Der Dolchstoß in den Rücken des eigenen Verbündeten: Kriegseintritt Italiens gegen Österreich-Ungarn im Jahre 1915.
Von Georg Dattenböck
Angesichts der horrenden Schrecken und unfasslichen Verlustzahlen an Gefallenen, Vermissten und Schwerstversehrten des 1. Weltkrieges, hat heute jeder geschichtskundige Friedenswillige in Italien und Österreich den Wunsch, daß derart Schreckliches nie wieder geschehen soll. Immer wieder gibt auch heute noch das schmelzende Eis an den ehemaligen Frontabschnitten mumifizierte Gefallene frei und der Wanderer entdeckt vielfach noch die Hinterlassenschaften dieses Krieges.
Das italienische Volk beklagte am Ende rund 600.000 tote junge Männer, die Zahl der Vermissten und Schwerstversehrten ist dem Verfasser unbekannt. Dies war der traurige „Siegespreis“, den das italienische Volk, welches in großer Mehrheit nicht kriegsbegeistert und nicht schuldig war, für diesen von einer fanatischen Minderheit geplanten Angriffskrieg gegen Österreich zahlen mußte. Auch auf Seiten Österreich-Ungarns waren die Verluste gewaltig. Etwa 30.000 Mann wurden alleine durch Lawinen und die widrigen Witterungsverhältnisse des Hochgebirges getötet.
Mit einer starken, antiösterreichischen Stimmungsmache, Hetzreden, einer Befürwortung und Heroisierung des Krieges, stach damals unter vielen anderen Kriegshetzern der italienische Dichter Gabriele d’Annunzio, Redner bei Freimaurerfesten und zugleich einer der Ideengeber des aufkommenden Faschismus, besonders hervor.
Er verherrlichte den Krieg, machte den von ihm und seinen Anhängern geübten „Saluto Romano“ populär, bis dieser zum offiziellen faschistischen – und nationalsozialistischen – Parteigruß wurde und ließ sich sein Leben in einer beschlagnahmten Villa am Gardasee von dem faschistischen Regime finanzieren.
Als nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund des Londoner Geheimabkommens von 1915 Teile Kroatiens an Italien fielen, Rijeka – von den Italienern auch Fiume genannt – jedoch nicht zu den abzutretenden Gebieten gehörte, besetzte D’Annunzio gegen den Willen der eigenen Regierung an der Spitze militärischer Freischärler die Stadt und rief dort die „Repubblica di Fiume“ aus. Er verfolgte damit die gleiche Annexionspolitik, die in Bezug auf Südtirol angewandt wurde. Nur diesmal passte sie nicht in das Konzept der Regierung in Rom.
D’Annunzio musste 1920 nach einem Militäreinsatz der italienischen Regierung den „Freistaat“ verlassen. 1924 einigten sich Italien und Serbien darauf, dass Fiume von Italien annektiert werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Stadt dann an Jugoslawien fallen.
D’Annunzio wurde von Rom jedoch für seine Tätigkeit belohnt, indem man ihm zu äußerst kulanten Bedingungen eine Villa mit Park in Gardone Riviera am Gardasee überließ, die zuvor der deutschen Familie Thode gehört hatte und die von der italienischen Regierung als „deutsches Feindgut“ beschlagnahmt worden war. D’Annunzio gab dem geraubten Anwesen den Namen „Il Vittoriale degli Italiani“ („Siegesdenkmal der Italiener“) und stellte in dem Park Flugzeuge, Kanonen, ein Torpedoboot und andere militärische Erinnerungsstücke aus.
