Welschtirol und der italienische Irredentismus (Teil 1)
Der Begriff „Irredenta“ bezeichnete eine politische Bewegung zur Schaffung eines italienischen Nationalstaates und der Angliederung aller von Italienern bewohnten Gebiete an diesen. „Terre irredente“ heißt auf Deutsch: „Unerlöste Gebiete“.
Diese Bewegung musste zwangsläufig zur Konfrontation mit Österreich, beziehungsweise „Österreich-Ungarn“ führen.
Teil I: Hinweis auf ein wichtiges Buch und die Geschichte des Irredentismus
von Georg Dattenböck
Im Jahre 1916 verfasste der Historiker Dr. Michael Mayr (Staatsarchivdirektor und Professor an der Universität Innsbruck) ein Standardwerk über den italienischen Irredentismus. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit waren die Verhältnisse in Tirol – in Welschtirol, welches heute den von den Faschisten verpassten Namen „Trentino“ trägt.
Dieses kritische Werk, welches durchaus auch die von der österreichischen Politik und Verwaltung begangenen Fehler behandelt, ist im Jahre 2010 in einer Neuauflage erschienen:
Dr. Michael Mayr: „Der italienische Irredentismus. Sein Entstehen und seine Entwicklung vornehmlich in Tirol“
Es ist es wert, dass man sich mit seinem Inhalt auseinander setzt.
Ein Wort zum Verfasser des Werkes
„Der italienische Irredentismus. Sein Entstehen und seine Entwicklung vornehmlich in Tirol“
Michael Mayr wurde am 10. April 1864 in Adlwang in Oberösterreich als Sohn eines Bauern geboren. Er besuchte das Gymnasium der Jesuiten in Linz, maturierte jedoch 1895 im Benediktinerstift in Kremsmünster. Anschließend studierte er Geschichte und Geographie an der Universität in Wien, absolvierte 1889-1891 das „Institut für Österreichische Geschichtsforschung“, war 1891 Stipendiat am „Österreichischen Historischen Institut in Rom“ (Erforschung der Nuntiaturberichte 1560-1572) und wurde 1890 promoviert.
Beamter, Historiker, Abgeordneter
Nach kurzer Tätigkeit im Archiv des k.u.k. Finanzministeriums war Mayr ab 1892 Beamter des Statthaltereiarchivs in Innsbruck und dessen Direktor von 1897 bis 1920.
Im Jahre 1900 wurde Mayr Professor für Neue Geschichte an der Universität Innsbruck.
Mayr war von seiner ursprünglichen politischen Einstellung her ein Liberaler, trat aber dann der „Christlichsozialen Partei“ bei. Er begann seine politische Laufbahn als Abgeordneter zum Reichstag in Wien von 1907 bis 1911, um anschließend von 1908 bis 1914 als Abgeordneter im Tiroler Landtag tätig zu werden. Mayr war 1918 auch Mitglied der „Konstituierenden Nationalversammlung“ Deutschösterreichs.
Als Gesandter Tirols verhandelte Mayr in der Schweiz 1918/19 mit Abgesandten der Siegermächte über eine eigene Republik oder einen Freistaat Tirol.
Um die Einheit Tirols zu wahren, verlangte Mayr damals in der Provisorischen Nationalversammlung mit anderen Abgeordneten das Recht Tirols auf Loslösung von Österreich.
Staatssekretär, Verfassungsrechtler und Staatskanzler
Der erste Staatskanzler der neu gegründeten Republik Deutschösterreich, Dr. Karl Renner, Mitglied der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs“ (SDAPÖ), berief Mayr zum Staatssekretär für die Arbeiten an einer gesamtösterreichischen Verfassung, die Mayr zusammen mit Hans Kelsen, einem der bedeutendsten Rechtsgelehrten, schuf.
Dr. Michael Mayr wurde am 7. Juli 1920 in Nachfolge von Dr. Karl Renner zweiter Staatskanzler bzw. ab 10. November 1920 erster Bundeskanzler Österreichs und ab 22. Oktober, als die Sozialdemokraten aus der Regierung austraten, wurde er zugleich auch Außenminister.
Am 20. November 1920 wurde die Bundesregierung Mayr II, eine Minderheitenregierung der Christlichsozialen mit Unterstützung der Großdeutschen gewählt.
Da sich die österreichische Regierung im Friedensvertrag von Saint-Germain im Jahr 1919 verpflichten mußte, Österreich von Deutschland unabhängig zu erhalten, trat Bundeskanzler Dr. Mayr wegen einer in der Steiermark beabsichtigten Abstimmung über einen Anschluss an das Deutsche Reich von seinem Amt zurück, führte jedoch die Geschäfte bis zur Angelobung der neuen Bundesregierung unter Bundeskanzler Johann Schober am 21. Juni 1921 weiter.
Dr. Michael Mayr starb an einem Herzinfarkt am 21. Mai 1922 in Waldneukirchen bei Steyr, nur 58 Jahre alt, beim Besuch am Hofe seiner Schwester.
Sein Geschichtswerk über den italienischen Irredentismus
Dieses sehr wichtige Buch berichtet über eine über 100jährige Vorgeschichte der Zerreißung Tirols im Jahre 1918. Ohne die Kenntnis dieser Vorgeschichte versteht man die italienische Begehrlichkeit auf Tirol und die erfolgte Aggression kaum. Wer die Tiroler Geschichte vor 1918 kennenlernen und vor allem wissen will, welche Kräfte die Fäden zur Zerstörung der Landeseinheit spannen, kann nicht umhin, Mayrs gründliche Analyse zu lesen. Es ist ein Werk, welches bereits 1916 um Jahrzehnte zu spät erschien und seine Wirkung nicht mehr entfalten konnte, wie man heute im Rückblick bedauernd festhalten muss.
In seinem Vorwort schrieb Mayr, daß
„die deutsche Geschichtsschreibung und die österreichische und deutsche Politik sich um das Wesen und die Entwicklung des italienischen Irredentismus in Österreich in seinem ganzen Zusammenhange bisher verhältnismäßig wenig gekümmert haben, obwohl er bereits die Kriege Italiens gegen Österreich in den Jahren 1848/49, 1859, 1866 und den Verrat Italiens an seinen Bundesgenossen im gegenwärtigen Weltkriege verursacht hat“.
Diese Gedanken sind aus der damaligen Notsituation mitten im Krieg verständlich. Im Abstand von 100 Jahren ist es jedoch auch geboten, die österreichische Politik sehr kritisch zu hinterfragen.
Dazu bitte ich den Leser, den nächsten Beitrag zu lesen!