Autonomie auf tönernen Füßen

In vielen Jahrhunderten haben die deutschen und ladinischen Südtiroler eine blühende Kulturlandschaft geschaffen.

Erschrecktes Erwachen: Die Autonomie könnte in Gefahr geraten

Auch nach einhundert Jahren Landesteilung haben die Südtiroler ihre Identität bewahrt. Allerdings hat sich im Laufe der Jahrzehnte die im Jahr 1945 als Selbstbestimmungspartei gegründete „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) zu einer staatstreuen Systempartei gewandelt, welche einträgliche Pfründen zu verteilen hat.

Der Öffentlichkeit wurde in Bezug auf die unter großen Opfern errungene Autonomie verschwiegen, dass diese rechtlich nur mangelhaft abgesichert ist und dass die SVP daran wesentliche Mitschuld trägt. Stattdessen wird der Öffentlichkeit das Südtiroler Autonomiestatut als weltweit anzuwendende vorbildliche Lösung von Autonomiefragen verkauft.

Dass die Südtiroler Autonomie jedoch nicht stabil ist, sondern auf tönernen Füßen ruht, wurde der Südtiroler Öffentlichkeit wieder in Erinnerung gerufen, als im Verfassungsausschuss des Parlaments in Rom eine Verfassungsreform konzipiert wurde, mit welcher die Anzahl der Südtiroler Senatoren von 3 auf 2 verringert werden sollte.

Als der Verfassungsausschuss-Berichterstatter und Lega-Senator Roberto Calderoli von der „Radio Televisione Italiana“ (RAI) gefragt wurde, ob mit einer solchen Verfassungsreform nicht das „Pariser Abkommen“ von 1946 über die Südtirol-Autonomie verletzt würde, erklärte dieser: „Sie können mir nicht sagen, dass ein Vertrag, der 1948 (Anm.: tatsächlich war es 1946) in Paris abgeschlossen wurde, für alle Zeiten Gültigkeit besitze. Wenn die Verfassung abgeändert wird, gelten die Regeln für alle.“

Diese und ähnliche Wortmeldungen von anderen italienischen Politikern zeigen, dass es in der italienischen Politik einen breiten Konsens darüber gibt, dass die Südtirol-Autonomie eine inneritalienische Angelegenheit sei und von Italien einseitig abgeändert werden könne.

Rückblick in die geschichtliche Entwicklung

Ein trauriges Jubiläum

Im vergangenen Jahr 2018 musste man in Tirol der mittlerweile 100 Jahre andauernden Landesteilung gedenken.

Das mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich verbündete Italien war 1915 seinen eigenen Bundesgenossen in den Rücken gefallen und an der Seite der Entente-Mächte in den Krieg eingetreten.

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs begann die ausgeblutete österreichisch-ungarische Monarchie in einzelne Nationalstaaten zu zerfallen und musste einen Waffenstillstand mit Italien eingehen, der am 4. November 1918 in Kraft trat und einer Kapitulation gleichkam. Die italienischen Truppen konnten nun kampflos Südtirol bis zum Brenner besetzen. Südtirol als versprochene Kriegsbeute geriet nun unter italienische Herrschaft.

November 1918: Italienisches Militär vor dem Waltherdenkmal in Bozen
Im verelendeten und hungernden Österreich musste man die Abtrennung Südtirols ohnmächtig zur Kenntnis nehmen. Diese Darstellung auf einem Notgeldschein der Nordtiroler Gemeinde Jochberg zeigt, welche Gefühle die Menschen bewegten.
Bereits unmittelbar nach der Besetzung Südtirols – noch vor der Machtergreifung des Faschismus – hatten Maßnahmen zur Beseitigung der deutschen Identität und Kultur eingesetzt. Dieses Bild aus dem Jahre 1919 zeigt, wie die Ortschaft Algund bei Meran mittels eines neuen Ortsschildes auf den erfundenen Namen „Lagundo“ umgetauft wurde.
Auf Postkarten demonstrierten die italienischen Postbeamten mittels eines Stempelaufdruckes, dass aus Südtirol nun „Alto Adige“ geworden war, welches zu „Italia“ gehörte.

