Der „Codice Rocco“
Der italienische König Vittorio Emanuele III. saß in aufmerksamer Haltung hinter seinem Arbeitstisch. Man schrieb den 19. Oktober des Jahres 1930, des achten Jahres der faschistischen Machtergreifung.
Der „Guardasigilli“, der „Siegelbewahrer“, Justizminister Alfredo Rocco richtete das Wort an den König. „Sire“, begann der Minister, „in Eurem Königreich haben sich in der Tat in glücklicher Weise die Eroberungen der Waffen und die gesetzlichen Reformen vereinigt, um das Leben des Staates und des italienischen Volkes zu erneuern. Die Strafgesetzreform“, rief der Minister emphatisch aus, „wird als eines der hervorragendsten Denkmäler dieser Gesetzgebung und als eine imposante Demonstration der Kraft des italienischen Genius bestehen bleiben.“
Im Hintergrund hörte, in achtungsvoller Haltung stehend, ein untersetzter und gedrungener Mann aufmerksam dem Vortrag zu. Benito Mussolini, „Duce“ der Nation und geistiger Vater des neuen Strafgesetzes, hatte die Grundzüge des faschistischen „codice penale“ bereits 1925 durch die „camera dei deputati“ beschließen lassen. Dann hatte sein treuester Vasall, Justizminister Rocco, das Gesetz in allen Einzelheiten ausgefeilt. Nun sollte der König seine Unterschrift geben.
Der „Guardasigilli“ klappte seine Mappe zu. Vittorio Emanuele III. ergriff die Feder und unterzeichnete das vor ihm liegende Schriftstück. Mussolini trat zum Tisch und unterschrieb, nach ihm Justizminister Rocco. Damit trat der neue „Codice Penale“, nach seinem Schöpfer auch „Codice Rocco“ genannt, in Kraft.
Das Strafrecht und die faschistische Staatsauffassung
Ein Blick auf die Sprachenkarte
Wer die Frage stellt, warum der Mussolini-Staat Bedarf an den berüchtigten Artikeln des Strafgesetzbuches gehabt hatte, der ist eingeladen, einen Blick auf eine Sprachenkarte Italiens zu werfen. Auf der Halbinsel einschließlich der zu ihr gehörenden Inseln werden 14 Sprachen gesprochen. In 14 von insgesamt 20 italienischen Regionen sprechen etwa 2,8 Millionen Menschen eine andere Muttersprache als Italienisch, wobei die Sprachen Piemontesisch, Roma und Sinti noch nicht in dieser Aufstellung erfasst sind. Die Sprachgruppenzählung von 1971 führte neben Italienisch folgende Sprachgruppen auf: Albanisch, Deutsch, Dolomiten-Ladinisch, Franko-Provenzalisch, Friulanisch, Griechisch, Katalanisch, Kroatisch, Okzitanisch, Sardisch und Slowenisch.
Es hätte sich eine föderalistische Lösung angeboten
Natürlich war auch Mussolini bekannt, daß Italien über zahlreiche und zahlenmäßig starke Volksgruppen verfügt, die eine zentrifugale Entwicklung weg vom zentralistischen Einheitsstaat in Gang setzen konnten. Der italienische Staat wäre aufgrund seiner ethnischen Struktur dazu geschaffen gewesen, eine föderalistische Verfassung mit weitreichenden Autonomien der einzelnen Volksgruppen zu erhalten. Das Beispiel der Schweiz mit ihrer Kantonalverfassung hätte sich angeboten.
Die politische Zielrichtung des Faschismus war eine andere gewesen
Die politische Zielrichtung des Faschismus war jedoch eine andere gewesen. Mussolini schreibt in seinem Standardwerk „La dottrina des fascismo“: „Der italienische Staat ist Wille zur Macht und zum Imperium. Die römische Überlieferung ist hier ein Wunschbild von höchster Gewalt“. An anderer Stelle heißt es: „Wer Faschismus sagt, sagt Staat.“ Die Vorstellung vom zentralistisch gelenkten und straff organisierten Imperium verlangte aber auch die organisierte Einheitsnation, innerhalb derer es keinen Platz für Besonderheiten oder gar Gewaltenteilung zwischen autonomen Gebieten und der Zentralregierung geben durfte. Folgerichtig sagte daher Benito Mussolini:
„Es ist ja nicht die Nation, die den Staat erzeugt, nach der verschimmelt naturalistischen Auffassung, die der Schriftstellerei in den Nationalstaaten des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde lag. Vielmehr wird die Nation durch den Staat geschaffen.“
In diesen Worten des „Duce“ ist bereits das gesamte Entnationalisierungsprogramm enthalten, welches die Südtiroler in eine gemeinsame italienische Einheitsnation einschmelzen sollte, ohne daß eine Spur ihrer deutschen und ladinischen Nationalität und Kultur erhalten bleiben durfte.
