Marion Dotter/ Stefan Wedrak: „Der hohe Preis des Friedens. Die Geschichte der Teilung Tirols 1918 – 1922“; 2. Auflage Innsbruck 2019 (€ 25,41); ISBN (Athesia) 978-88-6839-360-1; Das Buch ist beispielsweise hier (Österreich) und hier (Südtirol) zu beziehen.
Seit 100 Jahren ist das Land Tirol geteilt. Die Behauptung der eigenen Identität trotz Jahrzehnte langer Unterdrückung unter Anwendung von Kolonialmethoden ist eine herausragende Leistung. Die Erringung einer Autonomie Südtirols in wichtigen Teilen der Gesetzgebung und Verwaltung hat jedoch viele Opfer gekostet. Es die Geschichte einer mutigen Selbstbehauptung.
Nach dem Willen der italienischen Besatzer des Jahres 1918 und der Machthaber in den folgenden Jahren hätte die Entwicklung wohl anders verlaufen sollen.
Von den Verlagen ATHESIA in Bozen und Tyrolia in Innsbruck gemeinsam herausgegeben, ist ein fachlich herausragendes und spannend geschriebenes Geschichtswerk über die Teilung Tirols in den Jahren 1918 bis 1922 erschienen.
In diesem Buch wird der Leser anhand von Zeitzeugenberichten und Dokumenten in ein dramatisches Geschehen einbezogen, über welches er sich sein eigenes Urteil zu bilden vermag.
Georg Dattenböck hat als Historiker nachstehende Buchbesprechung verfasst:
Auf 344 Seiten, ausgestattet mit 6 Karten, 136 vielfach bislang unbekannten Fotos, einem Personen- und Ortsregister, sowie 12 Seiten Literaturhinweisen, wird dem Leser von zwei jungen Historikern als „Ableger unserer Arbeit am Forschungsprojekt ‚Die rechtliche Bedeutung des Vertrages von St. Germain‘“, ein gelungenes und sehr berührendes Buch über die Teilung des Landes Tirol präsentiert. Es zeichnet sich auch dadurch aus, daß die Autoren ihre Forschungen in den diversen Archiven selbst durchführten und zusätzlich erstklassige Berater hatten. Die Autoren konnten einen „Sammelaufruf realisieren, um noch im Privatbesitz vorhandene persönliche Quellen zur Teilung Tirols ausfindig zu machen und für kommende Generationen zu konservieren“, was dankbar begrüßt werden muss!
Der Inhalt beschreibt die Vorgänge der Jahre 1918 bis 1922, als Politiker wie Woodrow Wilson, die uralte Einheit Tirols zerschlugen, neues Unrecht und ein Chaos schufen. Das Buch ist unterteilt in folgende Kapitel:
- Das Kriegsende in Tirol 1918
- Die Besetzung Nordtirols durch Bayern und Italiener
- Die Militärverwaltung von Südtirol 1918/1919
- Die Pariser Friedenskonferenz und Tirol
- Die Politik in Deutschösterreich und die Teilung Tirols 1919
- Ein Land wird geteilt – die Arbeit des österreichisch-italienischen Grenzregelungsausschusses in Tirol
- Die zivile Verwaltung Südtirol unter Luigi Credaro
- Die wirtschaftliche Entwicklung Gesamttirols in der Nachkriegszeit
- Der italienische Faschismus in Südtirol bis 1922
- Ausblick: Faschistische Machtübernahme und die Konsequenzen für Südtirol
In diesen Kapiteln wird das bis zum heutigen Tag heftig nachwirkende, traumatische Geschehen der Annexion Südtirols aufbereitet. In ihrem Vorwort schreiben die Autoren u.a.:
„Am Beginn stand das Drama des Ersten Weltkrieges mit hunderttausenden Toten vor der Haustüre des Landes. Es folgten die Auflösung der k. u. k. Armee im Chaos und die schwierige italienische Besatzungszeit, welche im Norden vorübergehend, im Süden jedoch dauerhaft sein sollte.