Bis heute stellt „Il Vitoriale“ einen sorgsam gepflegten Museumskomplex zur Kriegsverherrlichung dar.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ berichtete auf ihrer Internetseite am 23. Dezember 2019, dass D’Annunzio ein „Choreograf des Faschismus“ gewesen sei, von Mussolini finanziert wurde und stolz verkündet habe: „Das Beste des Faschismus stammt von mir“. (https://www.nzz.ch/international/dichter-dandy-und-duce-wie-gabriele-dannunzio-zum-choreografen-des-faschismus-wurde-ld.1529897)
Von besonderer Bedeutung für Südtirols Schicksal wurde der sozialistische Journalist und Chefredakteur Benito Mussolini, der sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges von einem linksradikalen Pazifisten in einen nationalistischen Hetzer und Kriegstreiber verwandelte. Der Grund für diesen Wandel war unter anderem, daß er von der italienischen Regierung, der Waffenindustrie und ausländischen Diplomaten eine Zeitung („Il Popolo d’Italia“) für seine kriegstreiberische Propaganda finanziert bekam. Mussolinis geistiger Schüler und Bewunderer, sowie einer der politischen Totengräber Südtirols wurde später Adolf Hitler. (Siehe ausführlich dazu: „Hitler und Südtirol“ im „Südtirol-Informationsdienst“ v. 15.6.2016 http://suedtirol-info.at/page/11/).
Die Haltung der italienischen Freimaurerei zur Frage des Kriegseintrittes
Interessant ist die Haltung der italienischen Freimaurerei. Diese hatte bei der „Wiederauferstehung“ („Risorgimento“), der Einigung Italiens, eine bedeutende Rolle gespielt. Führende „Irredentisten“ waren zugleich Freimaurer gewesen und das erzkatholische Haus Habsburg wurde von der antiklerikalen italienischen Freimaurerei ohnedies als Feind gesehen. Im Gegensatz zu den weltbürgerlich orientierten Großlogen anderer Staaten Europas, war die italienische Freimaurerei aufgrund ihrer besonderen Geschichte zutiefst nationalistisch eingestellt. Sie war erfüllt vom Gedanken, daß alle Italienischsprachigen unter der Trikolore eines geeinten Königreiches Italiens leben sollten. Diese Freimaurerei war irredentistisch und damit antiösterreichisch eingestellt.
Aus dieser Gesinnungslage erklärt sich eine Stellungnahme der Großloge am 30. Juli 1914, in welcher der italienische Großmeister von der Gefährdung der nationalen Interessen Italiens und von der Möglichkeit der Vervollständigung der nationalen Einheit sprach. Das war letztlich nichts anderes als die Befürwortung dessen, was bald geschehen sollte.
Als am 5. Mai 1915 ein Denkmal der tausend Garibaldiner, die 1860 Neapel erobert hatten, in Quarto bei Neapel eingeweiht wurde, hielt der Dichter Gabriele d’Annunzio eine nationalistische Festrede. Der Festplatz wurde von den Fahnen von 400 italienischen Logen umrahmt. Neun Tage nach diesem Logenfest trat Italien in den Weltkrieg ein. Der Großorient Italiens sprach in seiner Botschaft zum Kriegseintritt von einem lang erwarteten Ereignis, das er begrüßte. Der Irredentismus und glühende Nationalismus der italienischen Freimaurerei wurde in der Folge schlecht gelohnt: Der aufblühende Faschismus unter Benito Mussolini hatte die Freimaurerei von Beginn an nicht neben sich geduldet und sollte der Großloge Italiens in einem kurzen und heftigen Kampf bald ein offizielles Ende bereiten.
Der Dreibund-Vertrag
Am 20. Mai 1882 hatte Italien mit Österreich-Ungarn und Deutschland den Dreibund-Vertrag geschlossen, ein Verteidigungsbündnis, in dessen Artikel I es hieß: „Die hohen vertragschließenden Parteien versprechen sich wechselseitig Frieden und Freundschaft und werden kein Bündnis und keine Verpflichtung eingehen, die sich gegen einen dieser Staaten richtet.“
Der Artikel II sah vor, dass der Bündnisfall einzutreten habe, „wenn eine oder zwei der hohen vertragschließenden Parteien ohne unmittelbare Herausforderung ihrerseits angegriffen werden sollten …“
Der Artikel IV sah vor, dass in dem Falle, dass ein Vertragspartner einer anderen Macht den Krieg erklären sollte, die anderen Vertragspartner eine „wohlwollende Neutralität zu beobachten“ hätten.