Daß dieses Programm Widerstand auslösen mußte, lag auf der Hand. Mussolini legte deshalb das Strafgesetz als eiserne Klammer des Staates um die ihrer Identität beraubten Volksgruppen.
Die faschistische Repression
Für Südtirol sollte das faschistische Strafgesetz zu einer unbarmherzigen Geißel werden, die von einer willfährigen Justiz über dem geknechteten Volk geschwungen wurde.
In seinem zweiten Hauptteil („Dei delitti contro la personalita dello stato“) zählte der Codex jene „Delikte gegen die Persönlichkeit des Staates“ auf, die ab nun mit langjährigen Kerkerstrafen, mit dem Tod oder lebenslangem Zuchthaus zu ahnden waren: Beleidigung der italienischen Nation; Beleidigung der italienischen Fahne; antinationale Aktivität; politischer Defaitismus; Beleidigung des Staatsoberhauptes; subversive und antinationale Propaganda; Bildung von geheimen Gesellschaften. Wer die bewaffneten Streitkräfte oder den faschistischen Großrat beleidigte (Artikel 290), konnte bis zu 6 Jahren Zuchthaus erhalten, auf die Beleidigung der italienischen Nation oder der italienischen Fahne standen 3 Jahre Kerker. Wer aber versuchen sollte, eine Kolonie oder ein anderes Territorium vom italienischen „Mutterland“ loszulösen, verfiel nach Artikel 241 der Todesstrafe.
Kritik an der Staatsführung führte ab nun wegen „antinationaler Aktivität“ oder „Beleidigung der italienischen Nation“ in die Kerker der römischen Regierung oder in die Verbannung auf Gefängnisinseln.
Hunderte von Südtirolern wanderten aus nichtigen Anlässen für lange Jahre hinter Kerkermauern oder in die Verbannung auf Gefängnisinseln. An den Folgen der Verbannung starben der Rechtsanwalt Josef Noldin und das junge Mädchen Angela Nikoletti, die heimlich im „Katakombenunterricht“ den Kindern Lesen und Schreiben in deutscher Sprache beigebracht hatten.
Einer der Überlebenden, Wilhelm Eppacher aus Brixen, hat vor einem österreichischen Gericht, im 3. Grazer Südtirolprozess, als Zeuge der Verteidigung die Leidensgeschichte der Eingekerkerten und Verbannten erzählt:
„Monatelang war das Gefängnis in Bozen mit jungen Südtirolern vollgepfropft. Manche saßen wegen angeblicher Schmähung der italienischen Staatseinrichtung oder weil sie beim Spielen der Faschistenhymne nicht den Hut vom Kopf genommen hatten hinter Gefängnismauern. Anderen warf man sogenanntes ‘antinationales Verhalten’ vor. Gefoltert wurde damals so wie heute. Einem Sepp Pilser aus Meran riß man die Haare mit ganzen Fetzen der Kopfhaut aus. Andere Gefangene stellte man in heißes Wasser und schlug sie, bis sie bewußtlos waren. Ich selbst wurde nach kurzer Gefängnishaft auf die Felseninsel Tremiti verbannt, wo ich fünf Jahre lang zusammen mit 500 anderen Südtirolern in einem Konzentrationslager eingesperrt war.“ (Wiedergeben in: Otto Scrinzi (Hrsg.): „Chronik Südtirol 1959 – 1969“, Graz 1996, S. 68)
1945: Die faschistischen Staatsschutzbestimmungen blieben aufrecht
Nach 1945 hielt die italienische Regierung es für angebracht, das faschistische Strafrecht nahezu unverändert in Kraft zu lassen und es in der Folge bei politischen Prozessen weiter anzuwenden.