Hitler und Mussolini: Der Versuch der „Endlösung“ der störenden Südtirol-Frage

Der Faschismus hatte sodann die kulturelle Auslöschung der Deutschen und Ladiner Südtirols zum politischen Programm erhoben und Hitler hatte zusammen mit seinem Freund Mussolini die Südtiroler durch die aufgezwungene „Option“ von 1939 vor eine schreckliche Wahl gestellt: Entweder in der Heimat verbleiben und dabei auf die eigene Sprache, Kultur und das Volkstum zu verzichten – oder die Heimat zu verlassen, um die eigene Identität bewahren zu können.

Die Kriegsereignisse hatten die endgültige Durchführung dieses perfiden Plans verhindert. Das „demokratische“ Italien, in welchem nach 1945 nach wie vor ehemals führende Faschisten das Sagen hatten, erschwerte dennoch durch zahlreiche Schikanen wie Verweigerung von Arbeitsplätzen und Wohnraum die Rückkehr der rund 75.000 bereits ausgesiedelten Optanten, sodass bis zu Beginn der 1950er Jahre nur rund 25.000 zurückkehren konnten.

Dieses von Rafael Thaler gestaltete Fassadenbild findet sich in Pradl bei Innsbruck in einer Wohnanlage umgesiedelter Südtiroler, welchen der Weg zurück in die alte Heimat versperrt blieb.

Der Pariser Vertrag und das betrügerische Autonomiestatut von 1948

Mit dem Kriegsende im Jahre 1945 war der Leidensweg der Südtiroler keineswegs zu Ende. Den Tirolern wurde die Aufhebung der Landesteilung verweigert. Unter dem Druck der westlichen Alliierten hatte der österreichische Außenminister Karl Gruber 1946 ohne Zustimmung des Österreichischen Nationalrates zusammen mit seinem italienischen Amtskollegen Degasperi den „Pariser Vertrag“ unterzeichnet gehabt, der nur rund 40 Maschinschreibzeilen lang, unpräzise und schwammig formuliert ist.

Darin war Südtirol in sehr allgemeinen Formulierungen eine Autonomie versprochen worden.

Mit dem ersten Autonomiestatut von 1948 wurde eine gemeinsame Autonomie für die Großregion Trentino-Südtirol eingerichtet, in welcher die Südtiroler in der Minderheit waren. Mit diesem Trick wurde das zum Schutze der Südtiroler gedachte Instrument der Autonomie in ein Instrument zu ihrer Beherrschung umgewandelt. Der Provinz Bozen wurde lediglich eine unbedeutende Subautonomie zuerkannt.

Die Fortführung der faschistischen Politik

Rom führte nun die faschistische Politik des „Ethnozid“, der kulturellen Zerstörung der Volksgruppe, weiterhin unter Anwendung alter faschistischer Gesetze entschlossen fort. Erneut wurde die staatlich geförderte Zuwanderung aus dem Süden in Gang gesetzt. Das Ziel war, die Südtiroler in ihrer eigenen Heimat zu einer entrechteten Minderheit zu machen.

Am 28. Oktober 1953 wies der „Dolomiten“-Chefredakteur und Herausgeber Kanonikus Michael Gamper in einem Leitartikel auf den „Todesmarsch“ hin, auf welchem sich die Südtiroler befanden.

Auch der Nordtiroler Landeshauptmann Alois Gauß rüttelte seine Landsleute in einem Interview mit der Tiroler Tageszeitung mit dem Hinweis auf den „Todesmarsch“ der Volksgruppe auf.

Trotz aller Proteste wurde die faschistische Politik weitergeführt, die Südtiroler in ihrem eigenen Land zur Minderheit zu machen.

Die Tageszeitung „Dolomiten“ zeigte diese dramatische Entwicklung am 5. Mai 1956 in einem großen Artikel auf.

Südländische Neuankömmlinge in Bozen

Für die südländischen Neuankömmlinge in Bozen wurde die von Mussolini gegründete Industriezone  in Bozen weiter ausgebaut und es wurden für sie große Wohnanlagen erreichtet, deren Bezug der einheimischen Bevölkerung verweigert wurde.

Die Bozener Industriezone bot den Neuankömmlingen Arbeitsplätze

Zunächst landeten die Zuwanderer aus dem Süden in Notunterkünften, hinter denen aber schon die neuen Wohnsiedlungen entstanden, welche sie aufnehmen sollten.

Am 16. Oktober 1957 veröffentlichte die Tageszeitung „Dolomiten“ einen wahren Notschrei und stellte fest, dass das Deutschtum in der Stadt Bozen bereits völlig abgewürgt sei.