Als Österreich-Ungarn 1914 Serbien den Krieg erklärte, konnte sich Italien auf den Artikel IV berufen und sich für neutral erklären.
Das nicht akzeptierte Angebot Österreich-Ungarns an Italien
Rom nutzte nun die militärstrategische Notlage Österreich-Ungarns zu erpresserischen Gebietsforderungen. Am 11. April 1915 übermittelte der italienische Botschafter in Wien ein Memorandum, in welchem Rom neben Welschtirol auch noch das halbe heutige Südtirol forderte. Wohlweislich forderte Rom keine Volksabstimmung in diesen Gebieten, sondern die Abtretung.
Die österreichisch-ungarischen Regierung war daraufhin bereit gewesen, Welschtirol (das heutige Trentino) an Italien abzutreten und einem Sonderstatus für Triest zu zuzustimmen, der dessen italienischen Charakter sichern sollte. Strikt verweigert wurde jedoch die Abtretung deutschtiroler Gebiete.
(Anmerkung: Die Bezeichnung „Trentino“ für Welsch-Tirol war ab dem Jahre 1848 als Kampfparole gegen die Landeseinheit von den Irredentisten verbreitet worden. Trient hatte noch zur Zeit des Konzils (1545-1563) als eine halbdeutsche Stadt gegolten und das deutsche Sprachgebiet hatte vordem in kleineren und größeren Sprachinseln bis Verona und Vicenza gereicht.)
Der Bündnisverrat
Zu dem Zeitpunkt des österreichischen Angebots waren allerdings hinter den Kulissen die Würfel schon gefallen. Die italienische Regierung hatte am 26. April 1915 mit England und Frankreich in London einen Geheimvertrag abgeschlossen, wonach Italien bei dem von den Alliierten geforderten schnellen Seitenwechsel innerhalb eines Monats, Tirol bis zum Brenner, sowie fast ganz Dalmatien zugesprochen erhielt.
Dem gewandten Redner, General und Chef des Generalstabes Luigi Cadorna war es gelungen, mit zu optimistischen Vorhersagen über einen Kriegsverlauf mit Österreich das italienische Parlament auf die Seite der Kriegspartei zu ziehen.
Damit war ein eklatanter Bündnisverrat gegeben, denn in dem Artikel I des Dreibundvertrages hatte es geheißen, dass die vertragschließenden Parteien sich Frieden und Freundschaft versprechen und kein Bündnis eingehen würden, welches sich gegen einen Bündnispartner richte. Und der Artikel IV hatte „wohlwollende Neutralität“ der anderen Bündnispartner vorgesehen, falls einer der Bündnispartner einer anderen Macht den Krieg erklären sollte.
Im August 1914 hatte sich das mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich im Dreibund verbündete Königreich Italien zunächst für neutral erklärt. Dieses Verhalten war noch vertragskonform gewesen. Der Kriegseintritt Italiens an der Seite der Ententemächte war jedoch nichts anderes als ein heimtückischer Dolchstoß in den Rücken betrogener Vertragspartner. Am 3. Mai 1915 trat Italien aus dem „Dreibund“ aus und erklärte am 23. Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg. Dem Deutschen Reich erklärte Italien erst im Jahre 1916 den Krieg.