Große Hoffnungen auf eine neue, als gerecht vorgestellte Weltordnung aus Übersee gingen unter, als die Ergebnisse der Friedenskonferenz in Paris bekannt wurden. Die Österreicher konnten nur mehr zähneknirschend akzeptieren, was im kleinen Zirkel der Friedensmacher entschieden worden war.
Die Brennergrenze wurde Wirklichkeit, mit größten Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft, aber vor allem auf das Leben der Tiroler nördlich und südlich davon. Während der Norden sich mehr oder weniger gut in die Erste Republik Österreichs einfügte, erlebten die Tiroler in Italien nach der Annexion 1920 den Aufstieg des Faschismus, der schon vor der Machtübernahme in Rom 1922 seine Schatten auf das Land warf.
Zur Teilung des Landes kam später noch die Unterdrückung. So spiegelt sich die von Anton Just geschilderte Gewalt in nahezu allen Teilen unserer Ausführungen wider: ob es nun die Gewalt der Sieger ist, die der jungen Republik Österreich den Frieden diktierten und auch in den Grenzkommissionen danach um jeden Meter des neuen Staatsgebietes kämpften, oder jene der Faschisten, die mit brutalen Worten und Taten das Gesetz in die eigene Hand nahmen. Ob es nun die Gewalt der Enttäuschten und Unzufriedenen war, die beispielsweise Grenzsteine zerstörten, Widerstand gegen die neuen Machthaber leisteten und den Anschluss an Deutschland wünschten, oder jene der Hungernden, die einen letzten Ausweg nur mehr in Diebstahl und Plünderungen sahen.“
Die in dem Vorwort auch geäußerte Meinung der Autoren, dass „Italien und Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Schwierigkeiten der Südtirolfrage letztlich überwunden haben“ und weiter, dass „man zu einer zufriedenstellenden, vernünftigen Lösung fand,“ wird vom Rezensenten bezweifelt! Angesichts der inzwischen dokumentierten Geheimpolitik der österreichischen Regierungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, hätte das Studium des Buches von Helmut Golowitsch: „Südtirol – Opfer für das westliche Bündnis. Wie sich die österreichische Politik ein unliebsames Problem vom Hals schaffte“ (Graz-Stuttgart 2017), den Autoren zu möglicherweise differenzierteren Schlussfolgerungen verholfen.
Im 1. Kapitel wird u.a. die strategische Lage Österreich-Ungarns im Herbst 1918, die katastrophale Ernährungslage der k. u. k.-Soldaten und das unsägliche Elend der Bevölkerung beschrieben. Mit Erschütterung liest man vom Ende des alten Österreich und seiner Armeen, vom Elend der heimwärts strebenden Soldaten und den Drangsalen, welchem die Bevölkerung Tirols dadurch ausgesetzt war.
„Es gab kaum mehr Nahrungsmittel: ‚Viele Tage sahen die Truppen keinen Bissen Fleisch, kein Gramm Fett. Früh und abends nur leerer, schwarzer Kaffee, mittags ein inhaltsloses Dörrgemüse, eine mit allerlei minderwertigen Ersatzmitteln gestreckte, der Menge nach ebenfalls unzulängliche Brotportion, hiezu bestenfalls etwas Käse oder Kürbis. Anderes frisches Gemüse war nur selten zu sehen‘. Eine solche Kost ließ die Soldaten mitunter bis zum Skelett abmagern. Von einer Division wird berichtet, dass die Männer durchschnittlich nur noch 50 Kilogramm wogen. (…) Briefe aus der Heimat berichteten dem Kämpfer an der Front zumeist nur von dem unerträglichen elend daheim: besonders Frauen und Kinder seien am Verhungern“.
