Mit einer landesweiten Plakataktion erinnerten der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB), eine von ehemaligen Freiheitskämpfern und politischen Häftlingen gegründete Vereinigung, und der „Südtiroler Schützenbund“ Anfang Dezember an die Freiheitskämpfer der 1960er Jahre und deren selbstlosen Einsatz für die Heimat.
Die Plakate zeigen das Antlitz von Sepp Kerschbaumer, des Gründers des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS), welcher zusammen mit seinen Mitverschworenen in der legendären „Feuernacht“ des Jahres 1961 zahlreiche Hochspannungsmasten in die Luft jagte, um mit diesem Donnerschlag die Welt auf die Unterdrückung Südtirols aufmerksam zu machen.
In Welschtirol, heute „Trentino“ genannt, wurden in italienischer Sprache gehaltene Plakate mit Unterstützung der Welschtiroler Schützenkompanien angebracht.
Während aus der Welschtiroler Bevölkerung durchaus zustimmende Reaktionen zu vermerken waren, stiegen die Extremnationalisten Italiens auf die Barrikaden. Allen voran forderten der Parlamentsabgeordnete Francesco Lollobrigida und der Regionalrats- und Landtagsabgeordnete Alessandro Urzi von der Partei „L’Alto Adige nel cuore – Fratelli d’Italia“ (auf Deutsch: „Das Alto Adige im Herzen – Brüder Italiens“), dass Heimatbund und Schützenbund in Zukunft keinerlei Förderungsmittel seitens der Gemeinden und des Landes mehr erhalten dürften, weil sie die „cultura terrorista“ verherrlichten.
Dies veranlasste Roland Lang, den Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ zu nachstehender Presseerklärung:
Gedenken an Sepp Kerschbaumer
Am 7. Dezember 1964 starb im Gefängnis von Verona ein unvergessener Landsmann eines viel zu frühen Todes, der für die Freiheit seines Landes ein wahres Martyrium auf sich genommen hatte.
Der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) und der „Südtiroler Schützenbund“ erinnerten jetzt öffentlich mit Plakaten an das Opfer des verstorbenen Freiheitskämpfers, damit sein Andenken nicht der Vergessenheit anheimfalle.
Das rief Schmähungen von italienischer extremnationalistischer Seite hervor. Um diese nicht unwidersprochen zu lassen, sei nachstehend über das Leben und Sterben Sepp Kerschbaumers berichtet:
Sepp Kerschbaumer wurde am 9. November 1913 in Frangart bei Bozen geboren. Am 10. September 1934 wurde der 22 Jahre alte Kaufmannsohn, wie damalige Zeitungsberichte belegen, mit weiteren 9 Burschen und zwei Mädchen von Geheimagenten und Carabinieri verhaftet und in Ketten in das Bozner Gefängnis eingeliefert. Die Jugendlichen wurden beschuldigt, am Tag vorher, am Sonntag, den 9. September, beim Wiesenfest der Musikkapelle St. Pauls verbotene deutsche Lieder gesungen zu haben. Mitte Oktober 1934 wurden die Burschen und Mädchen ohne Verteidigung von der faschistischen Verbannungskommission einvernommen und verurteilt. Die beiden Mädchen wurden für fünf Jahre unter Polizeiaufsicht gestellt. Die zehn Burschen wurden zu mehreren Jahren Verbannung nach Süditalien verurteilt. Sepp Kerschbaumer war zu zwei Jahren Verbannung nach Lagonegro in Süditalien verurteilt worden.
Nach einem Jahr, im November 1935, wurden die jungen Südtiroler nach dem Besuch von Benito Mussolini in Bozen amnestiert.
Die Zeit des Faschismus und die Fortführung der faschistischen Entnationalisierungspolitik nach 1945 in Südtirol prägten Kerschbaumer zutiefst.
Ab 1957 protestierte Kerschbaumer mit Flugzetteln gegen die römische Politik der Unterdrückung und geförderten Massenzuwanderung aus dem Süden, er hisste die verbotene Tiroler Fahne auf dem Kirchturm in Frangart und letztendlich gründete er zusammen mit verzweifelten Landsleuten, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, den „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS). Es kam zu den Verzweiflungsanschlägen der Herz-Jesu-Nacht des Jahres 1961, die letztlich auf lange Sicht eine gewaltige Wende in der Politik einleiten sollten, zunächst aber zu Massenverhaftungen und schweren Folterungen führten.
