Tante in Kurtatsch Kindern des Dorfes Deutschunterricht. Das blieb nicht verborgen.
Am 11. Mai 1927 stellte sie der faschistische Amtsbürgermeister (Podesta) mit scharfen Worten zur Rede. Ihr Verhalten sei eine Auflehnung gegen den Staat.
Am Abend des 14. Mai 1927 wurde sie von Carabinieri festgenommen und trotz eines ärztlichen Zeugnisses über eine schwere Rippenfellentzündung in den feuchtkalten Kerker von Tramin und dann in den Kerker von Neumarkt gebracht.
Über die brutale Art ihrer Festnahme berichtete damals der in Innsbruck erscheinende „Tiroler Anzeiger“ aufgrund einer Mitteilung aus Südtirol:
Angela Nikoletti wurde am 19. Mai 1927 zu dreißig Tagen Arrest, zu 5 Jahren Polizeiaufsicht und zur Ausweisung aus ihrem Heimatort Kurtatsch verurteilt.
Ihre Krankheit, die sich in der Haft noch verschlechtert hatte, führte letztendlich am 30. Oktober 1930 zu ihrem Tode. Sie starb im Alter von 25 Jahren. (Näheres siehe in: Maria Villgrater, Katakombenschule, Bozen, 1984, S. 228ff)
Von der Verfolgung wurden auch Geistliche nicht ausgenommen. Am 27. März 1935 berichtete der Kooperator Jakob Kofler aus Kurtatsch an das Fürstbischöfliche Ordinariat in Trient, dass er vor die „Spezialkommission der Präfektur Trento“ vorgeladen sei:
„Die Anklage lautet auf Einlernung religiöser und profaner Lieder in der Pfarrschule in deutscher Sprache, darunter Tiroler Lieder die geeignet seien die Bevölkerung gegen die Regierung aufzureizen und einen Kontrast zu bilden gegen die in der Schule gelernten nazionalen Lieder.“
Bei der Einvernahme vor der Kommission wurde dem Kooperator vor allem vorgehalten, dass die Kinder bei ihm das „Andras-Hofer-Lied“ gelernt hätten, welches „antinational“ sei und dass er sechs Liederbüchlein an die Kinder verteilt habe, in welchen Tiroler-Lieder enthalten seien. (Schreiben des Kooperators Jakob Kofler aus Kurtatsch an das Fürstbischöfliche Ordinariat in Trient vom 1. April 1935. Diözesanarchiv Brixen, Fasz. TN 248)
In einem Aktenvermerk hielt das Fürstbischöfliche Ordinariat dann fest: „Tatsächlich wurde er später wieder vorgeladen und bekam 2 Jahre Polizeiaufsicht „ammonizione“.“ Das war die Vorstufe zur Verbannung, die im Wiederholungsfalle verhängt worden wäre.
So waren die damaligen Verhältnisse in Kurtatsch und in ganz Südtirol, als die junge Hermine Mayr/Orian Verhaftung, Kerker, Verbannung und allenfalls den Tod riskierte, um das auch von der Geistlichkeit eingeforderte Naturrecht der Kinder auf Unterricht in ihrer Muttersprache zu wahren.
Es sollte den Verantwortlichen in der Republik Österreich eigentlich ein Herzensanliegen und eine Ehre sein, Hermine Orian die von ihr so sehr gewünschte Staatsbürgerschaft verleihen zu dürfen!