Der „Sieg von Vittorio Veneto“
Der nach dem Scheitern der letzten Offensive an der Piave unausweichliche, allgemeine Zusammenbruch Österreich-Ungarns, wird sehr gut dargestellt. Hoch interessant ist der Bericht, warum in den letzten Stunden des Krieges noch einige hunderttausend k. u. k. Soldaten in italienische Kriegsgefangenschaft geraten konnten:
„Generalstabschef Arz teilte schon am 3. November um ein Uhr zwanzig früh den Armeekommandanten mit, dass die Waffenstillstandsbedingungen angenommen worden waren und die Feindseligkeiten unverzüglich einzustellen seien. Dies war freilich verfrüht, denn der Waffenstillstand war noch gar nicht von beiden Seiten unterzeichnet worden. Zwar verlangte der Kaiser aus diesem Grund von Arz kurz darauf, den Befehl zurückzunehmen, es war jedoch bereits zu spät: Die Heeresgruppe Tirol etwa protestierte, dass der Befehl schon weitergegeben war und nicht mehr zurückgenommen werden könne. Erst um drei Uhr Nachmittag am gleichen Tag unterzeichnete Weber in der Villa Giusti tatsächlich den Waffenstillstand. Zuvor hatten die Italiener allerdings noch eine Bestimmung eingefügt, der zufolge erst 24 Stunden nach Unterzeichnung das Feuer eingestellt werden sollte, weil es so lange dauere, alle Truppen vom Inkrafttreten der Waffenruhe zu verständigen. Damit gingen die Kampfhandlungen zumindest von Seiten der Alliierten noch weiter. Um an diesem letzten Tag so viel Gelände wie möglich zu gewinnen, stießen britische und italienische Patrouillen weit in das Gebiet hinter der ehemaligen Front vor und überholten dabei viele österreichisch-ungarische Soldaten, die keinen Widerstand mehr leisteten und sehr überrascht waren, dass sie plötzlich zu Kriegsgefangenen wurden. Insgesamt gerieten so rund 380.000 Soldaten der Monarchie in italienische Gefangenschaft. Die Italiener verkauften dies als den ‚Sieg von Vittorio Veneto‘, der von den Zeitgenossen und Historikern vielfach als betrügerische Finte belächelt wurde. In Wirklichkeit ist die Schuld an dieser Misere aber dem letzten k. u. k. Armeeoberkommando anzulasten, das während der Waffenstillstandsverhandlungen unüberlegt und hastig gehandelt und den Befehl zur Einstellung der Feindseligkeiten zu früh gegeben hatte.“
Italienische Truppen besetzen Tirol
Durch diesen raschen Zusammenbruch alarmiert, marschierten bayerische Truppen nach Tirol ein, „freundlich und erleichtert“ von der Bevölkerung empfangen. Bis zur alten Franzensfeste in Südtirol stießen die Bayern vor, mussten sich aber auf Grund der Lage rasch wieder zurückziehen.
Erste italienische Verbände kamen am 17. November 1918 nach Innsbruck. Die vorrückenden Italiener dachten sogar kurz daran, „das Deutsche Reich anzugreifen“.
„Die italienischen Offiziere und Soldaten verhielten sich größtenteils sehr respektvoll, höflich und diszipliniert, sodass die folgende zweijährige Besatzung in Nordtirol sehr friedlich ablief.“
Den italienischen Soldaten in Südtirol wurde aller Orten ein sehr kühler Empfang zuteil: „Trotz und Ablehnung der italienischen Präsenz“ standen auf der Tagesordnung, sogar die Angebote italienischer Offiziere, Lebensmittel zu spenden „wurde zum großen Staunen der Spender abgelehnt. (…) Der passive Widerstand gegen die Italiener wurde vom Klerus und der politischen Elite Südtirols getragen, welche sich um keinen Preis nach Rom orientieren wollten.“
Politische Versuche der Südtiroler Elite, an der Spitze Bozens Bürgermeister Julius v. Perathoner, in „Absprache mit Landeshauptmann Josef Schraffl“ am 4. November in Bozen einen „Provisorischen Nationalrat für Deutsch-Südtirol“ und am 16. November eine „Unteilbare Republik Südtirol“ zu gründen, wurden durch die Besatzungsmacht schnell unterbunden, Südtirol stand bis zur endgültigen Annexion 1920 unter Besatzungsrecht.