Verhaftung und Folterung Sepp Kerschbaumers
Am 15. Juli 1961 wurde der Gründer und Kopf des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), der Frangarter Gemischtwarenhändler und Kleinbauer Sepp Kerschbaumer, verhaftet, in die Carabinieri-Kaserne von Eppan gebracht und schwerstens misshandelt.
Der ebenfalls verhaftete Josef Fontana aus Neumarkt im Unterland wurde Sepp Kerschbaumer am 17. Juli 1961 um 17 Uhr abends gegenübergestellt. Der Eindruck, den Kerschbaumer auf ihn machte, konnte er kaum in Worte fassen. Was er sah, war „ein Mensch in seiner tiefsten Erniedrigung.“ (Josef Fontana / Hans Mayr: „Sepp Kerschbaumer“, Bozen 2000, S. 146)
Sepp Kerschbaumer hat das, was mit ihm geschehen war, am 4. September 1961 in einem Schreiben geschildert, welches keinen Adressaten trug und aus dem Gefängnis hinaus geschmuggelt und der Südtiroler Volkspartei übergeben wurde.
Der Brief liegt heute im Südtiroler Landesarchiv in Bozen unter den Archivalien der Südtiroler Volkspartei.
Der Brief lautet:
„Gefängnis Bozen, 4. September 1961
Schildere hier die Mißhandlungen, die ich beim Verhör durch die Karabinieri von Eppan und dort selbst erleiden mußte. Sofort nach der Verhaftung am 15. Juli 1961 als ich in der Frühe um 6-7 Uhr in die Kaserne eingeliefert wurde, wurden an mich verschiedene Fragen gestellt die ich verneinte.
Daraufhin wurde ich in ein anderes Lokal geführt, wo ich sofort mit Hände hoch stehen mußte, in dieser Position mußte ich von 7 Uhr früh bis 2 Uhr Nachmittag, um welche Zeit ich dann bis 6 Uhr abends in die Zelle gesperrt wurde. Dann ging es wieder von 6 Uhr abends bis 3 Uhr in der Früh gleich wie zuvor.
So mußte ich im ganzen 16 Stunden mit erhobenen Händen stehen. Als ich die Arme nicht mehr ganz in die Höhe halten konnte, riß man sie mir wieder empor, zu alldem wurde ich in dieser Zeit immer wieder im Gesicht in der Brust und am Rücken mit der flachen Hand oder den Fäusten geschlagen, zudem wurde ich immer wieder auf das gemeinste verspottet, nicht nur ich, sondern besonders auch unser ganzes Volk samt Führung, in der letzten Zeit der Mißhandlung war ich so mit meinen Kräften darnieder, daß ich mich nur mehr mit der größten Mühe aufrecht erhalten konnte.
Ich schwitzte und zitterte am ganzen Leibe und war so erschöpft, daß ich nur mehr einen Wunsch hatte, nämlich zu sterben. Als ich den Karabinieri sagte, sie sollen mich frisch umbringen, wurden sie erst recht prutal.
Beim späteren Verhör wurde mir immer wieder mit der Streckbank gedroht.
Dies entspricht alles der reinen Wahrheit und ich kann es gar nicht so schrecklich schildern, wie es in Wirklichkeit sich alles zugetragen hat.
Sepp Kerschbaumer, geb. am 9. 11. 1913 in Frangart“ (Wörtliche Wiedergabe des Originalbriefes. SVP-Archivalien, Landesarchiv Bozen)
Das Ende des Briefes
Wie es den Verhafteten und ihren Familien erging, schildert in sehr berührender Weise die Autorin Astrid Kofler in einer Dokumentation:
„In zwei, drei Tagen und Nächten sind die Männer andere geworden. Bei ihrem Anblick war jeder Vorwurf, der den Frauen auf den Lippen stand, wie weggewischt. Die Frauen hatten auch zu ertragen, dass ihre Männer gefoltert worden waren. Wenn sie den Brief liest, in dem ihr Mann die Folter beschreibt, sagt eine Häftlingsfrau, kommt ihr jetzt noch das Entsetzen, nach über 40 Jahren, nach hundertmal Lesen. Sepp Kerschbaumer, so erzählt seine älteste Tochter, die ihn als erste sehen durfte, ‚hat nur geweint‘“. (Astrid Kofler: „Zersprengtes Leben“, Edition Raetia 2003, S. 45f)
Mit ihm sein Land Tirol
Kerschbaumer weinte freilich nicht über sein eigenes Schicksal, er weinte über das Leid seiner Familie und das der anderen Häftlingsfamilien.