Seine politischen Paragraphen dienten der allerchristlichsten Regierungspartei „Democrazia Cristiana“ ebenso zum Niederzwingen der kommunistischen Opposition wie zur Niederhaltung aufmüpfiger Südtiroler.
Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht oder Bestrebungen für eine eigene Landesautonomie wurden mit der Einleitung von Strafverfahren wegen „Angriff auf die Einheit des Staates“ oder „Anschlag auf die Verfassung“ beantwortet.
Nach 1945 kehrten auch viele ehemals faschistische Richter und Verwaltungsbeamte nach Südtirol zurück und die Südtiroler mussten sich wieder vor denselben Richtern nach demselben Gesetz wie in der Faschistenzeit verantworten.
Die neuerliche Repression
Der Fall Egon Mayr
Im Jahre 1956 demonstrierte die Bozner Staatsanwaltschaft ihr faschistisches Rechtsverständnis an einem Österreicher.
Der 26jährige Egon Mayr aus Linz hatte einige Urlaubstage bei seiner Verlobten im Fassatal verbracht und fuhr nun am 26. Dezember 1955 mit dem Zug Richtung Brenner nach Hause. Er hatte in einer Aktentasche einige vervielfältigte Blätter mit sich, die einen Zeitungsartikel der New Yorker Monatsschrift „Austria“, einer Zeitung für Exilösterreicher, wiedergaben. In diesem Artikel wurde verlangt, die Südtiroler Frage vor die UNO zu bringen, mit dem Ziel, das Recht auf Selbstbestimmung durchzusetzen.
Im Bahnhof von Brixen warf Egon Mayr unbeobachtet in der Dunkelheit einige dieser Blätter aus dem Zug. Ein Carabiniere fand sie. Umgehend wurde eine große Staatsaktion eingeleitet. Am Brenner wurde der Zug angehalten und von Carabinieri und Finanzern durchsucht. In Egon Mayrs Aktentasche fand man noch einige übrig gebliebene Blätter.
Der „Staatsverbrecher“ wurde gefesselt und nach Bozen gebracht. Die Anklage lautete unter Verwendung politischer Paragraphen des faschistischen Strafgesetzbuches („Codice Rocco“) auf „antinationale Propaganda“ (Strafe: 1-5 Jahre) und auf „Anschlag auf die Einheit des Staates“ nach Artikel 241, der eine Strafandrohung bis Lebenslänglich vorsah. (Dieser faschistische Paragraph ist immer noch in Geltung und sieht heute nach einer parlamentarischen Modifikation vom 24. Februar 2006 immerhin immer noch eine Strafe nicht unter 12 Jahren vor.)
Am 17. September 1956 begann in Bozen die Verhandlung. Der Staatsanwalt Dell’Antonio, ein Exfaschist, forderte „unter Einräumung mildernder Umstände“ 14 Jahre und 8 Monate Gefängnis für Mayr, um „gewissen Leuten, die glauben, hier in Italien gelten nicht mehr die italienischen Gesetze, sondern die österreichischen“, die Situation klar zu machen. Mayr erhielt am 22. September 3 Jahre Haft, das Revisionsverfahren setzte die Strafe auf 10 Monate herab. Am 22. Dezember 1956 wurde Mayr über den Brenner abgeschoben.
Der Fall Sepp Kerschbaumer
Am 5. Juli 1957 war der spätere Freiheitskämpfer Sepp Kerschbaumer aus Frangart in Bozen vor Gericht gestanden. Der Staatsanwalt Mario Martin hatte ihn angeklagt, durch das Hissen von Tiroler Fahnen am 20. Februar, dem Todestag Andreas Hofers, eine „aufhetzende Kundgebung“ gegen den italienischen Staat veranstaltet zu haben. Die Tiroler Fahnen hatte der treffliche Staatsanwalt Mario Martin, ein Exfaschist, als „stracci“, als „Fetzen“, bezeichnet. Kerschbaumer wurde zu 10 Tagen Arrest verurteilt. („Volksbote“, Bozen, 20. 07. 1957)
Das Schicksal der „Pfunderer Buam“
Besonders tragisch war das Schicksal der Pfunderer Burschen. In der Nacht des 15. August 1956 waren 7 junge Bauernburschen in Pfunders, einem kleinen Gebirgsort in einem Seitental des Pustertales, nach einer ausgiebigen Zecherei in eine Wirtshausrauferei mit ebenfalls dort zechenden italienischen Finanzern geraten. Einer der Finanzer, Raimondo Falqui, nahm Reißaus, rannte davon und stürzte von einer Brücke ohne Geländer 3 Meter tief in den ausgetrockneten Roanerbach, wo er sich an einem Stein die Stirne einschlug. Niemand hatte dies bemerkt. Die Burschen gingen nach Hause und schliefen ihren Rausch aus. Nun wurden die Bauernburschen als „Mörder“ verhaftet.
