„Autonomieregelungen haben sich an den Bedürfnissen der geschützten Minderheit – nicht jener des Staates – zu orientieren“
Als die Ausführungen des Botschafters Tichy öffentlich bekannt wurden, reagierten zahlreiche Kritiker aus den Bereichen der Wissenschaft und der Politik.
Der Abgeordnete zum Österreichischen Nationalrat und parlamentarische Südtirol-Sprecher der FPÖ, Werner Neubauer, sandte am 21. November 2016 nachstehende Presseaussendung aus:
Wien (OTS) – „Die Äußerungen des Leiters des Wiener Völkerrechtsbüros anlässlich einer Tagung am 17. November in Bozen lösen in Südtirol und in der Fachwelt allgemein Verwunderung aus und haben bereits zu heftiger Kritik geführt. Man muss sich fragen, wie es gelungen ist, in einen Satz so viele Fehler hineinzupacken. Botschafter Tichy hat mit seinen Ausführungen in Bozen die gesamte Südtirol-Politik der vergangenen Jahre brüskiert und sollte mit hanebüchener Uminterpretation des Begriffs Selbstbestimmung offenbar dafür sorgen, dass das unliebsame Thema ‚Südtirol‘ für das Außenministerium endlich ad acta gelegt wird. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass zum wiederholten Male durch einen willfährigen Beamten des Außenministeriums, die fälschliche Behauptung aufgestellt wurde, dass die Selbstbestimmung in Südtirol durch die Autonomie bereits erfüllt sei. Nach Minister Kurz ließ dies nun Professor Dr. Helmut Tichy anlässlich der Gedenkveranstaltung „70 Jahre Pariser Vertrag“ in Bozen verlauten, der das Völkerrechtsbüro im österreichischen Außenministerium leitet, aber ansonsten mit den Rechten der Völker offenbar nicht viel am Hut hat, zumindest nicht mit jenen in Südtirol“, kritisiert der freiheitliche Südtirolsprecher NAbg. Werner Neubauer.
„Wenn nun Tichy weiter behauptet, dass Selbstbestimmungsrecht nicht mit Sezessionsrecht verwechselt werden darf, dann darf ich den Herrn Professor aufklären, dass Selbstbestimmung in vielerlei Form ausgeübt werden kann. Eine davon ist auch die Sezession, sonst würde es beispielsweise den Kosovo, Slowenien oder Kroatien in der heutigen Form gar nicht geben“, sagte Neubauer.
Das müsste Botschafter Tichy, der immerhin in Graz über eine Praktiker-Professur im Völkerrecht verfügt, eigentlich wissen. Wenn die Haltung von Botschafter Tichy gegenüber einer Rückkehr Südtirols zu Österreich eine kritische sein sollte, dann muss er die Diskussion anders aufziehen und die Voraussetzungen für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts in Form einer Sezession problematisieren. Dann wäre er vielleicht – so wie die Fachwelt – zum Ergebnis gelangt, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, die verschiedenen Ausübungsmöglichkeiten dieses Rechts, stets von den konkreten Umständen abhängt, wobei die Staatsgrenzen letzthin stark an Bedeutung verloren haben.
„Wie kann der Herr Botschafter aber weiters behaupten, ein Selbstbestimmungsanspruch sei ‚durch eine Autonomie bereits für Südtirol erfüllt‘“? Selbstbestimmung ist – und auch das müsste er wissen – ein fortlaufender Prozess und niemals „erfüllt“. Selbst souveräne Staaten verfügen noch über ein Selbstbestimmungsrecht! Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist im Artikel 1 der UN-Menschenrechtspakte ganz klar definiert: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechtes entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ Dies trifft auf Südtirol eindeutig nicht zu. Die Südtirol-Autonomie war von Anbeginn eine Übergangslösung auf dem Weg zur Selbstbestimmung. Jetzt soll diese plötzlich durch die Autonomie erfüllt sein? „Wer hat denn „selbstbestimmt über den Zustand in Südtirol jemals autonom darüber abgestimmt?“, fragte Neubauer.
„Autonomieregelungen sind von ihrer Natur her dynamisch zu interpretieren und haben sich an den Bedürfnissen der geschützten Minderheit, und nicht jener des Staates, zu orientieren und sind entsprechend zu entwickeln“, so Neubauer, der ergänzte, dass dieser Umstand im Übrigen auch für die anstehende Volksabstimmung zur Verfassungsreform Italiens gelte!