Im Ersten Mailänder Südtirolprozeß im Jahre 1964 wuchs Sepp Kerschbaumer als Hauptangeklagter über sich hinaus.
Er verwandelte das Gerichtsverfahren in ein Tribunal über die römische Politik in Südtirol und er beeindruckte damit nicht nur die deutschen und österreichischen Medien, sondern auch die Weltpresse.
Auch im Ausland begann man nun die Südtiroler Frage und den Freiheitskampf mit anderen Augen zu sehen.
Seinen inhaftierten Kameraden gab das Beispiel dieses Mannes die Würde wieder, die man ihnen in den Folterkammern zu rauben versucht hatte.
Alle Mitangeklagten, ausnahmslos, traten als stolze und freie Männer vor die Schranken des Gerichtes und verteidigten das Recht ihres Volkes.
Josef Fontana sagte später über Kerschbaumer:
„Er hat uns vor allem eines beigebracht, was wir schon fast verlernt hatten: den aufrechten Gang.“ (Elisabeth Baumgartner – Hans Mayr – Gerhard Mumelter: „Feuernacht“, Bozen 1992, S. 137)
Sepp Kerschbaumer wurde in Mailand am 16. Juli 1964 zu 15 Jahren und 11 Monaten Haft verurteilt und nach dem Prozess in das Gefängnis von Verona verlegt. Dort starb er am 7. Dezember 1964 im Alter von 51 Jahren – viel zu früh – der Herztod, für den wohl auch die erlittene Folter mit ursächlich gewesen war.
Sein Rechtsanwalt, Dr. Hermann Nicolussi-Leck aus Kaltern, fuhr nach Verona, um aus dem Gefängnis die wenigen privaten Habseligkeiten Kerschbaumers für dessen Familie abzuholen. Nicolussi-Leck berichtet darüber:
„Und wie ich diese paar Dinge einpacke, da ist der Gefängnisdirektor hergekommen und hat mich gefragt, ob er nicht einen der Rosenkränze haben dürfe, die der Kerschbaumer selbst gemacht hat. Sie waren aus Spagat hergestellt. Metall durfte ja nicht verwendet werden. Ich hab ihm einen gegeben und er hat ihn tiefbewegt zu sich genommen.“ (Elisabeth Baumgartner – Hans Mayr – Gerhard Mumelter: „Feuernacht“, Bozen 1992, S. 137)
So wie Kerschbaumers Auftreten vor Gericht geriet auch sein Begräbnis zur Anklage gegen den italienischen Staat. Sein Sarg wurde von ehemaligen Häftlingen getragen. Einer der vielen mitgetragenen Kränze trug die Aufschrift: „Mit ihm sein Land Tirol“. Mehr als 20.000 Menschen säumten in stiller Trauer und wohl auch in stillem Zorn Kerschbaumers letzten Weg von Frangart bis zu dem Friedhof in St. Pauls und schlossen sich dem Trauerzug an. Die „Dolomiten“ schrieben:
„So weit das Auge reichte, sah man nur eine wogende Menschenmenge, die die ganze Straßenbreite einnahm.“
Zu Kerschbaumers Begräbnis war neben dem Bürgermeister und dem Gemeinderat auch die hohe Politik gekommen: Landeshauptmann Magnago, Senator Sand, die Kammerabgeordneten Mitterdorfer, Dietl und Vaja sowie nahezu alle Landtagsabgeordneten. Es war wie eine dritte Volkskundgebung von Sigmundskron. In dem Friedhof hatte nur ein kleiner Teil der Trauergemeinde Platz. Zu Tausenden verharrten die Menschen in stillem Gebet vor den Friedhofsmauern. Als das das Lied vom Guten Kameraden und dann das Andreas Hofer – Lied erklangen, standen tausenden Menschen die Tränen in den Augen.
Der „Südtiroler Heimatbund“ will auf gehässige Polemiken italienischer Extremnationalisten nicht näher eingehen. Er erinnert aber die eigenen Landsleute daran, dass Sepp Kerschbaumer uns als geistiges Vermächtnis hinterlassen hat, stets für die Heimat und ihre Anliegen einzutreten. Dass dies nun im Rahmen und mit den Mitteln der Demokratie möglich ist, haben wir dem Opfer Kerschbaumers und seiner Mitstreiter zu verdanken.