Dem Fanatiker Ettore Tolomei, dessen so verderbliches und hinterhältiges Wirken auch in verschiedenen Artikel im SID bereits behandelt wurde, wird in dieser Dokumentation auch die ihm gebührende Aufmerksamkeit gewidmet.
US-Präsident Woodrow Wilson war nicht der gerechte Heilsbringer
Im Zeitraum „zwischen der Ankunft des US-amerikanischen Präsidenten und der offiziellen Eröffnung der Friedenskonferenz fiel auch, unbemerkt von der Öffentlichkeit, die Entscheidung über die Teilung Tirols. Woodrow Wilson versprach den Italienern kurzerhand die Brennergrenze.“
Der US-Präsident hatte die „Teilung Tirols offenbar sehr schnell gegen seine augenscheinlichen Prinzipien entschieden…“. Wahrscheinlich war die „Unterredung zwischen Orlando, Sonnino und Wilson am 21. Dezember“ die Ursache der Tragödie.
Die Autoren arbeiten den gesamten Komplex der „Pariser Friedenskonferenz“ und aller Vorgänge bis zur Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain, bis zur offiziellen Annexion Südtirols am 10.10.1920 sehr gut heraus und dokumentieren den Größenwahn und Chauvinismus italienischer Politik auch in Bezug betreff der Grenzforderungen gegenüber den Slawen.
Ein Land wird geteilt
Der österreichisch-italienische „Grenzregelungsausschuss“ und dessen Arbeit ist weitestgehend der Öffentlichkeit nicht bekannt. Hier griffen die Autoren auf Akten im Österreichischen Staatsarchiv zurück und dokumentieren mit fünf Karten und vielen Fotos den Bericht über die Entstehung der neuen Grenze. Jene für diesen Ausschuss abgestellten österreichischen Beamten litten schwer unter der Grenzziehung zwischen Nord- und Südtirol, wie dieser Bericht zeigt:
„Im Großen und Ganzen hielt sich der italienische Unterkommissär strenge an die Wasserscheide, die an nicht klaren Punkten – speziell an den ersten Tagen – fast meterweise abgepflockt wurde und erst, als ich auf die Kompliziertheit und Gekünsteltheit einer solchen in keinem Dokument zu verzeichnenden Staatsgrenze hinwies, ferner, dass eine solche Art sicherlich nicht in der Absicht des Vertrages, der eine natürliche Grenze sucht, lag, (…) hatte sich der ital. Unterkommissär (…) zu ganz wenig toleranter Anschauung bekannt“.
Der Versuch des Ethnozids
Das siebte Kapitel: „Die zivile Verwaltung Südtirols unter Luigi Credaro“ ist für den Leser sehr erhellend und löst auch heute noch Erschütterung aus. In seiner Antrittsrede im Juli 1919 vor Südtiroler Politikern sagte der von Rom als Generalzivilkommissar für Südtirol eingesetzte Luigi Credaro, der vorher auch Abgeordneter und vier Jahre lang italienischer Unterrichtsminister war, u.a.:
„Die Zimelien und Kunstschätze, die ihr Österreicher über die Jahrhunderte Italien geraubt habt, kehren dieser Tage über den Brenner zurück und nehmen ihre Stelle in unseren Bibliotheken und in unseren Museen ein. Nun müsst ihr uns auch die entnationalisierten Italiener und Ladiner wiedergeben. In dieser Hinsicht werde ich immer euer Gegner sein.“
Für Credaro bildete die Schule „das zentrale Werkzeug zur Festigung der Italianität (…). Dementsprechend hatte er bereits im Sommer 1919 die Gemeinden dazu aufgefordert, im ganzen Land Räumlichkeiten für die Einrichtung italienischer Schulen bereitzustellen (…).