Der publizistische Hassfeldzug
Zwei Tage nach dem Leichenfund im Roanerbach gab eine römische Zeitung mit neofaschistischer Schlagseite, das „Giornale d’Italia“, das Zeichen zur Hetzjagd: Es sei Mord gewesen und zwar ein „politischer Mord … Die Gründe sind noch nicht bekannt, aber sie sind zweifellos in dem Klima des Hasses zu suchen, den die Vertreter einer Partei seit Jahren säen …“ Gemeint war damit die „Südtiroler Volkspartei“.
Wenige Tage später wusste es die italienische Wochenillustrierte „Oggi“ ganz genau:
„Dies ist ein grausames sinnloses Verbrechen, geboren aus dem Hassfeldzug, der von einigen Exponenten der örtlichen Minderheit geführt wurde. Der Mord an dem jungen Beamten stellt das letzte und blutige Glied in einer Kette von Übergriffen und Gewalttaten dar.“
Ein politischer Mord also! Die gesamte Südtiroler Volksgruppe und ihre Führung als angebliche Anstifterin eines hinterhältigen und grausamen Verbrechens, zitiert vor die Schranken der italienischen Nation.
Bereits die ersten Ermittlungen wurden so geführt, daß sie eine spätere Mordanklage rechtfertigen sollten. Daher wurden die Burschen so lange geschlagen, bis sie die von dem Staatsanwalt Dell’Antonio gefertigten Protokolle, deren Inhalt sie nicht verstanden, unterschrieben hatten. Diese Protokolle enthielten jedoch „Geständnisse“, die zur Grundlage der Verurteilung der Burschen wurde.
Schwere Misshandlungen bei den Verhören
Den Angeklagten half es gar nichts, daß sie aussagten, bei den Verhören geschlagen und zur Unterschrift der Protokolle erpresst worden zu sein. Die des Italienischen nicht mächtigen Angeklagten konnten zudem den Aussagen der Zeugen und der Beweisführung der Ankläger nicht folgen.
Luis Ebner erklärte, von dem Gerichtsvorsitzenden auf Widersprüche zu seinen Aussagen vor den Carabinieri aufmerksam gemacht:
„Vor den Carabinieri habe ich nicht mehr gewusst, was ich sage, so sehr haben sie mich geschlagen.“
(„Dolomiten“, 14. 9. 1957)
Schuldspruch als „Mutprobe“ der Geschworenen
Der Staatsanwalt Mario Martin forderte für sechs Angeklagte lebenslängliches Zuchthaus, für einen Angeklagten 20 Jahre und nur ein Angeklagter solle aus „Mangel an Beweisen“ freigehen. Falqui sei geradezu „gelyncht“ worden. Dieser Staatsanwalt rief den Geschworenen und den Richtern zu: „Ich verlange von euch Richtern eine Mutprobe! Euer Schuldspruch stimme überein mit dem Gefühl des Volkes, von dem ihr delegiert worden seid.“
Noch ungeheuerlicher äußerten sich die Vertreter der Privatanklage. Sie nannten die Angeklagten „Hyänen“, „Bestien“ und „hündische Meute“. Alle Bewohner des „finsteren und zurückgebliebenen Südtiroler Tales Pfunders“ hätten, politisch von der einheimischen Presse verhetzt, im sardischen Finanzer Falqui „den Bringer des Fortschritts und der Kultur“ gehasst und mit Mordlust verfolgt.