Durch zahlreiche Repressionen sollten die Südtiroler willenlos gemacht werden. Schützentrachten wurden als verbotene „Uniformen“ eingestuft, Tiroler Fahnen wurden verboten und es wurde sogar eine Frau verurteilt, die ihre Fensterläden in den traditionellen Farben rot-weiß hatte streichen lassen.

Auf dem gesamttiroler Landesfestzug in Innsbruck trugen Südtiroler Schützen 1959 eine eiserne Dornenkrone als Zeichen des Schmerzes über die Landesteilung und die andauernde Unterdrückung.

Die unter großen Opfern errungene Autonomielösung von 1969

Das weitere Geschehen ist bekannt. 1961 kam es zu Widerstandshandlungen, vor allem in Form von Sprengstoffanschlägen gegen Strommasten, die bis 1969 andauerten. Rom antwortete mit gnadenloser Härte. Es kam zu Massenverhaftungen und gnadenlosen Folterungen in den Carabinieri-Kasernen.

Menschen wurden zu Krüppeln geschlagen und zwei Südtiroler, Franz Höfler und Anton Gostner, starben an den Folgen der Folter. Über inhaftierte Freiheitskämpfern wurden in Schauprozessen hunderte Jahre Kerker verhängt.

Am Ende musste Rom doch nachgeben und einer verbesserten Autonomielösung zustimmen, dem Autonomie-„Paket“ von 1969. Am 22.11.1969 nahm die 4. außerordentliche Landesversammlung der Südtiroler Volkspartei (SVP) mit knapper Mehrheit (52 % gegen 48 %) das neue Autonomie-„Paket“ an. Nach einer späteren Aussage von Landeshauptmann Magnago hatten die gegen Sachwerte und nicht Menschen gerichteten Widerstandshandlungen maßgeblich zu der Erlangung dieser Autonomie beigetragen.

Es ist eine unglaubliche Leistung, dass das „halsstarrige Volk“ in dieser Zeit trotz aller Unterdrückungen, Verfolgungen und Betrügereien die heutige Autonomie hatte erkämpfen können.

Es war den Südtirolern gelungen, das Bewusstsein der eigenen Identität aufrecht zu erhalten und das Streben nach Wiedererlangung der Landeseinheit nicht aus den Augen zu verlieren.

Das neue Autonomiestatut und die eingebauten Pferdefüße

Am 31. August 1972 setzte der italienische Staatspräsident das neue „Sonderstatut für Trentino-Südtirol“ in Kraft. Die italienischen Verfassungsjuristen hatten in das Statut sorgsam Pferdefüße eingebaut.

Der Artikel 1 des Statuts hielt und hält bis heute das Zwangskorsett der gemeinsamen Region Trentino-Südtirol aufrecht, innerhalb derer Südtirol eine Subautonomie besitzt. In diesem Artikel wurde auch die politische Einheit „der einen und unteilbaren Republik Italien“ bekräftig, womit jegliches Streben nach Selbstbestimmung als verfassungsfeindlich qualifiziert wird.

Nicht aufgehoben wurde auch die Zerreißung der ladinischen Volksgruppe und ihre Aufteilung auf drei Provinzen.

Nicht abgeschafft wurden die von den Faschisten aufgezwungenen erfundenen italienischen Ortsnamen. Sie blieben die amtlichen Namen, die deutschen und ladinischen Namen sind nur geduldet.

Für die weitere Entwicklung der Südtiroler Subautonomie innerhalb der Region war und ist bis heute vor allem das Zwangskorsett des Artikels 4 bedeutsam, in welchem es heißt:

„Die Region ist befugt, in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Grundsätzen der Rechtsordnung des Staates, unter Achtung der internationalen Verpflichtungen und der nationalen Interessen – in welchen jenes des Schutzes der örtlichen sprachlichen Minderheiten inbegriffen ist – sowie der grundlegenden Bestimmungen der wirtschaftlich-sozialen Reformen der Republik Gesetzesbestimmungen … zu erlassen“.