„Es ist ungeheuerlich, dass sich ein Beamter des Ministeriums hier offenbar erdreistet, die Außenpolitik Österreichs bestimmen zu wollen. Es stellt sich weiter die Frage, ob er den österreichischen Landsleuten südlich des Brenners damit einen guten Dienst für das bevorstehende Verfassungsreferendum am 4. Dezember 2016 erwiesen hat. Mit der italienischen Verfassungsreform ist die Autonomie Südtirols nämlich schwer gefährdet, was hierzulande Herrn Prof. Tichy offenkundig nicht zu interessieren scheint. In dieser Situation ist es wichtiger denn je, die doppelte Staatsbürgerschaft anzustreben und beim Verfassungsreferendum mit einem klaren „Nein“ ein deutliches Signal auf alle diese negativen Entwicklungen zu setzen. Insgesamt Fragen über Fragen, die der Vertreter Österreichs mit seinem Auftritt in Bozen provoziert hat. Nun ist der Minister mit einer Klarstellung gefordert. Und es bleibt zu hoffen, dass die Vertreter der Republik das nächste Mal besser vorbereitet zu einer Tagung nach Südtirol fahren“, so Neubauer abschließend.
Südtirol-Autonomie in Zukunft nicht gesichert!
Landeshauptmann Dr. Arno Kompatscher (rechts im Bild) zusammen mit Österreichs Außenminister Kurz. Will Kompatscher die Schutzmachtrolle Österreichs in Rom opfern? Bild: wikimedia.org, Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (CC BY 2.0)
Österreichs diplomatischer Offenbarungseid
Die politische Bombe platzte am 29. Juni 2016 bei einem „briefing“ im Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres am Minoritenplatz in Wien.
Auf Drängen des Nationalratsabgeordneten und parlamentarischen FPÖ-Südtirol-Sprechers Werner Neubauer sowie der SPÖ waren die Mitglieder des parlamentarischen Südtirol-Unterausschusses in das Ministerium zu einer informativen Aussprache über die aktuelle Situation in Südtirol eingeladen worden.
Thema der Aussprache war vor allem die Frage, welche Auswirkungen die bevorstehende italienische Verfassungsreform auf die Südtirol-Autonomie haben werde. Diese Verfassungsreform, die eine Abwendung vom Föderalismus und eine Rückkehr zur zentralistischen Ordnung bedeutet, liegt derzeit als von der römischen Abgeordnetenkammer und dem römischen Senat genehmigter Gesetzestext vor.
Wie von der Regierung in Rom angeordnet, findet im Oktober in ganz Italien darüber eine Volksabstimmung statt. Die italienische Regierung geht davon aus, dass die Mehrheit für die zentralistische Verfassungsänderung stimmen wird.
Das Eingeständnis eines hohen österreichischen Diplomaten
Der Leiter des Völkerrechtsbüros, Botschafter Dr. Helmut Tichy, mußte bei dem „briefing“ in Wien auf die insistierenden Fragen des Abgeordneten Neubauer Folgendes eingestehen:
Wenn die neue Verfassung in Kraft tritt, kann der Zentralstaat gesetzliche Kompetenzbeschneidungen der Autonomie vornehmen.
Wenn das Land Südtirol dagegen vor dem italienischen Verfassungsgerichtshof Beschwerde erhebt, so müsse man damit rechnen, dass dieser gegen die Interessen Südtirols entscheidet, da der Verfassungsgerichtshof in Italien übergeordnete Interessen des Zentralstaates zu wahren haben werde. Das sei, so Botschafter Dr. Tichy, „einzigartig“ und „bereitet Sorgen“.
Der italienische Verfassungstext besagt: Kompatschers politisches Gebäude ist auf Treibsand gebaut
Bisher hatte man in Wien ebenso wie in Bozen die Situation schöngeredet. Und das aus gutem Grund.
Die SVP-Senatoren hatten nämlich am 20. Jänner 2016 in Rom für die neue zentralistische Verfassung gestimmt und die SVP-Kammerabgeordneten hatten dies am 12. April 2016 ebenfalls getan.
Der Südtiroler Landeshauptmann Dr. Arno Kompatscher (SVP) hatte dies damit begründet, dass Rom bei einer Überarbeitung des bisherigen Autonomiestatuts inhaltlich entgegen kommen werde und dass bis zur erfolgten Überarbeitung eine vereinbarte Schutzklausel für das bestehende Autonomiestatut gelte.
