Vor 100 Jahren wurde Südtirol von Österreich abgetrennt
Als der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen war, hatte die italienische Besatzungsmacht begonnen, überall die Tricolore zu hissen und die althergebrachten Tiroler Fahnen zu verbieten und zu beschlagnahmen.
Die deutschen Ortstafeln wurden abmontiert und durch italienische Ortnamensschilder ersetzt. Sogar auf Postkarten musste der verordnete Aufdruck „Alto Adige“ gestempelt werden.
Der Austausch der Ortsschilder
Proteste aus der Bevölkerung
Es zeichnete sich ab, dass Südtirol als Kriegsbeute bei Italien verbleiben würde. Nun regte sich erster Protest, der sich angesichts der italienischen Repressionsmaßnahmen einschließlich zahlreicher Verhaftungen freilich nur versteckt und nicht in großen Volkskundgebungen äußern konnte.
Vier Meraner Bergsteiger beschlossen, auf der Santnerspitze, der steilen Felsnadel am Schlern, eine weiß-rote Fahne aufzuhängen.
In das Santner-Gipfelbuch schrieben sie hinein: „Treu deutsch immerdar“.
Dann nahmen die Bergsteiger noch ein Erinnerungsbild auf und stiegen bei Nacht wieder ab. Am nächsten Tag war die Tiroler Fahne auf dem Santner zur Freude der Landsleute und zum Ärger der Italiener weithin im Seiser Mittelgebirge und auch drüben am Ritten sichtbar.
Petition aller Südtiroler Gemeinden mit der Forderung nach Selbstbestimmung – Großkundgebung in Innsbruck
Im Februar 1919 richteten sämtliche Gemeinden Deutsch-Südtirols sowie die zwölf ladinischen Gemeinden von Gröden, Enneberg, Buchenstein und Fassa eine Petition an den US-Präsidenten W. Wilson mit der flehentlichen Bitte, „unserem Volkstum, unserem Lande der gerechte Richter“ zu sein.
In einem Memorandum teilte die Tiroler Landesregierung am 26. Februar 1919 W. Wilson mit: „…hat… die Tiroler Landesversammlung in ihrer Sitzung vom 21. Februar 1919 den einstimmigen, feierlichen Beschluss gefasst: ,Die Frage der ungeteilten Erhaltung der gesamten deutschen und ladinischen Gebiete Tirols erfüllt das ganze Volk mit schwerer Besorgnis. Wir Tiroler erklären, daß wir unter keiner Bedingung in eine Abtretung Südtirols willigen und lieber alle, auch die schwersten Opfer bringen, bevor wir auf die Zugehörigkeit mit unseren Brüdern im deutschen Südtirol verzichten.“
Alle Protestmaßnahmen wie eine Großkundgebung auf dem Bergisel in Innsbruck am 13. Juni 1919 und alle Bitten waren jedoch vergeblich.
Auch als dankenswerter Weise der italienische Sozialistenchef Filippo Turati am 16. Juli 1919 eine von allen 173 deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler Gemeinden unterzeichnete Petition gegen die Annexion und mit der Forderung nach Selbstbestimmung im italienischen Parlament einbrachte, änderte dies nichts.
Die Ententemächte blieben dabei, dass Österreich den aufgezwungenen Diktatfrieden am 10. September 1919 unterzeichnen musste, mit welchem Südtirol an das Königreich Italien fiel.