„Lumpen, Verbrecher, Hyänen“
Der Nebenkläger Dr. Dadea nannte die Bauernburschen „Ränkeschmiede mit dem finsteren Blick des Verbrechers, abgefeimte Delinquenten unter der Maske der Naivität, halbe Kannibalen, Wegelagerer und Mörder … Acht Lumpen, acht Verbrecher, acht Hyänen haben barbarisch gemordet!“, rief er in den Gerichtssaal.
Das Urteil erster Instanz wurde am 16. Juli 1957 gesprochen. Es lautete:
Als des Mordes schuldig erhielten: Alois Ebner 24 Jahre Kerker, Florian Weissteiner 16 Jahre Kerker, Georg Knollseisen 16 Jahre Kerker, Paul Unterkircher l0 Jahre Kerker, Bernhard Ebner 16 Jahre Kerker, Isidor Unterkircher 16 Jahre Kerker, Johann Huber, der nachweislich nicht einmal am Raufhandel beteiligt war und für den selbst der Staatsanwalt Freispruch beantragt hatte: 13 Jahre Kerker. Insgesamt 113 Jahre Kerker.
Entsetzen in Tirol
Das Urteil rief in ganz Tirol Entsetzen hervor. Am 1. April 1958 ruhte in ganz Nordtirol von 10 Uhr bis 10.05 Uhr alle Arbeit zu einem Gedenken an die Pfunderer Burschen. Landeshauptmann Dr. Tschiggfrey, erklärte während dieser Gedenkminuten über den Rundfunk:
„In diesen Augenblicken ruht die Arbeit in Stadt und Land. In Häusern und Fabrikhallen schweigt der Lärm. Das Tiroler Volk denkt, von tiefstem Leid erfasst, an jene sechs jungen Bauernsöhne eines entlegenen Südtiroler Bergdorfes, deren Leben durch einen Richterspruch ganz oder teilweise vernichtet wird.“
Staatsanwalt Mario Martin: „Ich würde es heute wieder tun!“
Der Gründer des BAS, Sepp Kerschbaumer, begab sich nach Pfunders und hielt in dem dortigen Pfarrhof einen 15tägigen Hungerstreik ab. In einem Flugblatt erklärte er: „In ihrem blinden Nationalismus haben sich die Welschen gerade durch dieses Hassurteil selbst den größten Schaden zugefügt.“ (Zitiert nach: Josef Fontana / Hans Mayr: „Sepp Kerschbaumer“, Bozen 2000, S. 75)
Am 16. Januar 1960 bestätigte der italienische Kassationsgerichtshof das unglaubliche Urteil gegen die Pfunderer. (Über den gesamten Prozess siehe: Armand Mergen: „Der Pfunderer Prozess“, Schriften des Bergisel-Bundes Nr. 1, Innsbruck 1958; sowie N.N.: Justiz in Südtirol“, Sonderdruck der Österreichischen Liga für Menschenrechte, Sektion Tirol, Innsbruck 1958)
In ohnmächtigem Zorn schrieb Sepp Kerschbaumer in einem neuerlichen Flugblatt:
„Wir waren solche Justizverbrechen bei allen Gewaltsystemen, beim Kommunismus, beim Faschismus und Nationalsozialismus und bei den Kolonialmächten gewohnt. Aber daß wir diese Schande auch unter einer sogenannten christlichen Regierung erleben müssen, verschlägt einem die Stimme.“ (Zitiert nach: Josef Fontana / Hans Mayr: a. a. O., S. 77)
Der Staatsanwalt Mario Martin blieb auch späterhin stolz auf seine damalige Rolle. Als er im Jahre 1961 den BAS-Chef Sepp Kerschbaumer aus Frangart verhörte und dieser auf die Rolle des Staatsanwaltes im Pfunderer Prozess zu sprechen kam, fuhr Martin auf und rief: „Das war ich. Ich habe lebenslänglich verlangt. Und ich würde es heute wieder tun.“ (Zitiert nach: Josef Fontana / Hans Mayr: „Sepp Kerschbaumer“, Bozen 2000, S. 75)
Der Fall Pupp
Am 20. November 1961 stand der 22jährige Sohn des Südtiroler Landtagsabgeordneten Ferdinand Pupp vor dem 1. Bozner Schwurgericht. Er erhielt eine Kerkerstrafe von 10 Monaten, weil er in angeheitertem Zustand in einem Bozner Gasthaus unvorsichtigerweise ausgerufen hatte:
„Wir sind hier nicht in Italien, sondern in Südtirol – Österreich!“
Unzählig waren die laufenden Verurteilungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wegen Schmähung der Fahne, der Streitkräfte, der Nation usw., usw….