Das Eingeständnis des Botschafters Dr. Tichy zeigt nun auf, dass das Gebäude dieser Politik das Südtiroler Landeshauptmannes Dr. Kompatscher auf Treibsand gebaut ist.
Jeder der italienischen Sprache Kundige kann anhand des italienischen Gesetzestextes feststellen, dass die Aussage des österreichischen Botschafters und Völkerrechtsexperten Dr. Tichy stimmt.
In diesem Text heißt es nämlich (geänderter Artikel 117 der Verfassung):
Auf Deutsch:
„Auf Vorschlag der Regierung kann das Staatsgesetz in Angelegenheiten eingreifen, welche nicht der ausschließlichen Gesetzgebung (des Staates) vorbehalten sind, wenn die Wahrung der juridischen oder wirtschaftlichen Einheit der Republik oder die Wahrung des nationalen Interesses dies erfordert.“
Eine alte Methode kehrt wieder: Mit schwammigen Formulierungen dem Staat freie Hand geben!
An sich müsste man in Bozen und Wien seit Jahrzehnten die bewährte italienische Taktik bereits kennen, wonach blumige und schön klingende Bekenntnisse und „Zugeständnisse“ auf offener politischer Bühne von schwammigen Formulierungen in Gesetzestexten begleitet werden, die dann dem Staat ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet.
Schon mehrmals hat Rom auf diese Weise den ursprünglichen Sinn von Vereinbarungen, Verträgen und Gesetzen in das Gegenteil verkehrt.
Diese Taktik ging im Jahr 1946 los mit dem unpräzise formulierten „Pariser Vertrag“. Sie setzte sich fort mit einer angemaßten „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ des Staates und feiert nun mit dem der Autonomie übergeordneten „nationalen Interesse“ des Staates die aktuelle Wiederkehr.
Gleichzeitig erzählt der Landeshauptmann Dr. Kompatscher den Südtirolern, dass das Mitsegeln auf solchem Kurs eine erfolgreiche Politik darstelle.
Der Aufstand der SVP-Altmandatare
Dass der jetzige Landeshauptmann Dr. Arno Kompatscher aus lauter Gefolgschaftstreue gegenüber Rom diese Situation nicht sehen wollte und nicht sehen will, hat bereits im Vorjahr und im Frühjahr 2016 zu einem Aufstand verfassungsrechtlich durchaus kompetenter Altmandatare der „Südtiroler Volkspartei“ geführt.
Ein Verfassungsrechtler spricht offene Worte
Der Alt-SVP-Obmann, Ex-Senator und Verfassungsrechtler Professor Dr. Roland Riz war stets auf Konsens mit Rom bedacht gewesen. Er ist kein Freund von Selbstbestimmungsbestrebungen und ganz gewiss kein sogenannter „Scharfmacher“.
Aber sogar er hält die von Dr. Kompatscher im „Einvernehmen mit Rom“ geplante Änderung des Autonomiestatuts für eine katastrophale Fehlentscheidung.
Bereits am 13. 3. 2015 hat er in einem Interview in der Tageszeitung „Dolomiten“ gegen dieses Vorhaben entschieden Stellung genommen.
Riz sagt, dass diese Politik Südtirol auf den Weg „zu einer ganz normalen italienischen Provinz“ führt, in welcher „unsere Rechte … immer weniger“ werden. „Wenn wir versuchen, uns ein neues Autonomiestatut zu geben, dann geben wir die internationale Verankerung auf. Alles ist in Gefahr. Und die Südtiroler spüren, dass sie nicht gut vertreten sind.“
Ex-Senator Oskar Peterlini warnt
Am 22. 10. 2015 erklärte der Ex-Senator Oskar Peterlini gegenüber der Tageszeitung „Dolomiten“, dass er den Kompatscher-Kurs des Einvernehmens mit Rom um jeden Preis für einen „historischen Fehler“ halte.
Peterlini sagte: „Italien wird zentralisiert, die Regionen eines guten Teiles ihrer ehemaligen konkurrierenden Zuständigkeiten entmachtet.