Credaros Bemühen um Schüler für den italienischsprachigen Unterricht blieb erfolglos.
Die Zeitung ‚Der Tiroler‘ spottete noch im März 1920: ‚Es wurden Gebäude requiriert (angefordert) zu Schulzwecken usw. Eines aber war nicht zu requirieren, was zu einer Schule unbedingt gehört: Die Kinder. Die kamen nicht. Sie kamen nicht trotz Versprechungen von allerlei Sachen, die man ihnen geben wollte, sie kamen nicht trotz der Drohungen, die gegen sie und ihre Eltern ausgestoßen wurden. Und so blieben die italienischen Schulräume leer und Lehrer und Lehrerin konnten spazieren gehen‘. Um seinem Anliegen größeren Nachdruck zu verleihen, versuchte das Generalzivilkommissariat daraufhin, den italienischen Sprachunterricht als Pflichtfach zumindest in den Volksschulen des Unterlandes zwischen Salurn und Bozen zu verankern. Dem geschlossenen Widerstand der Südtiroler Gemeindevertreter und Politiker musste allerdings auch dieses Projekt weitgehend weichen (…).
Um den zivilen Ungehorsam der Menschen zu unterbinden, wurde (…) der zwingende Besuch italienischssprachiger Bildungseinrichtungen gesetzlich vorgeschrieben. (…) Hinzu kam, daß die Eltern keinerlei Mitspracherecht bei ihrer ethnischen Zuordnung hatten, also ob sie sich als ‚Italiener‘ oder ‚Tiroler fühlten. Die Entscheidung, welcher Gruppe eine Familie angehörte und welche Schule dementsprechend auch ihre Nachkommen besuchen durften, wurde von einer eigens begründeten Kommission des Zivilkommissariates getroffen, die die Befragung der Schüler vornahm und dabei wenig zimperlich vorging. (…)
Was die Eltern der Kinder sagten, war den Abgesandten des Generalzivilkommissariates vollkommen gleichgültig. Sie beschränkten sich vielmehr in einer Reihe von Fällen darauf, den Kindern, nachdem ihre Eltern fortgeschickt waren, italienische Fragen zu stellen, ob sie Schokolade, Orangen, Zuckerln bekommen hätten und wenn ein Kind […] mit seinem Kopf nickte, weil doch in ganz Europa jedes Kind versteht, was Schokolade und was Orangen sind, so wurde es kurzerhand als Italienisch erklärt und der italienischen Schule zugewiesen.“
Der Rezensent sieht in diesem Bericht über die mit Heimtücke und Gewalt versuchte Umformung der Südtiroler, vor allem der Kindern zu Italienern, dem Verbot und der massiven Behinderung des Gebrauchs der Muttersprache, verbunden mit der zwangsweisen Einführung des Italienischen als Amtssprache, in der planmäßig durchgeführten Umbenennungen aller ladinischen und deutschen Ortsnamen durch die Besatzungsmacht, den staatlichen Versuch eines Ethnozids – eines kulturellen Völkermords.
Die Autoren berichten an Hand von Vorfällen, dass unliebsame Lehrer, Beamte, Richter, Eisenbahnangestellte, wegen „anti-italienischem Verhalten“ entlassen und aus dem Land gewiesen wurden.
Der Widerstand der Politik und der Kirche in Südtirol nahm immer mehr zu
In dem Bericht heißt es weiter:
„Der in einer deutschen Sprachinsel Welschtirols geborene ehemalige Kaiserjäger, Eduard Reut-Nicolussi, der in den Österreichischen Nationalrat nach Wien entsandt wurde, mußte 1927 mit seiner Familie nach Innsbruck flüchten. Er verfasste die bekannte Schrift „Tirol unterm Beil“ und „hatte als einer der wenigen das Gespräch mit der Sozialdemokratie gesucht und war stets entschieden gegen die Faschisten aufgetreten“.