Der Wortlaut der italienischen Kriegserklärung vom 23. Mai 1915
Am 25. Mai 1915 veröffentlichte die „Bozner Zeitung“ dann auf ihrer Titelseite nachstehende Mitteilung:
„Die Kriegserklärung Italiens
Wien, 23 Mai. Amtlich wird verlautbart:Der italienische Botschafter, Herzog von Avarna überreichte heute nachmittags dem Minister des Aeßern Baron Burian die Kriegserklärung, in welcher es u. A. heißt:
Italien gab am 4. Mai der österreichisch-ungarischen Regierung die schwerwiegenden Gründe bekannt, weshalb Italien im Vertrauen auf sein gutes Recht den Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn, der von der österreichisch-ungarischen Regierung verletzt wurde, für nichtig und wirkungslos erklärt. Da Italien nun seine volle Handlungsfreiheit wieder erlangt hat und fest entschlossen ist, mit allen Mitteln für die Wahrung der italienischen Rechte und Interessen Sorge zu tragen, erachtet es die italienische Regierung als ihre Pflicht, alle Maßregeln zu ergreifen gegen jede gegenwärtige und zukünftige Bedrohung seiner nationalen Aspirationen. Der König betrachtet sich von morgen ab als im Kriegszustande mit Österreich-Ungarn befindlich.“
Die Antwort von Kaiser Franz Josef
Ebenfalls am 25. Mai 1915 veröffentlichte die „Bozner Zeitung“ auf ihrer Titelseite die Antwort des Kaisers auf die Handlungsweise der italienischen Regierung:
„An meine Völker!
Der König von Italien hat mir den Krieg erklärt! Ein Treubruch, dessen Gleichen die Geschichte nicht kennt, ist vom Königreiche Italien an seinen beiden Verbündeten begangen worden. Nach einem Bündnis von mehr als 30jähriger Dauer, während dessen es einen territorialen Besitz mehren und sich zu einer ungeahnten Blüte entfalten konnte, hat uns Italien in der Stunde der Gefahr verlassen und ist mit fliegenden Fahnen in das Lager unserer Feinde übergegangen.
Wir haben Italien nicht bedroht, sein Ansehen nicht geschmälert, seine Ehre und seine Interessen nicht angetastet; wir haben Unseren Bündnispflichten stets getreu entsprochen und ihm Unsern Schirm gewährt, als es ins Feld zog. – Wir haben mehr getan: Als Italien seine begehrlichen Blicke über Unsere Grenzen sandte, waren Wir, um das Bundesverhältnis und den Frieden zu erhalten, zu großen und schmerzlichen Opfern entschlossen, zu Opfern, die Unserem väterlichen Herzen besonders nahe gingen.
Aber Italiens Begehrlichkeit, das den Moment nützen zu sollen glaubte, war nicht zu stillen.
Und so muss sich das Schicksal vollziehen. …“
Mit diesen vor wahrnehmbarer Empörung bebenden Sätzen des Manifestes wandte sich Kaiser Franz Josef an die Völker Österreich-Ungarns.
Es sei vom Verfasser angemerkt, daß der seit 2. Dezember 1848 regierende Kaiser und seine vielen, wechselnden Regierungen, sich zu keiner Zeit über die sehr langfristig angelegte Strategie Italiens im Klaren waren und nur halbherzige Maßnahmen dagegen trafen. Trotz der Attentatsversuche auf den Kaiser und dessen Familie, der Kriege von 1848/49, 1859 und 1866 in Italien, trotz des Verlustes der Lombardei und Venetiens und des von außen geschürten Nationalismus der Völkerschaften der Monarchie, hatte sich wenig an der eklatanten Vernachlässigung der Wehrfähigkeit der k. u. k.-Armee und an dem Ignorieren von Warnungen geändert. Die umfassenden Pläne zur Erneuerung der Monarchie durch den designierten Nachfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, waren durch dessen Ermordung und den Ausbruch des Weltkrieges nicht mehr zur Durchführung gelangt.
Ein Wort des Verfassers in eigener Sache: Mein persönlicher Bezug zu diesem tragischen Geschehen
Mit dem, was in der Folge nun geschah, bin ich nicht nur durch mein historisches Interesse, sondern auch durch meine Familiengeschichte verbunden. Dieser Krieg hatte auch für meine Großväter eine einschneidende Bedeutung: Der Großvater väterlicherseits (*1897) wurde zum salzburgisch-innviertlerischen Infanterie-Regiment 59 („Die Rainer“) eingezogen. Er musste u.a. am verhängnisvollen Monte Cimone schwerste Kämpfe durchleiden und wurde dort zweimal ausgezeichnet.