Wie sich in den kommenden Jahren herausstellen sollte, waren diese wohl bewusst nicht näher definierten Klauseln die Hebel, welche die römischen Zentralisten gegen die Autonomie einsetzen konnten. Sie gaben dem Staat die Möglichkeit, Landesgesetze zurückzuweisen und im Falle eines Beharrungsbeschlusses durch den Landtag vor dem zentralistisch ausgerichteten Verfassungsgerichtshof anfechten zu lassen.

Der Verzicht auf eine international-rechtliche „Paket“-Verankerung

Das Autonomie-„Paket“ selbst wurde schrittweise im Rahmen eines zwischen Italien und Österreich vereinbarten „Operationskalenders“  umgesetzt.

Es war jedoch keine klare rechtliche Absicherung das „Pakets“ erfolgt. Die italienische Regierung hatte Österreich hier von Anfang an erpresst und die italienische Zustimmung zu dem österreichischen Beitritt in die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) davon abhängig gemacht, dass Wien widerstandslos den Wünschen Roms entsprach. Die Österreichische Volkspartei (ÖVP), welche am 6. April 1966 bei den österreichischen Nationalratswahlen die absolute Mehrheit errungen hatte, beugte sich diesem Druck.

Ungeachtet aller Warnungen von Experten beschlossen die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP gegen die Stimmen der Freiheitlichen im Österreichischen Nationalrat am 5. Juni 1992, dass Österreich nun mit einer Schlusserklärung den offenen Streit für beendet erklären solle.

Am 9. Juni 1988 ratifizierte der Österreichische Nationalrat zudem den von der Bundesregierung vorgelegten IGH-Vertrag. Damit wurde lediglich der 1946 geschlossene mangelhafte „Pariser Vertrag“ vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) einklagbar gemacht, nicht jedoch das Autonomiepaket selbst.

Die Streitbeendigungserklärung

Am 11. Juni 1992 übergab der österreichische Außenminister Dr. Alois Mock (ÖVP) dem italienischen Botschafter Quaroni die Schlusserklärung für den bisherigen Streitfall. In der Note hieß es, dass „die Beilegung der Streitigkeit ohne Präjudiz für die jeweiligen Rechtsstandpunkte der beiden Seiten“ erfolge.

Der österreichische Außenminister Alois Mock zog den Schlussstrich unter das Autonomie-„Paket“ – ohne dessen vertraglich-rechtliche Absicherung

Am 19. Juni 1992 wurde diese Erklärung den Vereinten Nationen übermittelt. Damit war der vor den Vereinten Nationen seit 1960 anhängig gewesene Streit nun beendet.

Italien hatte seinen Rechtsstandpunkt nicht aufgeben müssen, wonach Paketmaßnahmen innerstaatliche und Österreich gegenüber völkerrechtlich nicht verbindliche Rechtsakte darstellen. Österreich hatte in der Frage der rechtlichen Absicherung der Südtirol-Autonomie kapituliert. Wien hatte sich damit die Zustimmung Italiens für den österreichischen Beitritt zum gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum erkauft.

Die Kapitulation der SVP-Landesversammlung

Am 30. Mai 1992 erklärte die Landesversammlung der „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) unter dem vereinten Druck Roms und Wiens, dass das Autonomie-„Paket“ nunmehr durch staatliche Gesetze und Durchführungsbestimmungen verwirklicht sei. Dieser Prozess hatte 20 Jahre gedauert und war von gleichzeitigen Autonomie-Aushöhlungen begleitet gewesen. Über die nach wie vor fehlende international-rechtliche Absicherung sah die Landesversammlung hinweg.

Der Parteiobmann Dr. Riz hatte zuvor erklärt:

„Der Eintritt Österreichs in die EG steht kurz bevor. Es ist nicht denkbar, daß wir unter diesen Perspektiven nein sagen und den Streit alleine und nur auf uns gestellt, offen halten. Wir würden durch ein solch einseitiges Verhalten in eine totale Sackgasse und Isolierung geraten. Auch Österreich würde uns nicht mehr verstehen“. (Südtiroler Volkspartei, 7. Außerordentliche Landesversammlung Samstag, 30. Mai 1992, Meran. Bericht des Parteiobmannes Sen. Dr. Roland Riz. Vervielfältigtes Manuskript.)