Dem Staat wird die Möglichkeit eingeräumt, auch in die verbleibenden Zuständigkeiten der Regionen einzugreifen. … Die Ausweitung der Zuständigkeiten des Staates, die der Verfassungsgerichtshof als übergeordnet einstuft, birgt die Gefahr des Eingriffes auch in die ureigenen Landes-Zuständigkeiten.“
Über den neu formulierten Artikel 117 der Verfassung sagte Peterlini zu den „Dolomiten“:
Am 2. Februar 2016 berichtete die Tageszeitung „Dolomiten“ über eine Vorsprache einer ganzen Reihe von Altmandataren der SVP bei dem Landeshauptmann Dr. Kompatscher.
Der ehemalige Senator Oskar Peterlini fasste anschließend die Bedenken der Altmandatare gegenüber den „Dolomiten“ zusammen:
„Wir haben unsere großen Bedenken gegen diese Reform dargelegt.“ Italien werde, so Peterlini, damit immer zentralistischer. „Und wir Südtiroler haben in der Vergangenheit erfahren müssen, was das bedeutet.“
Der Landeshauptmann Dr. Arno Kompatscher hingegen beharrte im Anschluss an die Aussprache gegenüber den „Dolomiten“ darauf, dass seine Politik die einzig richtige sei.
Schwere Bedenken von Seite der Südtiroler Schützen
Am 26. Februar 2016 veröffentlichte die Tageszeitung „Dolomiten“ nachstehende Stellungnahme von Seiten des Südtiroler Schützenbundes:
Die Opposition ruft dazu auf, bei dem Referendum mit „NEIN“ zu stimmen
Freiheitliche Partei
Pressemitteilung
Bozen, den 5. Juli 2016
NEIN zur Verfassungsreform – sonst verliert Südtirol Freiheitlicher Landesparteivorstand spricht sich gegen römischen Zentralismus aus
Der Freiheitliche Landesparteivorstand setzte sich bei seiner jüngsten Sitzung mit der anstehenden Verfassungsreform auseinander. In einstimmiger Weise erklärte der Vorstand seine ablehnende Haltung zur geplanten Reform und empfiehlt der Bevölkerung beim Referendum mit „NEIN“ zu stimmen.
Die vom PD vorgelegte Verfassungsreform sieht einen zentralistischen Staat vor, der das staatliche Interesse stets vor das Interesse der Autonomien in Italien stellt. Die Verfassungsreform ist zutiefst zentralistisch und in ihrer Grundausrichtung den Bedürfnissen der Zentralverwaltung in Rom angepasst.
Für die Autonomie Südtirols, den Minderheitenschutz der deutschen und ladinischen Sprachgruppe zeigt sich schon jetzt ein düsteres Bild. Sollte die Reform genehmigt werden, so ist Südtirol, unsere Heimat, der Verlierer.
Süd-Tiroler Freiheit
Die Süd-Tiroler Freiheit hob in einer Pressemitteilung vom 5. Juli 2016 hervor, dass der „Partito Democratico“ (PD), der italienische Koalitionspartner der SVP im Südtiroler Landtag (und gleichzeitig Regierungspartei in Rom), sich in dem derzeit tagenden Diskussionsgremium „Autonomiekonvent“ als Gegner der ethnisch und kulturell begründeten Autonomie offenbart habe:
Autonomiekonvent: PD will Süd-Tirol zu normaler italienischer Provinz degradieren!
Als neuerlichen Angriff auf die Fundamente der Autonomie und gefährliches Spiel mit dem Feuer kritisiert die Süd-Tiroler Freiheit den jüngsten und wiederholten Vorstoß des „Partito Democratico“ (PD) und der italienischen Kulturverbände im Autonomiekonvent. In einem im Konvent eingebrachten Dokument fordert Landesrat Christian Tommasini wiederholt die Abschaffung des Proporzes und ein „modello paritetico“. Der Koalitionspartner der Volkspartei verstärkt seine Bemühungen, die Autonomie in eine reine Territorialautonomie herabzustufen.
Landtagsabgeordneter Bernhard Zimmerhofer fordert die SVP dazu auf, sich endlich und mit aller Konsequenz zu den Säulen der Autonomie zu bekennen und ihren Koalitionspartner in die Schranken zu weisen. „Verschwinden Proporz und muttersprachlicher Unterricht, verschwindet mit ihnen die Autonomie“, unterstreicht Zimmerhofer abschließend.
Es zeichnet sich keine Kehrtwendung des Landeshauptmannes Dr. Arno Kompatscher ab. Dieser beharrt auf seiner Politik des Einvernehmens mit den politischen Wünschen Roms.
Immer mehr Südtiroler befürchten, dass er damit Südtirol in eine Katastrophe führt.