Für einen Leserbrief ins Gefängnis
Am 3. September 1962 hatte die Wiener Tageszeitung „Die Presse“ einen Leserbrief von Frau Rosa Ebner aus Mühlen, der Schwester eines inhaftierten und schwer gefolterten Südtiroler Freiheitskämpfers, veröffentlicht, in welchem es hieß:
„Denn bei Gott, wir selber haben keinen Grund zur Zuversicht. Es sei denn, wir freuten uns an dem, was sich nach den Sprengstoffanschlägen in den Gefängnissen von Bozen und Eppan abgespielt hat: an den Folterungen und daß zwei daran gestorben sind, an den zu Krüppeln Geschlagenen …“
Der Untersuchungsrichter Mario Martin vernahm Rosa Ebner und fragte sie, ob sie bereit sei, den Inhalt des Leserbriefes zurück zu nehmen. Sie verneinte. Mario Martin steckte die Frau dafür in Untersuchungshaft und klagte sie nach einem alten Politparagraphen aus dem faschistischen „Codice Rocco“ wegen „antinationaler Tätigkeit im Ausland“ an. Die Strafandrohung sah Kerker „nicht unter 5 Jahren“ dafür vor. Das Gericht sprach sie jedoch frei. (Der Schandparagraph wurde erst im Jahre 2006 abgeschafft!)
Die italienische Justiz und die Südtiroler Freiheitskämpfer – Es ging um die Vernichtung der „Staatsfeinde“
In diesem Geist handelte auch der ehemalige Faschist Mario Martin, dem von der Justiz die Aufgabe anvertraut worden, als Untersuchungsrichter die Prozesse gegen die Südtiroler Freiheitskämpfer vorzubereiten. Am 2. Februar 1963 lief er zu seiner Höchstform auf, als er das Untersuchungsurteil zum ersten großen Mailänder Südtirolprozess vorlegte, der 1964 dann in Mailand über die Bühne gehen sollte.
Insgesamt handelte es sich um 94 Angeklagte – 87 Südtiroler, 6 Österreicher und 1 Deutschen. Davon befanden sich 68 in Haft, die anderen galten als „flüchtig“ und wurden in Anwesenheit angeklagt.
Die konzipierte Vernichtung der Angeklagten
Eine Besonderheit des in den Sechzigerjahren noch gültigen faschistischen Strafrechtes war, dass die Strafen einfach addiert wurden, wenn ein- und dieselbe Tathandlungen gegen mehrere Paragraphen des Strafgesetzbuches verstieß. Der faschistische „Codice Rocco“ verfügte über eine ganze Reihe von politischen Gummi-Paragraphen, die jeweils auf einen Tatbestand gleichzeitig angewendet werden konnten. Das ergab entsetzlich hohe Strafandrohungen, aber schließlich war der „Codice Rocco“ ja dazu konzipiert worden, die Feinde des faschistischen Staates vor Gericht vernichten zu können.
Der Untersuchungsrichter Mario Martin war zur völligen Vernichtung der Angeklagten im Mailänder Südtirolprozess entschlossen.
In seinem Untersuchungsurteil verfügte er, dass gegen 84 der 94 Angeklagten vor Gericht wegen Mordes vorgegangen werde. Anlass zu dieser Ungeheuerlichkeit war der Unfalltod des italienischen Straßenwärters Giovanni Postal in der Feuernacht des 11. Juni 1961 gewesen, der tragischer Weise als unerfahrener Laie versucht hatte, eine nicht detonierte Sprengladung in der Salurner Klause eigenmächtig zu entschärfen, statt die Carabinieri zu alarmieren und auf das professionelle Entschärfungskommando zu warten.
Nun sollten für die Unüberlegtheit und den Leichtsinn des Strassenwärters Postal nahezu alle Angeklagten wegen „Mordes“ jeweils zu einer Haftstrafe zwischen 21 Jahren und Lebenslänglich verurteilt werden.