Abschied vom Vaterland
Am 6. September 1919 nahm der aus Lusern stammende und nun vom Land Tirol nach Wien entsandte Nationalrat Dr. Eduard Reut-Nicolussi im österreichischen Parlament Abschied von dem Vaterland. Der mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnete Kaiserjäger sagte unter anderem: „Der Tiroler Landesrat hat nun seinen Standpunkt zu diesem Friedensvertrage vor einigen Tagen in folgenden Worten niedergelegt:
‚Entscheidend erscheint der Vertretung des Landes Tirol, dass kein Rechtsfriede, sondern ein Gewaltfriede vorliegt … Tirol erkennt daher den Zustand, der durch den Frieden geschaffen werden soll, nicht als Rechtszustand an und wendet sich schon jetzt an den Völkerbund, damit er dem, betreffs Südtirol mit Füßen getretenen Selbstbestimmungsrechte Anerkennung verschaffe und … das schwere Unrecht beseitige, das dem Land Tirol widerfahren ist.“
Gegen Ende seiner Rede eröffnete Reut-Nicolussi einen düsteren Ausblick: „Es wird jetzt in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof, um jedes Stadthaus, um jeden Weingarten. Es wird ein Kampf sein mit allen Waffen des Geistes und mit allen Mitteln der Politik. Es wird ein Verzweiflungskampf deshalb, weil wir – eine Viertelmillion Deutscher – gegen vierzig Millionen Italiener stehen, wahrlich ein ungleicher Kampf.“
Bei Stimmenthaltung der Tiroler Abgeordneten musste sodann der Nationalrat notgedrungen die Unterfertigung des Friedensvertrages beschließen. Der Staatskanzler Dr. Renner fuhr nach St. Germain – das Beil der politischen Guillotine war gefallen.
Protest des Tiroler Landtages gegen den Raubfrieden
Am 23. September 1919 fasste der Tiroler Landtag nach dem bereits von Dr. Reut-Nicolussi zitierten Beschluss des Tiroler Landesrates, welcher aus den Abgeordneten des Tiroler Landtages und den Mitgliedern der Landesregierung bestand, in einer Protestsitzung einen weiteren einstimmigen Beschluss, in welchem er feststellte, dass er in dem „sogenannten Friedensvertrage“ eine „unerhörte Vergewaltigung des Landes Tirol“ erblicke.
In dem Beschluss hieß es weiter:
„Vor Gott und der Welt bekundet der verfassungsgebende Landtag von Tirol, dass er nicht ruhen und rasten wird, bis diese Schändung der Freiheit des Landes wieder gut gemacht ist und sich Norden und Süden des Landes in gemeinsamer Staatlichkeit zu friedlicher Kulturarbeit vereinigt haben werden.“
Hundert Jahre später eine mahnende Erinnerung an Österreichs Pflichten durch einen Nationalratsbeschluss
Einhundert Jahre später, als heimatbewusste Südtiroler der Tragödie gedachten, indem sie Fahnen mit Trauerflor hissten, kam es auf Initiative des freiheitlichen Südtirol-Sprechers und Nationalratsabgeordneten Werner Neubauer am 19. September 2019 zu einem denkwürdigen Beschluss des Österreichischen Nationalrats für die Ermöglichung einer doppelten Staatsbürgerschaft für Südtiroler.
Zähe Verhandlungen mit der ÖVP
Vorangegangen waren lange und zähe Verhandlungen mit der ÖVP, welche sich anfangs heftig dagegen gesträubt hatte. Es gab Bestrebungen gewisser „Granden“ in der Volkspartei, die um Gottes Willen das gute Klima mit Rom nicht gestört haben wollten
Dort lehnten nämlich alle namhaften Politiker dieses Vorhaben ab, obwohl Italien zehntausenden von Auslandsitalienern die italienische Staatsbürgerschaft zusätzlich zuerkannt hat, ohne die anderen Staaten deshalb um Erlaubnis gefragt zu haben. In Bezug auf die Südtiroler freilich hatten die politischen Spitzen im Rom gemeint, dass eine Doppelstaatsbürgerschaft gegen den Willen der italienischen Regierung nicht gewährt werden dürfe.
Widerstand aus der Südtiroler Volkspartei (SVP) und der Nordtiroler ÖVP
Dieser Haltung gegenüber waren der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) und sein Nordtiroler Kollege Günther Platter (ÖVP) eingeknickt.