Kritik an der mangelhaften „Paket“-Absicherung

In der Nationalratsdebatte des 9. Juni 1988 hatte der freiheitliche Südtirolsprecher Dr. Siegfried Dillersberger vergebens davor vor einem endgültigen Abschluss gewarnt, bevor nicht auf dem Verhandlungswege mit Italien eine eindeutige Einklagbarkeit des Paketes vor dem IGH sichergestellt sei. Italien stehe bekanntlich auf dem Rechtsstandpunkt, daß das zum Großteil Paket aus freiwilligen Mehrleistungen Italiens bestehe, die weit über die Erfüllung des Pariser Vertrages hinausgingen und somit nicht einklagbar seien.

Der FPÖ-Nationalratsabgeordnete und Südtirolsprecher Dr. Siegfried Dillersberger (im weißen Hemd) bei einer Beratung mit den Südtiroler Landtagsabgeordneten Dr. Alfons Benedikter (1. von links), Dr. Eva Klotz (Tochter des legendären Freiheitskämpfers Georg Klotz, 2. von links) und Gerold Meraner (rechts).

In einem Gutachten des Völkerrechtsbüros im Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten hieß es dazu: „Aus heutiger Sicht erscheint es unmöglich, die in einem derartigen zukünftigen Streit eingenommenen Rechtspositionen und die Entscheidung des IGH in einem allfälligen Verfahren abzuschätzen. (Völkerrechtsbüro 25. Februar 1988; Zl. 1140.01/141-I.2.a/88; Südtirol; völkerrechtliche Konsequenzen des Abschlusses des Operationskalenders – IGH-Vertrag und österreichische Schlusserklärung)

In einem Gutachten für die österreichische Bundesregierung über die rechtliche Absicherung des Autonomie-„Paketes“ hatte der Universitätsprofessor für Zivilrecht Franz Matscher am 1. Mai 1992 erklärt, dass Italien seinen Rechtsstandpunkt nicht aufgegeben habe, wonach „die Paketmaßnahmen innerstaatliche, Österreich gegenüber völkerrechtlich nicht verbindliche Rechtsakte“ darstellten.

Eine erfolgreiche Einklagbarkeit von Paketmaßnahmen vor dem IGH sei nun davon abhängig, daß der Nachweis gelinge, daß verletzte Autonomiebestimmungen aus dem Pariser Vertrag ableitbar und zu dessen Erfüllung auch notwendig seien. Bei den Fällen unmittelbarer Ableitbarkeit aus dem Pariser Vertrag dürften dieser Nachweis und damit der Erfolg relativ leicht, bei den Fällen mittelbarer Ableitbarkeit schwierig und bei den Fällen entfernter Ableitbarkeit eher zu verneinen sein.

Das System der Autonomieaushöhlungen

Im Nachkriegs-Italien hat die Tradition eines starken Zentralstaates überlebt. So heißt es auch heute in der geltenden Fassung des Artikel 117 der Staatsverfassung:

„Staat und Regionen üben unter Wahrung der Verfassung sowie der aus der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen die Gesetzgebungsbefugnis aus.“

Unter Bezug darauf kann der Staat die Autonomien der Regionen und Provinzen begrenzen, in diese eingreifen und Gesetzesvorlagen zurückverweisen.

Am 22. April 1992 wurde im römischen Außenamt dem österreichischen Botschafter eine Auflistung der Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut übergeben. Darunter befand sich auch ein Dekret über eine neu erfundene staatliche „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB), welche somit zu einem Bestandteil des Autonomie-Pakets erklärt wurde.

Laufende Eingriffe in die Südtirol-Autonomie

Bereits vor Abgabe der Streitbeendigungserklärung hatte  der italienische Staat begonnen, laufend in die Südtiroler Autonomie einzugreifen. Am 20.April 1991 veröffentlichte der Südtiroler Völkerrechtsexperte und spätere SVP-Kammerabgeordnete und Senator DDr. Karl Zeller in den „Dolomiten“ einen Artikel unter dem Titel „Staatsinteresse gegen die Autonomie“. In diesem erklärte er: „Die römischen Zentralorgane haben seit Beginn der Siebzigerjahre eine Vielzahl von Instrumenten entwickelt, um mit Berufung auf ‚nationale Interessen‘ in die autonomen Kompetenzen einzugreifen … so dass heute ein nahezu lückenlos ausgebautes System der Autonomieaushöhlung besteht.“ Bislang habe der Verfassungsgerichtshof in 46 Urteilen diese Vorgangsweisen bestätigt.