Der Unbeugsame trat ebenso gegen das spätere NS-System und gegen jenes zwischen den ideologischen Freunden Hitler und Mussolini ausgehandelte „Optionsabkommen“ auf, welches die Südtiroler vor die grausame Wahl stellte: im Land bleiben und Italiener werden oder auswandern.
Die damalige Amtskirche, Bischof und alle Pfarrer, standen geschlossen im Widerstand auf Seite des Tiroler Volkes. Sogar Ordensfrauen traten in den Widerstand und Kommissar Credaro empfand dies als „hinterlistige Form des Kampfes gegen den Staat und machte sich für eine Anklage gegen alle Beteiligten stark.“
Die „Herz-Jesu-Feuer“, die bereits bei ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert den Tiroler Widerstand gegen eine fremde Herrschaft symbolisiert hatten, wurden ab 1920 wieder zum nicht übersehbaren, friedlichen Protest eingesetzt:
„Credaro erkannte darin aber die deutliche politische Absicht und antiitalienische Botschaft. Er ergriff daher sofort ‚Sicherheitsmaßnahmen‘, die vor allem in Bozen zu großangelegten Straßensperren und einem hohen Polizei- sowie Militäraufkommen führten. (…) In Tramin und Branzoll untersagten die italienischen Beamten die Bergfeuer, die Beflaggung und das Böllerschießen und forderten sogar Verzichterklärungen der zuständigen deutschsprachigen Gemeindevertreter sowie des Pfarrers, was diese aber verweigerten.“
Credaro sah, daß „der Geist des Widerstandes und der Rebellion vor allem vom deutschsprachigen Klerus kultiviert werde. Tatsächlich war die Kirche auch in Zukunft im Dienst der Südtiroler Politik und der nationalen Einheit des Landes aktiv.“
Kirchliche Prozessionen und sogar Gottesdienste wurden von Soldaten gestürmt, das Mittragen uralter Kirchenfahnen bei Prozessionen untersagt. In Bozen löste das
Militär mit Waffen in der Hand eine große Kundgebung der Tiroler auf.
„Beamtenwillkür, Hausdurchsuchungen, ungerechtfertigte Verhaftungen – bis hin zu brutalen Gewalttaten der Carabinieri und Soldaten gegen die Bevölkerung – waren keine Seltenheit und beschäftigten regelmäßig die Zeitungen.“
Nur die italienischen Sozialisten stimmten gegen eine Annexion Südtirols
Im August 1920 kam es in Rom zu jener denkwürdigen Parlamentssitzung, „die sich erstmals intensiv der Provinz widmete.“ In dieser Sitzung wurde „die Einverleibung durch Abstimmung beschlossen. Weitgehend geschlossen gegen diesen Schritt sprachen sich lediglich die italienischen Sozialisten aus, da eine ‚Berufung auf strategische Sicherheit‘ in keiner Weise die Annexion einer deutschen Bevölkerung und eines mit deutschen Traditionen erfüllten Landes begründen würde. ‚Österreich kann ja keine Gefahr mehr für Italien bilden‘. Sie forderten daher eine Volksabstimmung, konnten sich gegen die nationalistischen Kräfte aber nicht durchsetzen.“
(In diesem Kontext sei daran erinnert, daß es der sozialistische Außenminister (und spätere österr. Bundeskanzler) Dr. Bruno Kreisky war, der gegen starken Widerstand der ÖVP-Führung in Wien (aber nicht jener der Tiroler ÖVP) die kochende Südtirol-Frage 1959 vor die UNO-Vollversammlung brachte und damit erste Voraussetzungen zu ernsthafteren Verhandlungen über eine Art von Autonomie schuf. )
Einen Tag nach der Abstimmung im römischen Parlament „veranstaltete das offizielle Italien für den Anschluss der neuen Provinz eine Siegesfeier in Trient, zu der auch die Südtiroler Bürgermeister eingeladen waren“. Bozens Bürgermeister Perathoner lehnte die Einladung, wie auch seine Amtskollegen, „als ‚Zumutung‘ und ‚Frozzelei‘ ab: ‚Es ist ein altes deutsches Sprichwort. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu Sorgen. Nichts anderes als Spott ist es aber, wenn euer Hochwohlgeboren mich einladen, an einem Fest teilzunehmen, welches der Feier jenes Gewaltfriedens von St. Germain dient, durch welchen die Stadt Bozen […] losgetrennt und einem fremden Staatswesen einverleibt wurde“.