Am 9. Mai 2019 hatte das Büro des Nordtiroler Landeshauptmannes Günther Platter dem Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB), Roland Lang, unter korrekter Verwendung des Binnen-I für „SüdtirolerInnen“ per Email mitgeteilt: „…dürfen wir Ihnen mitteilen, dass dieses Thema aktuell von Herrn Landeshauptmann nicht forciert wird, denn eine Einführung darf nur im Einvernehmen zwischen allen Beteiligten passieren. Dieses Einvernehmen gibt es momentan nicht, wie Aussagen von Minister Salvini und Landeshauptmann Kompatscher zeigen. Deshalb birgt der Doppelpass für SüdtirolerInnen mit deutscher und ladinischer Muttersprache momentan mehr Gefahren als Potenzial in sich.“
Und am 13. Mai 2019 hatte die Austria Presse Agentur (APA) vermeldet, dass der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher das Thema offenbar gerne in eine unendliche Zukunft verschoben hätte: „Doppelpass – Kompatscher sieht EU-Staatsbürgerschaft als Lösung“ (APA0283 5 AI 0337 II)
Der FPÖ-Südtirol-Sprecher setzte sich durch
Letztendlich war es dem freiheitlichen Mandatar Werner Neubauer unter Hinweis auf das seinerzeitige Türkis-blaue Regierungsabkommen dann doch gelungen, die ÖVP zu einer eher zähneknirschenden Zustimmung zu gewinnen. In dem seinerzeitigen Regierungsübereinkommen hatte es nämlich geheißen:
„Doppelstaatsbürgerschaft Südtirol und Alt-Österreicher: Im Geiste der europäischen Integration und zur Förderung einer immer engeren Union der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten wird in Aussicht genommen, den Angehörigen der Volksgruppen deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, für die Österreich auf der Grundlage des Pariser Vertrages und der nachfolgenden späteren Praxis die Schutzfunktion ausübt, die Möglichkeit einzuräumen, zusätzlich zur italienischen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben.“
Sich jetzt davon zu distanzieren, fiel offenbar doch ein wenig schwer. Am 19. September 2019 konnte der FPÖ-Abgeordnete Werner Neubauer daher im Österreichischen Nationalrat an das Rednerpult treten und auch im Namen des ÖVP-Südtirol-Sprechers Hermann Gahr folgenden Entschließungsantrag einbringen:
Der Nationalrat wolle beschließen:
„Der Bundesminister für Inneres und der Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres werden aufgefordert, zeitnah mit ihrer italienischen Kollegin und ihrem italienischen Kollegen sowie den Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung in Südtirol in bilaterale Gespräche zu treten, um das Thema ,Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler‘ zu erörtern. Nach diesen Gesprächen wird der Bundesminister für Inneres aufgefordert, dem Nationalrat einen Gesetzesvorschlag für eine Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler vorzulegen.“
Der Antrag wurde mit den Stimmen der FPÖ und ÖVP angenommen, von den anderen Parteien kam keine Zustimmung.
Ablehnung aus Rom
Meldung der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ vom 24. Jänner 2019:
„Der Staatssekretär im Außenministerium, Guglielmo Picchi (Lega), unterstrich am Montag die ablehnende Haltung des Kabinetts Conte. Man habe keine Absicht, mit Wien über die österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler zu sprechen, wird der Staatssekretär zitiert.“
„Danke Österreich!“
Grundsätzlich ist die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler eine souveräne Angelegenheit des österreichischen Staates. Auch Italien hat zehntausenden Auslandsitalienern eine doppelte Staatsbürgerschaft zuerkannt, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu bitten. Es geht daher in Österreich darum, über wie viel Rückgrat die Politiker verfügen, um trotz Unmutsäußerungen aus Rom das Richtige zu tun.
Der Entschließungsantrag hat keine rechtliche Bindewirksamkeit für die jetzige und für künftige österreichische Bundesregierungen, tatsächlich einen entsprechenden Gesetzesantrag einzubringen. Es handelt sich um eine Aufforderung.
Daher können die altbekannten Kräfte in der ÖVP, denen das herzliche Einvernehmen mit Rom an wichtigster Stelle steht, eine rasche Umsetzung unter vielerlei Bedenken und Vorwänden verhindern. Mit der Begründung, es müsse auf jeden Fall die – nicht erreichbare – Zustimmung Roms erreicht werden, kann das Thema natürlich auf den Sanktnimmerleinstag verschoben werden.