Ein Menschenrecht wurde zum Staatsverbrechen erklärt
Doch damit noch nicht genug: Mario Martin wollte sicher gehen, dass so gut wie alle Angeklagten tatsächlich eine lebenslange Haftstrafe erhielten und verfügte in seinem Untersuchungsurteil, dass gegen 85 von ihnen wegen Artikel 241 des Hochverratsparagraphen des faschistischen „Codice Penale“ („Anschlag auf die Unversehrtheit, Unabhängigkeit oder Einheit des Staates“) vorgegangen werde. Strafmaß: Lebenslänglich.
Er begründete dies damit, dass die Angeklagten die Selbstbestimmung für Südtirol hätten herbeiführen wollen. Mario Martin stellte damit etwas unter lebenslängliche Strafandrohung, was seit dem Beitritt Italiens zu den Vereinten Nationen zu dem auch von Italien anerkannten menschenrechtlichen Bestand des Völkerrechtes gehört.
Dazu kamen noch weitere Paragraphen wie jener der „politischen Verschwörung“, des Sprengstoffbesitzes, und dann natürlich jene, die sich auf die Anschläge selbst bezogen.
Untersuchungsrichter Mario Martin und Staatsanwalt Mauro Gresti: Erfolterte Geständnisse sind gültig!
Keinesfalls sollte die gnadenlose Verurteilung der Angeklagten daran scheitern, dass ihre Geständnisse unter der Folter zustande gekommen waren. Deshalb schrieb Mario Martin in sein Untersuchungsurteil folgende Ungeheuerlichkeit hinein:
„Die Geständnisse vor der Polizei dürfen nicht annulliert werden, nur weil behauptet wird, sie seien durch Folter abgenötigt worden … auf jeden Fall hat der Untersuchungsrichter persönlich keinerlei Anzeichen von eventuellen Misshandlungen an den Häftlingen bemerkt.“
(Dr. Sandro Canestrini: „Die Herz-Jesu-Nacht 1961 – Justiz und öffentliche Meinung in Italien“, in: Schützenkompanie „Sepp Kerschbaumer“ Eppan (Hrsg.): „…grüß mir die Heimat, die ich mehr als mein Leben geliebt“ Erinnerungsschrift zum 30. Todestag von Sepp Kerschbaumer und Luis Amplatz, Eppan 1994, S. 29)
Im Mailänder Prozess vertrat dann der Staatsanwalt Mauro Gresti ebenfalls den Standpunkt, dass selbst unter Folter erpresste Geständnisse durchaus inhaltlich richtig und daher auch gültig sein könnten. Man könne „trotz Misshandlungen die Wahrheit sagen“, argumentierte er und verwies darauf, dass sich in der gültigen Strafprozessordung (Anm.: die ebenso wie der „Codice Penale“ aus der Faschistenzeit stammte) keine Bestimmung finde, solche erzwungenen Geständnisse nicht als Beweismittel würdigen zu können.
Ein politischer Wandel rettete die Südtiroler Häftlinge vor einem juristischen Massaker
Nach dem Willen des Untersuchungsrichters Mario Martin hätte der Mailänder Prozess zu einem wahren juristischen Massaker mit der Verhängung nahezu durchwegs lebenslanger und zusätzlicher jahrelanger Haftstrafen werden sollen.
Was die Angeklagten vor diesem Schicksal rettete, war der politische Umschwung im Dezember 1963, als der Christdemokrat Aldo Moro eine politisch gemäßigte Mitte-Links-Koalitionsregierung mit dem Sozialdemokraten Giuseppe Saragat als Außenminister bildete. Dieses Kabinett war an einer Verhandlungslösung in der Südtirolfrage interessiert.
Das hatte eine direkte Auswirkung auf das Verfahren in Mailand. Der Historiker Hans Karl Peterlini berichtet:
„Von Saragat ergeht ein gezielter Wink an Richter Simonetti, die Verhandlung möglichst fair und entschärfend zu führen. So teilt Saragats Kabinettschef, der Gesandte Franco Maria Malfatti, dem österreichischen Botschafter Max Löwenthal mit, man habe Simonetti wissen lassen, ‚dass die Regierung an milden Urteilen politisch interessiert sei.‘“
(Hans Karl Peterlini: „Südtiroler Bombenjahre“, Bozen 2005, S. 216)
Das von Mario Martin vorbereitete juristische Massaker an den Angeklagten war in Rom nun nicht mehr erwünscht.