Es war auch Perathoner, der beim Besuch des italienischen Königs im Herbst 1921 für einen Skandal sorgte, weil er den König auf dem Bahnhof in Bozen in deutscher Sprache begrüßte und in seiner Ansprache „die herrschenden Zustände bemängelte. (…) Ohne den Bahnhof zu verlassen, um die Stadt zu besichtigen, reiste der Hofstaat über Klausen und Brixen bis zum Benner, wo, wie danach auch am Reschen, ein Grenzstein enthüllt wurde.“
Die Bürgermeister Südtirols wurden zur verpflichtenden Eidleistung auf den König und das Königreich Italien gezwungen. Bürgermeister Alois Hölzl aus Obermais sorgte für große Aufregung in Trient und Rom, als er erklärte, „daß ich diese Eidleistung lediglich als Erfüllung einer Formalität in ihre Hände abgelegt habe, nicht aber etwa als Ausfluss eines frohen inneren Gefühles […). Ein Liebe zu Ihrem Reich und Ihrer Regierung können Sie nicht verlangen“. Der italienische Generalkommissar für Südtirol, Luigi Credaro „fand aber einige Monate später einen Vorwand, um den Gemeinderat seines Amtes zu entheben“.
Hunger, Not, Aufruhr, Plünderungen und Diebstahl
Das achte Kapitel gibt einen umfassenden Einblick in „die wirtschaftliche Entwicklung Gesamttirols in der Nachkriegszeit“. Die Hungersnot und das allgemeine Elend unmittelbar nach dem Krieg waren groß.
In Südtirol „war die Ernährungssituation durch italienische Hilfe seit dem Kriegsende besser als jene nördlich des Brenners. Obwohl die Südtiroler Gemeinden die Spenden aus dem Königreich zum Teil ablehnten, war den Italienern bewusst, dass sie durch eine rasche Verbesserung der Versorgung die Akzeptanz der Besatzung in der Bevölkerung erhöhen und eine wirtschaftliche Verbindung zu der neuen Provinz aufbauen konnten“.
Die Autoren stellen fest, dass „die Teilung Tirols nicht nur das politische und geografische Gesicht des Landes, sondern auch den Tiroler Wirtschaftsstandort veränderte. (…)
Während sich im österreichischen Teil Tirols eine Erleichterung der prekären Lage nur zaghaft durchsetzen konnte, war Südtirol unter italienischer Mithilfe ein schnellerer Aufschwung beschieden. Eine ‚italienische Unterwanderung‘ der Wirtschaft ist erst in der Zeit des Faschismus erkennbar“.