Ehre ihrem Andenken!
Roland Lang
Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB)
Gedenkfeier in St. Pauls
Angesichts der behördlichen Auflagen für Versammlungen konnten der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) und der „Südtiroler Schützenbund“ am 8. Dezember 2020 eine im Vergleich zu den vergangenen Jahren auf dem Friedhof in St. Pauls nur kleine für 70 Personen zugelassene Gedenkfeier zur Erinnerung an Sepp Kerschbaumer und seine Kameraden abhalten. Sie verlief jedoch äußerst würdig und rührte an die Herzen.
Die einführenden Worte sprach Roland Lang, der Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB):
„Wir verneigen uns vor Sepp Kerschbaumer. Er bleibt jenen, die ihn kannten, als aufrechter Tiroler in Erinnerung, der nicht mit ansehen konnte, wie die Italianisierung voranschritt und die Staatsgewalt nur ein Ziel kannte: die Südtiroler in ihrer angestammten Heimat in die Minderheit zu drängen und ihren Freiheitswillen zu unterdrücken.“
Nach einem einfühlsamen Wortgottesdienst von Pater Benedikt Sperl folgte die Gedenkrede des Landeskommandant-Stellvertreters des Südtiroler Schützenbundes Major Renato des Dorides. Er hatte in den 60er Jahren die Familien der gefangenen Freiheitskämpfer tatkräftig mit finanziellen Mitteln unterstützt.
Des Dorides forderte, dass der italienische Staat endlich einen versöhnlichen Schlussstrich unter das damalige tragische Geschehen ziehen möge:
„Wir gedenken heute auch der aktiven Freiheitskämpfer der 60er Jahre, die noch im Exil fern der Heimat leben und immer noch vom italienischen Staat verfolgt werden. Ihre Sehnsucht, die Heimat wieder zu sehen, für die sie gekämpft und ihr Leben riskiert haben, ihre Freunde und Nachbarn zu besuchen, an den Gräbern der Eltern und Familienangehörigen zu verweilen – diese große Sehnsucht berührt uns alle tief im Herzen.
Es ist Zeit, dass dieser sogenannte „demokratische Italienische Staat“ – in dem immer wieder Verbrecher, politische Attentäter und Mörder großmütig begnadigt werden, die noch wenigen im Exil lebenden Südtiroler Freiheitskämpfer nach über 50 Jahren Entbehrungen ohne weitere Verfolgung zurück in die Heimat lässt. Es wäre ein menschlicher Akt der Versöhnung von einem Staat, der sich vor aller Welt rühmt, vorbildlich für Freiheit, Demokratie, Völkerrecht und Menschlichkeit zu stehen“.
Dann spielte ein Musikant aus Eppan das Lied vom „Guten Kameraden“.
Am Gedenkstein für Sepp Kerschbaumer und seine Mitstreiter auf dem Friedhof in St. Pauls wurden dann Kränze niedergelegt. Gedacht wurde hierbei der Männer wie Franz Höfler, Anton Gostner, Luis Amplatz, Jörg Klotz, Kurt Welser und all jener Kameraden, die eine Strecke des Weges mit ihnen gegangen waren.
Die Schützenkompanie „Sepp Kerschbaumer“ aus Eppan feuerte die Ehrensalve ab.
Abschließend richtete Landeskommandant des „Südtiroler Schützenbundes“, Jürgen Wirth Anderlan einen mahnenden Appell an die Landespolitiker:
„Wir Südtiroler durften in diesem Jahr für ungefähr 70 Tage unser Heim nicht verlassen. Dann gibt es da noch drei Männer, die seit 19.000 Tagen ihr Heim nicht mehr betreten dürfen. Geschätzte Landesvertreter! Zeigt uns, dass ihr kein Rückgrat aus Gummi habt und holt Heinrich Oberleiter, Josef Forer und Siegfried Steger endlich heim. Viel Zeit habt ihr nicht mehr!“
Abgeschlossen wurde die sehr würdige Gedenkfeier mit der Tiroler Landeshymne und der österreichischen Bundeshymne.
Wir werden sehen, um mit Landeskommandant Wirth Anderlan zu sprechen, über welches Rückgrat die Landespolitiker verfügen und welche dieser Volksvertreter sich für die in der Verbannung lebenden Landsleute einsetzen werden.
(Bilder: SHB und Südtiroler Schützenbund)