Mein Großvater mütterlicherseits, bei der Kriegserklärung Italiens noch nicht einmal 17 Jahre alt, meldete sich als Freiwilliger zu den Oberösterreichischen Freiwilligen Schützen. Sein Schicksal soll uns hier im Bericht Begleiter sein.
Die Freiwilligen
Über das weitere Geschehen zitiere ich aus einem zeitgeschichtlichen Werk (Helmut Golowitsch: „Und kommt der Feind ins Land herein… Schützen verteidigen Tirol und Kärnten“, Schriftenreihe zur Zeitgeschichte Tirols; Band 6, Nürnberg 1985)
„Als Italien den Krieg erklärte, standen zwei Drittel der italienischen Armee an der österreichischen Grenze. Vom Ortler über das Etschtal, die Sieben Gemeinden, die Dolomitenpässe bis hin zu den Pässen und Tallinien der Karnischen und Julischen Alpen schienen die Italiener auf kaum besetzte Grenzen zu stoßen. Der Durchmarsch bis Wien und das Diktat eines mitteleuropäischen Friedens durch das siegreiche Italien schienen in greifbare Nähe gerückt. Wer weiß, welche auch aus heutiger Sicht schmerzhaften Gebietsopfer über die Abtrennung Südtirols hinaus ein solcher italienischer Durchbruch für Österreich gebracht hätte.
In der Tat schien Italien mit dem Krieg nicht viel zu wagen. Das Feldheer stand in Galizien und in den Karpaten. Die plötzlich zur Front gewordene Südgrenze war von Truppen entblößt. Die Luftlinie der österreichischen Grenze vom Stilfser Joch bis zu den Julischen Alpen betrug 600 km. Offiziere des österreichischen Generalstabes errechneten, daß die tatsächliche Länge der Stellungslinien aufgrund des Geländes und der Höhenunterschiede mit mindestens 3.500 Kilometern anzusetzen war, ohne Einschluss der Isonzo-Front.
An dieser Grenze standen im Mai 1915 in Tirol nur einige Landsturm- und Marschbataillone sowie die Festungsbesatzungen zur Verfügung. Allein an der 100 Kilometer langen Dolomitenfront marschierten aber 160.000 Mann Italiener auf, die unter Generalleutnant Nava die 4. Armee bildeten.
Insgesamt standen in Tirol 21 improvisierten, kaum ausgebildeten Heeres- und Landsturmbataillonen die gesamte 1. und 4. italienische Armee mit etwa 180 Bataillonen gegenüber.
In Kärnten standen die Dinge nicht viel besser. Der offenen und entblößten Grenze gegenüber marschierten die 2. und die 3. italienische Armee sowie das 12. Korps, noch verstärkt durch 16 Alpinibaone, zum Angriff auf.
Demgegenüber hatte der österreichische General Goiginger nur 12 Bataillone zur Verfügung. Die Einnahme Trients und Bozens, der Durchstoß in das Pustertal, der Einbruch über Plöcken und Naßfeld nach Kärnten und der Vormarsch bis Wien hätten nach menschlichem Ermessen ohne Schwierigkeiten gelingen müssen, wenn nicht zwei Dinge geschehen wären:
Der italienische Oberbefehlshaber Graf Cadorna überschätzte Zustand und Stärke der österreichischen Festungen maßlos. Statt an bestimmten Punkten seine Kräfte zu massieren und diese in energischem Stoß in das österreichische Hinterland zu führen, zögerte Cadorna in unbegreiflicher Weise mit dem Ansetzen punktueller Großangriffe und begnügte sich zunächst damit, alle seine Kräfte in die Ausgangsstellungen entlang der österreichischen Linien heranzuführen und durch nachrückenden Ersatz und durch Artillerie zu verstärken. Dann begann Cadorna, die von ihm so gefürchteten österreichischen Festungen tagelang sturmreif zu schießen.