Terror und Faschismus in Südtirol
In den letzten beiden Kapiteln werden der Faschismus und die Machtübernahme der Faschisten in Südtirol, wieder gut bebildert, abgehandelt. Am 16. Februar 1921 „trafen sich etwa 150 Männer – vor allem eine repräsentative Delegation aus Trient – im ehemaligen Restaurant ‚Kaiserkrone‘, um den sizilianischen Diplomkaufmann Attilio Crupi zum politischen Sekretär der Verbindung zu wählen. (…) Die Entstehung einer Bozner Faschistengruppe wurde demnach vor allem von der Trienter Fraktion gefördert, aber auch von Mussolini selbst gutgeheißen. In seiner Stellungnahme im ‚Popolo d’Italia‘, mit der er auf die Gründung der neuen Außenstelle reagierte, übergab er dem neuen Fascio die Pflicht, die Italianität am Brenner zu sichern und zu verteidigen. Die Südtiroler Faschisten verlangten zum Schutz der Italiener in der Provinz die Entfernung aller öffentlichen österreichisch-ungarischen Zeichen, die Auflösung des Deutschen Verbandes sowie der deutschsprachigen Bozner Stadtwache und die Entlassung aller italienfeindlichen Politiker und des Generalzivilkommissars Credaro. Weiters sollten Italiener bei der Besetzung von öffentlichen und privaten Ämtern bevorzugt, gesetzliche Höchstpreise eingeführt und die deutschen Banken liquidiert werden. Für den Kampf zur Durchsetzung dieser Forderungen entstanden bis in den Sommer 1922 noch fünf weitere Faschistenorganisationen (…).“
Die Autoren berichten ausführlich über die Vorgeschichte und Ablauf des „Bozner Blutsonntags“ am 24. April 1921, wo Faschistenhorden, zusammengekarrt aus Mailand, Brescia, Padua, Venedig, Trient und Bologna mit Knüppeln, Totschlägern, Revolvern und Handgranaten, einen Trachtenfestzug überfielen:
„Etwa fünfzig Tiroler trugen teils schwere Schussverletzungen und Knochenbrüche davon. (…) In diesem Chaos ereignete sich auch die Ermordung Franz Innerhofers“, der einen kleinen Knaben in der Tracht der Burggräfler retten wollte. „Kein Faschist wurde wegen des Tumults auf dem Obstmarkt oder des Mordes an Innerhofer angeklagt, obgleich sich mehrere Schwarzhemden rühmten, den Lehrer erschossen zu haben. Auch Mussolini brüstete sich in dem Artikel ‚Auf unsere Art‘ mit der Störaktion und setzte noch hinzu: ‚Wenn die Deutschen verprügelt und zerstampft werden müssen, um Vernunft anzunehmen, wohlan, wir sind bereit. Viele Italiener sind auf das Geschäft trainiert.“
Titelseiten deutscher Bozener Tageszeitungen, die später verboten wurden. (Diese beiden Faksimiles stammen aus dem Archiv des SID, alle anderen Bilder aus dem rezensierten Werk.)
Diesem „Blutsonntag“ folgten noch sehr viele weitere Terrorakte in Südtirol, wie die Autoren ausführlich dokumentieren. Der faschistische „Marsch auf Bozen“, „der von Mussolini selbst gelenkt wurde“, war wohl eine Art von Generalprobe seines Marsches auf Rom.
Die Autoren zitieren am Ende den Bozner Arzt, Sebastian Weberitsch, der zwei Jahre nach diesem Marsch zur Auswanderung nach Österreich gezwungen wurde. Weberitsch resümierte „resignierend das Erlebte: ‚Nun kamen traurige Tage für Bozen: der Einmarsch der Faschisten. Ich erlasse es mir, sie zu beschrieben. Dem deutschsprachigen Volk in Südtirol wurde seine Sprache genommen, und damit ist alles gesagt‘“.
Man kann allen Lesern des SID dieses erstklassig recherchierte Geschichtsbuch über die ersten Jahre der Teilung Tirols unbedingt zum Kauf empfehlen, es hat sich die weiteste Verbreitung verdient! Den beiden Autoren, aber auch den Verlagen Athesia und Tyrolia ist Dank für die Herausgabe dieses wertvollen Werkes zu sagen!