Diese Karikatur aus der Zeitschrift „Der Tiroler“ (Jg. 1988) zeigte die Durchlöcherung des Autonomie-„Pakets“ durch den italienischen Staat auf.

Pläne für eine endgültige Autonomie-Beseitigung

2008 sorgte eine Ankündigung des designierten italienischen Außenminister Franco Frattini in einem italienischen Wirtschaftsblatt für Aufsehen:

„Man muss und kann das Südtiroler Statut im europäischen Sinne revidieren. Die EU sieht keine auf ethnischer Basis gegründeten regionalen Gebiete vor.“ (Zitiert nach: Tiroler Tageszeitung, 25. April 2008)

Am 8. Februar 2009 verkündete der italienische Minister für die öffentliche Verwaltung, Renato Brunetta, in einem Interview für die Zeitung „Il Gazzettino“, daß die autonomen Regionen mit Sonderstatuten bald der Vergangenheit angehören würden.

Im Zuge der italienischen Verfassungsreform müsste den „Sonderzugeständnissen“, welche vor 60 Jahren einigen Regionen gewährt wurden, ein Ende bereitet werden.

Mitte Februar 2009 erklärte der italienische Außenminister Franco Frattini in einem Interview, dass die SVP anachronistische Haltungen vertrete, „die fern jeder Realität sind“. „Die Privilegien für Südtirol müssen der Vergangenheit angehören“, betonte der Außenminister.

Wie die Bozner Tageszeitung „Dolomiten“ vom 26. August 2009 meldete, hatte der italienische Regionenminister Calderoli im Zuge einer bevorstehenden italienischen Verfassungsreform eine „Angleichung“ der Südtirolautonomie an die Regionen ohne Autonomiestatut angekündigt. Vor allem sollte die Südtirolautonomie massiv finanziell beschnitten werden. Solche Raubzüge Roms setzten in der Folge auch tatsächlich ein und konnten nur zum Teil rechtlich abgewehrt werden.

Italienischer Botschafter verlangt Aufgabe der österreichischen Schutzmachtrolle für Südtirol

 Ende November 2009 erschien der italienische Botschafter im Österreichischen Parlament und überreichte den Südtirol-Sprechern der FPÖ (Abg. Werner Neubauer) und der ÖVP (Abg. Gahr) eine Note der italienischen Regierung. Darin wurden Einwände gegen die vorgeschlagene Aufnahme der Schutzmachtrolle Österreichs für Südtirol in die österreichische Bundesverfassung sowie gegen die geplante Gewährung der österreichischen Staatsbürgerschaft für Südtiroler erhoben.

Der österreichische Nationalratsabgeordnete und FPÖ-Südtirolsprecher Werner Neubauer

Namens der FPÖ wies Neubauer diese italienische Einmischung in österreichische Verfassungsfragen zurück.

2016 – Der gescheiterte massive Angriff auf die Autonomie

Am 20. Jänner 2016 kam es nach einer endlosen Serie kleinerer Angriffe auf die Südtirol-Autonomie zu einem dramatischen Paukenschlag. Der Senat der Republik Italien genehmigte nun nach der Abgeordnetenkammer eine zentralistische Verfassungsreform, welche für die Sonderautonomien von Regionen und Provinzen gefährlich werden sollte. Eine sogenannte „Schutzklausel“ sollte diesen nämlich nur temporären Schutz bis zu einer Anpassung an die neue zentralistische Staatsordnung gewähren. Das letzte Wort sollte bei Streitfällen der bekannt zentralistisch orientierte Verfassungsgerichtshof in Rom haben.

Der italienische Premierminister Matteo Renzi hatte wohl in Verkennung der Stimmungslage das Verfassungsprojekt einer gesamtitalienischen Volksabstimmung unterworfen, welche am 4. Dezember 2016 mit einer klaren Niederlage für die Regierung endete und diesen Generalangriff auf den Föderalismus und die Autonomien vorläufig auf die Müllhalde warf.

Titelseite der „Dolomiten“ vom 6. Dezember 2016

Gerettet wurde diesmal die Südtiroler Autonomie nicht durch eine international-rechtliche Absicherung und auch nicht durch eine starke Schutzmachtrolle der Republik Österreich. Sie wurde durch die Mehrheit der italienischen Stimmberechtigten gerettet, welche keinen übermächtigen Zentralstaat installieren wollten.