Immerhin gibt die Annahme des Antrages aber allen Engagierten in Südtirol und in Österreich die Möglichkeit, nicht locker zu lassen und das Thema in der österreichischen Innenpolitik immer wieder zur Sprache zu bringen.
Freude der SVP-Altmandatare
Der ehemalige SVP-Landessekretär, Landtags- und Regionalratsabgeordnete und Landesrat für deutsche und ladinische Kultur, Dr. Bruno Hosp ist Vorsitzender im SVP-Club der Altmandatare. Diese vertreten in der SVP eine volkstumspolitische Linie und erheben ihre Stimme, wann immer es ihnen im öffentlichen Interesse als notwendig erscheint.
Eine Presseaussendung aus Südtirol vom 20. September 2019:
„SVP-Altmandatare erfreut über Zustimmung für Doppelpass in Wien – Die geplante Wiederverleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler sei ein „bedeutendes europäisches Zeichen des österreichischen Vaterlandes. Die Resolution des Nationalrates sei „richtungsweisend und eine klare politische Willensbekundung.“ Dies stellt der Vorsitzende des SVP-Clubs der ehemaligen Mandatare, Dr. Bruno Hosp fest. Der Nationalrat habe damit zum ersten Mal für Österreich das Prinzip der Doppelstaatsbürgerschaft vorgegeben.“
Südtiroler Heimatbund (SHB): Freude und Vorsicht
Roland Lang, der Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB), einer von ehemaligen Freiheitskämpfern und politischen Häftlingen gegründeten Vereinigung für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes, hat in einer Presseaussendung erklärt:
„Auch wenn sich im österreichischen Parlament eine große Mehrheit für die Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft für die Südtiroler ausgesprochen hat, muss man das Ganze politisch vorsichtig sehen. Ein Grund zur überschwänglichen Freude besteht leider noch nicht, aber es war ein wichtiger Schritt, so SHB-Obmann Roland Lang. … Das gekonnte Intrigenspiel italienischer Politik hat bisher ja verhindert, dass Österreich in Sachen Doppelstaatsbürgerschaft jene Freiheit hat, die Italien seit Jahrzehnten ohne jedes Bedenken anwendet.“
Es könne, sagt Lang, der Beschluss letztendlich auch „in den Schubläden der Politik fern der Tagesaktualität verschwinden … Daher muss man warten, wie sich die Lage entwickelt. … So kann der weitere Weg zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft für Südtiroler leider lang und beschwerlich werden. Trotzdem ein aufrichtiger Dank an unser Vaterland Österreich.“
Freudige Zustimmung der deutschen Oppositionsparteien im Südtiroler Landtag
Der Südtiroler Landtagsabgeordnete Sven Knoll von der „Süd-Tiroler Freiheit“ erklärte in einer Pressemitteilung: „Für Südtirol eröffnet sich mit dem Beschluss des österreichischen Parlaments eine historisch einmalige Chance, die es zu nutzen gilt. Die Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft brächte für Südtirol eine unverrückbare Absicherung der Autonomie, die Spaltung der Tiroler Gesellschaft nördlich und südlich des Brenners könnte überwunden werden und völlig neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit würden sich ergeben.“
Der Parteiobmann der Südtiroler Freiheitlichen, Andreas Leiter Reber, zeigte sich ebenfalls erfreut über den Nationalratsbeschluss und sprach in einer Pressemitteilung von einem „bedeutenden Schritt zur Verwirklichung eines parteiübergreifenden Südtirolanliegens … Wenngleich der Entschließungsantrag nicht bindend ist, besitzt er doch großes politisches Gewicht.“
SVP – ÖVP – „Grüne“: Vielsagendes Schweigen im Walde
Man darf gespannt sein, wie sich die ÖVP als künftige Regierungspartei verhalten wird. Man sollte sie aber nicht aus der Pflicht entlassen.