Während des Prozesses verzichtete schließlich der Staatsanwalt Mauro Gresti auf den Hochverratsparagraphen Art. 241 und auf die Mordanklage.
Am 16. Juli 1964 wurden die Urteile verkündet. Sie waren immer noch hart genug und ergaben zusammengezählt rund ein halbes Jahrtausend an Haftjahren. Der Hauptangeklagte Sepp Kerschbaumer erhielt 15 Jahre und 11 Monate. Erst die Verhandlungen über das Autonomiepaket des Jahres 1969 führten zur Entlassung der letzten Gefangenen.
Wie Vertreter des Staates in den Südtirol-Prozessen argumentierten
Stellvertretend für zahlreiche weitere Äußerungen von Staatsadvokaten und Staatsanwälten sei hier wiedergegeben, wie der italienische Staatsadvokat Paolo Di Tarsia am 15. März 1966 im 2. Mailänder Südtirol-Prozess in seinem Schlussplädoyer argumentiert hatte. Darüber berichteten die „Südtiroler Nachrichten“ wie folgt:
„Das Verlangen der Südtiroler nach einer Autonomie bezeichnete Di Tarsia z. B. als ‚irrtümliche Interpretation der Position einer Minderheit‘. Nach der Menschenrechtskonvention gebe es nur einen Schutz für Individuen, das Verlangen nach einem Schutz der Minoritätengruppe sei weder durch das italienische, noch durch das internationale Recht gedeckt, behauptete er.
Es sei undenkbar, dass Italien im ‚Alto Adige‘ (Südtirol) eine teutonische nationale Reservation errichte. Als ebenso undenkbar bezeichnete er die Forderungen der Südtiroler nach einem Stopp der italienischen Unterwanderung. Diese Forderung zu erheben, sei ‚illegal‘.“
Ein berühmter Strafrechtslehrer stellte die italienische Rechtsordnung an den Pranger
Gegen derartige Positionen nahm der berühmte italienische Strafrechtslehrer, Universitätsprofessor Pietro Nuvolone, klar und deutlich Stellung. Im Januar 1966 fand er in einem weiteren Mailänder Schwurgerichtsprozess, vor dem sich 58 angeklagte Südtiroler verantworten mußten, in seiner Eigenschaft als Verteidiger offene und mutige Worte. Prof. Nuvolone sagte, daß die Anklage nach einem Gesetz, welches nach Herkunft und Inhalt als faschistisch zu klassifizieren ist, und welches in Widerspruch zu den nach 1945 in internationalen Verträgen verankerten Menschenrechten steht, verfassungswidrig sei. Das Gericht schloß sich dieser Ansicht jedoch nicht an und urteilte nach den alten Mussolini-Paragraphen.
Noch 1987: Handschellen und Haft für die Forderung nach Selbstbestimmung
Der faschistische Kodex blieb weiterhin in Kraft und eifrige Staatsanwälte in Bozen, Mailand und Rom legen ihn als Meßlatte für die Strafbarkeit öffentlicher Äußerungen über Fragen der Selbstbestimmung und der Föderalisierung des Staates an. Am 7. August 1987 berichtete die Bozener Tageszeitung „Alto Adige“ über die Verhaftung von 15 Mitgliedern des Südtiroler Heimatbundes, die anläßlich der KSZE-Konferenz in Wien öffentlich für die Selbstbestimmung demonstriert hatten: „Handschellen für 15 Heimatbund-Mitglieder“. Das italienische Nationalistenblatt hatte damals eine kurze liberale Phase und befand: „Die politische Konfrontation braucht keine faschistischen Normen“. Der Haftbefehl war nämlich wegen „antinationaler Aktivitäten im Ausland“ ergangen, einem guten, alten faschistischen Paragraphen aus dem Rocco-Kodex.
Wenngleich das Verfahren in der Folge eingestellt werden mußte, blieb der faschistische „codice penale“ doch weiter in Geltung und wurde erst im Jahre 2005 teilweise entschärft.