Wer Italien und die dort herrschenden Interessensrichtungen kennt, weiß jedoch, dass dies nicht der letzte Versuch zur Schaffung eines autonomiefeindlichen zentralistischen Systems gewesen sein wird.

Die berechtigte Scheu vor dem IGH und die pragmatische Politik des ständigen Kuhhandels

Rom geht bei Autonomie-Aushöhlungen jeweils bis knapp an die Schmerzgrenze in Südtirol und Österreich, wobei in Wien angesichts der schlechten rechtlichen Absicherung der Südtirol-Autonomie die Bereitschaft, sich einen Rechtsstreit vor dem „Internationalen Gerichtshof“ (IGH) einzulassen, nur eine geringe ist.

Die Gefahr, eine solche Klage bereits formalrechtlich zu verlieren, war und ist zu groß. Eine österreichische Niederlage vor dem IGH hätte den italienischen Eingriffen in die Autonomie erst richtig Tür und Tor geöffnet.

Südtirols Politiker sind in der laufenden praktischen Auseinandersetzung mit Rom eingebunden in ein System intensiver Verflechtungen und Kooperationszwänge.

Mit dem neuen Autonomie-Paket war ein höchst kompliziertes Konstrukt geschaffen worden, welches dem Staat bis heute zahlreiche Auslegungs- und Eingriffsmöglichkeiten und dem italienischen Verfassungsgerichtshof ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten bietet.

Um Schlimmes zu verhindern, müssen die parlamentarischen Vertreter der Südtiroler in Rom eine ständige Politik des Kuhhandels betreiben, in welchem die Regierung die Stimmen der Südtiroler Parlamentarier mit Zugeständnissen erkauft.

Der Südtiroler Jurist, Völkerrechtsexperte, SVP-Kammerabgeordnete und Senator Dr. Karl Zeller hat dies am 9. April 2018 in einem launigen Interview mit der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“ beschrieben:

„Wir halten es wie Franz Beckenbauer, der sagte: Schau’n mer mal! Was willst du in diesem römischen Chaos auch anderes tun? Für uns ist das keine besonders angenehme Perspektive. … Wir bleiben immer offen für Gespräche. … In meinen 24 Jahren im Parlament hat es anfangs oft schlecht für uns ausgesehen, weil unsere Stimmen nicht ausschlaggebend waren. … Doch durch unsere gute Arbeit und dank des Sympathiefaktors, den eine Minderheit hat, haben wir trotzdem immer möglichst viel für Südtirol herausgeholt.“

Ausblick auf die Zukunft

Die Südtirol-Autonomie steht letztlich auf tönernen Füßen und ist immer wieder substantiell gefährdet. Es ist daher kein Wunder, dass die deutschen Oppositionsparteien in Südtirol die Forderung nach Selbstbestimmung auf ihre Fahnen geschrieben haben und dass auch aus Kreisen der SVP der Regierung in Rom immer dann die Rute der Selbstbestimmung als Drohung in das Fenster gestellt wird, wenn neue Autonomie-Beschneidungen drohen.

Am 7. Juni 2006 veröffentlichten die „Dolomiten“ das Ergebnis einer Meinungsumfrage in Südtirol:

Jeder zweite Südtiroler ist für die Trennung Südtirols von Italien. Das hat eine Umfrage des Innsbrucker Institutes Soffi ergeben. Demnach sprechen sich 33,4 Prozent der Südtiroler für einen eigenen Staat aus, 21,2 Prozent wollen eine Wiedervereinigung mit Tirol.“

Unter der Bevölkerung wächst jedenfalls der Wille, sich von Rom zu trennen. Dies kommt auf zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen in Südtirol zum Ausdruck.

 

 Es ist auch kein Zufall, dass bei aller vorsichtigen Zurückhaltung des Südtiroler Landeshauptmannes Arno Kompatscher der Klub der Altmandatare der SVP mit Ex-Landeshauptmann Luis Durnwalder und Ex-Landesrat Bruno Hosp an der Spitze sich öffentlich dafür einsetzt, dass Österreich den Südtirolern die zusätzliche Staatsbürgerschaft ermöglichen möge, um auf diesem Weg die emotionale Verbundenheit mit dem Vaterland Österreich zu stärken.

Denn das letzte Wort ist auch nach einhundert Jahre Fremdherrschaft in Südtirol noch nicht gesprochen.

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