Das zweite Ereignis, das gerade wegen der Zaghaftigkeit des italienischen militärischen Führers einen raschen italienischen Erfolg verhinderte, war das Auftreten freiwilliger Formationen, die dann Cadorna das Tor schlossen, durch welches er bis nach Wien zu gelangen gedachte. Buchstäblich wie aus dem Nichts tauchten in Tirol 38.000 zusätzliche Landesverteidiger auf. Innerhalb von nur 3 Tagen stellten Tirol und Vorarlberg ein gesamtes zusätzliches Armeekorps an die Grenze, bestehend aus blutjungen oder alten Männern, deren Alter außerhalb der Wehrpflicht lag.
Als die ersten italienischen Patrouillen gegen die österreichischen Stellungen vorfühlten, schlug ihnen von Gipfeln und Graten ein gut gezieltes Scharfschützenfeuer entgegen.
Diese Verteidiger waren die Standschützen, über die das italienische Generalstabswerk ‚La Conquista del Col di Lana‘ (‚Die Eroberung des Col di Lana‘) vermerkt:
‚Die Standschützen setzten sich aus Freiwilligen von Tirol und Vorarlberg zusammen. Lang nicht alle waren militärisch ausgebildet. Die meisten waren überhaupt viel zu jung oder viel zu alt dazu, doch sie erwiesen sich für die Verteidigung ihres Landes sehr wertvoll. Diese rauhen Jäger und unermüdlichen Gebirgler hingen mit seltener Liebe an ihren Bergen, mit denen und ihrem alten Kaiser sie von Jugend auf verwachsen waren. Sie wurden gleich unsere erbittertsten Feinde‘.
Den Standschützen traten dann auf der Hochfläche von Folgaria-Lavarone noch freiwillige Schützen aus Oberösterreich zur Seite, hauptsächlich Jugendliche im Alter unter 18 Jahren.
In Kärnten geschah wie in Tirol ein Wunder. Ein Wunder der Heimatliebe und des Opfermutes.
12.000 freiwillige Schützen tauchten auf gespenstische Weise auf und besetzten die Gipfel, Grate und Hangstellungen der Karnischen und Julischen Alpen. Schüler und Studenten aus der Steiermark, Bauernbuben, Lehrlinge und Gymnasiasten aus Salzburg stiegen, unter der Last ihrer Rüstungen fast zusammenbrechend, in die Höhenstellungen und wehrten dem Feind das Eindringen in das Land. Von ihnen waren aber allein 8.422 Kämpfer aus Kärnten, die mit ihren Leibern die engere Heimat deckten.
Den Buben und den alten Männern in Tirol kam als erste Hilfe das deutsche Alpenkorps zur Unterstützung herangeeilt, ausgestattet mit Kampferfahrung, vortrefflicher Disziplin und hervorragender Gebirgsartillerie. Dann kamen österreichische Truppen des Feldheeres. Wochenlang aber lag die Last der Verteidigung allein auf den Schultern von Knaben und Greisen, die zum Teil von Mädchen, Kindern und Bauersfrauen aus dem Tale in ihren Höhenstellungen versorgt wurden. Die Freiwilligen aber, die man seitens der obersten Heeresleitung anfangs lediglich für fähig gehalten hatte, bei der Verteidigung von Stellungen mitzuwirken, entwickelten sich zu hervorragenden Sturmtruppen die man in Sturmkursen technisch und taktisch ausbildete und bis zum Zusammenbruch 1918 an den Brennpunkten des Geschehens auch operativ einsetzte.“
(Helmut Golowitsch: „Und kommt der Feind ins Land herein… Schützen verteidigen Tirol und Kärnten. Schriftenreihe zur Zeitgeschichte Tirols; Band 6, Nürnberg 1985, S. 14ff)
Zum Abschluss eine Erinnerung aus der Familiengeschichte des Verfassers:
Der schreckliche Tod des ehemaligen Freiwilligen Schützen Josef Beyerl
Der Großvater des Verfassers, Josef Beyerl, der im Juli 1898 im Mühlviertel, in Mardetschlag (Bezirk Freistadt), geboren wurde, hatte sich als Sechzehnjähriger zu den Freiwilligen OÖ Schützen gemeldet.
Als Josef Beyerl aus den verlustreichen Kämpfen in die Heimat zurückkehrte, musste er feststellen, dass der Erste Weltkrieg auch hier ein schreckliches Erbe hinterlassen hatte. Das ausgehungerte, ausgeblutete und von den siegreichen Alliierten nochmals ausgeraubte Österreich versank im Elend. Soziale Kämpfe und das Entstehen radikaler totalitärer Kräfte waren die Folge. Ein Opfer dieser tragischen Entwicklung sollte er selbst werden.
Am 27. Juli 1934 meldete sich der Gendarmerie-Rayonsinspektor Josef Beyerl in seinem nunmehrigen Heimatort Wilhering auf Grund der Erkrankung eines Kameraden freiwillig zum Dienst.
Der sogenannte „Juli-Putsch“ der NSDAP war in den Aufstandszentren Wien, Steiermark und Kärnten schon längst zusammengebrochen, als einige von tiefem Hass erfüllte junge „Volksgenossen“ um 3 Uhr morgens, aus finsterem Hinterhalt, mit 4 Karabinerschüssen dem Leben des 37jährigen ehemaligen Freiwilligen Schützen ein jähes Ende bereiteten. Ein Schuss zerfetzte seine Leber.
Die sofort alarmierte Familie, Gattin und Kinder (11 und 8 Jahre alt), lief schreiend und in heller Panik im Nachtgewand rund 1,5 Kilometer weit auf der Bundesstraße 129 zu dem neben dem Straßengraben liegenden Mann und Vater, der vor ihren Augen in seinem Blut langsam verröchelte.
Im Morgengrauen wurden unweit der Mordstelle 35 Mannlicher-Gewehre gefunden: 25 waren geladen, zehn davon waren noch in Papier verpackt. Die Mörder konnten nicht festgestellt werden und wurden nie abgeurteilt. Gerüchte liefen später um, dass die Täter eigentlich einem anderen Gendarmen hatten auflauern wollen und dass Josef Beyerl somit das Opfer einer Verwechslung geworden war. Das machte freilich die Tat nicht besser.
Unter größter öffentlicher Anteilnahme wurde der besonnene und in Wilhering äußerst beliebte Mann am 30. Juli 1934 zur letzten Ruhe geleitet. In diesem blutigen Jahr 1934 hatte er zwischen den ständig aufeinander schießenden Bürgerkriegsparteien immer wieder ausgleichend wirken wollen und war dann selbst zum Opfer geworden.
Bundespräsident Wilhelm Miklas verlieh ihm posthum die „Goldene Medaille für Verdienste um den Bundesstaat“.
Am 11. November 1934 fand eine Denkmalenthüllung am Sterbeplatz des Erschossenen statt, unter Anwesenheit von Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner, der einst auch ein Kämpfer an der Front in Tirol gewesen und mit der Großen Goldenen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet worden war.
Junge Idealisten wie Josef Beyerl hatten ehrlichen Herzens bei der Verteidigung der Heimat ihr Bestes gegeben. Als sie aus einem schrecklichen Krieg zurückkehrten, war ihnen der Friede nicht vergönnt. Im südlichen Tirol brach nach der Landesteilung auch noch der Terror des Faschismus über die Unterworfenen herein. Der Oberösterreicher Josef Beyerl starb 1934 in einem beginnenden Bürgerkrieg einen tragischen Tod. Viele seiner Kameraden mussten Diktatur, Verfolgungen, und einen weiteren Weltkrieg erleben.
Wir gedenken anlässlich des Jahrestages der italienischen Kriegserklärung der Tiroler Landesverteidiger und ihrer Kameraden wie des Freiwilligen Schützen Josef Beyerl, die reinen Herzens gehandelt und alles für das Vaterland und ihre Mitmenschen gegeben hatten.