Allen Widrigkeiten zum Trotz halten die Schützen im Süden des 1919 geteilten Landes an der Wiedervereinigung Tirols fest.
von Reinhard Olt
Wer sich mit historischen Publikationen zum Thema (Süd-)Tirol befasst und die mediale Berichterstattung der letzten Jahre verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, mit der 1969 zustande gekommenen und 1972 statutarisch verankerten Selbstverwaltung für die „Provincia autonoma di Bolzano – Alto Adige“ und dem unlängst in Meran, Bozen und Wien politisch-medial beweihräucherten Rückblick auf „25 Jahre österreichisch-italienische Streitbeilegung“ von 1992 sei die seit Ende des Ersten Weltkriegs schwärende Wunde der Teilung Tirols ein für allemal geschlossen. Weit gefehlt. Demoskopische Erhebungen förderten zutage, dass in Österreich – insbesondere im Bundesland Tirol – wie im von Italien 1918 annektierten südlichen Teil Tirols das Empfinden historischen Unrechts sowie das Gefühl der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit nach wie vor ausgeprägt sind.
Die große Mehrheit aller Befragten bekundete auch das Verlangen nach (einem Referendum zwischen Brenner und Salurner Klause über die) Ausübung des sowohl nach dem Ersten, als auch nach dem Zweiten Weltkrieg der dortigen Bevölkerung verweigerten Selbstbestimmungsrechts. Dafür sprachen sich sogar viele der befragten ethnischen Italiener in der benachbarten Provinz Trient aus, mit der Bozen-Südtirol in einer „Regione Autonoma Trentino-Alto Adige“ zwangsvereint ist. In Südtirol selbst waren sich die Befragten – trotz unterschiedlicher Vorstellungen der maßgeblichen politischen Kräfte über die anzustrebende weitere Entwicklung des Landes (Vollautonomie; Freistaat; Rückgliederung an Österreich) – mehrheitlich darüber einig, dass dessen Zukunft jedenfalls in der Unabhängigkeit von Italien, mithin im „Los von Rom“, zu suchen sei.
Dass Loslösung von Italien im öffentlichen Raum ein Diskussionsthema ist und bleibt, dafür sorgen – neben drei deutschtiroler Oppositionsparteien, die seit der Landtagswahl von 2013 im Parlament zu Bozen zusammen 10 von 35 Abgeordneten stellen – der Südtiroler Heimatbund (SHB), die Vereinigung ehemaliger Freiheitskämpfer, sowie vor allem der Südtiroler Schützenbund (SSB).
Dieser mitgliederstarke Traditionsverband, dessen Wurzeln ins frühe 16. Jahrhundert zurückreichen, tritt in Treue fest für die Bewahrung der Tirolität im fremdnationalen Staat sowie unerschütterlich für die Aufrechterhaltung des Ziels der Landeseinheit ein. Wiewohl politisch gänzlich unabhängig, bilden mehr als 6000 Mitglieder, von denen über 5000 in 140 Schützenkompanien sowie in 3 Schützen(musik)kapellen aktiv sind, mitsamt Familienangehörigen ein ansehnliches gesellschaftliches Potential.
Wann und wo immer sie aufmarschieren in ihrer pittoresken Montur – sie sind eine Augenweide fürs Publikum. Im alpinen Tourismus würden ihre Farbtupfer fehlen, träten sie nicht in Kompaniestärke oder gar noch größeren Formationen auf, wenn es gilt, gelebte Tradition augen- und ohrenfällig werden zu lassen. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass zwischen Oberbayern und Welschtirol (Trentino) beheimatete Schützenformationen an den meisten Urlaubsorten von Besuchern allzu gerne als folkloristische Draufgabe auf ihren wohlverdienten Ferienaufenthalt empfunden werden.
Wer indes einmal einen Blick in eine Ortschronik oder gar in ein Geschichtsbuch wirft, dem wird sich die historische Dimension des Schützenwesens alsbald erschließen. Dies gilt samt und sonders für jene Landstriche im Dreieck zwischen Konstanz, Kufstein und Ala am Gardasee, die einst die „Gefürstete Grafschaft“ respektive das „Land im Gebirg’“, wie es oft in Urkunden bezeichnet wird, mithin das alte Tirol ausmachten. Überall dort geht die Existenz der Schützen auf das sogenannte Landlibell Kaiser Maximilians I. (1459–1519) zurück.
Der „letzte Ritter“, wie man ihn auch nennt, erließ 1511 jenen urkundlich verbrieften Rechtsakt, in welchem er die Freiheiten der Tiroler Stände festlegte und damit zugleich das Wehrwesen und also die Organisation der Landesverteidigung durch Aufgebote städtischer und ländlicher Bewohner mitsamt einer Aufteilung der Mannschaftskontingente regelte. Das Landlibell legte fest, dass die Tiroler nicht verpflichtet waren, für einen Herrscher außerhalb der Landesgrenzen in den Krieg zu ziehen. Dafür sicherten die Stände zu, bei Feindeseinfall Tirol zu verteidigen.
Weithin bekannt wurde das Tiroler Schützenwesen vor allem durch die Abwehrkämpfe während der kriegerischen Einfälle der Bayern 1703 sowie der Franzosen (nebst ihrer bayerischen Verbündeten) in den Jahren 1796/97 und 1809. Die Bergisel-Schlachten unter dem aus dem Südtiroler Passeiertal stammenden Kommandanten und Volkshelden Andreas Hofer – plastisch und drastisch nachzuverfolgen am „Riesenrundgemälde“ im Tirol-Panorama, einem eigens 2010 errichteten Museum am gleichnamigen Berg nahe Innsbruck – trugen wesentlich dazu bei, dass der Mythos vom wehrhaften Bergvolk, das selbst Napoleon trotzte, in ganz Europa bekannt wurde.
Das Landlibell galt im Kern bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und selbst während des Ersten Weltkriegs wurden Tiroler Standschützen stets nur zur Verteidigung der Heimat und eben nicht auf außertirolischen Kriegsschauplätzen eingesetzt. Daran und an „500 Jahre Landlibell als Geburtsurkunde der Tiroler Schützen“ war 2011 in Innsbruck im Beisein von deren Abordnungen aus eben jenem historischen Tirol – des österreichischen Bundeslandes sowie der italienischen Provinzen Bozen-Südtirol und Trentino – feierlich erinnert worden.
Nirgendwo dort fehlen Schützen bei einer größeren Festveranstaltung. Fast in jeder Gemeinde gibt es eine Kompanie, die bei festlichen Anlässen „ausrückt“ und mittels Gewehrsalven eines Schützen-Detachements den Festcharakter lautstark unterstreicht. Heutzutage haben diese Waffen tragenden Tiroler in ihren schmucken, regional und sogar lokal unterschiedlichen Uniformen feindliche Truppen nicht mehr abzuwehren, wenngleich Degen und Karabiner zu ihrer „Standardausrüstung“ gehören. Der wehrhafte Geist ist ihnen indes ganz und gar nicht abhandengekommen, wenn sie sich – im engeren wie im weiteren Sinne – um die „Heimat“ kümmern: Sie initiieren und beteiligen sich aktiv an Renovierungsaktionen für Bauwerke; dasselbe gilt für Reinigungsaktivitäten besonders dort, wo das Wegwerfgut des Massentourismus zu beseitigen ist.
Vor allem aber engagieren sie sich in der sozialen Fürsorge für ältere Mitbürger. Trotz äußerlicher Verschiedenheit, wie sie an Gewand und Hüten, an Uniform-/Tracht- und Hutschmuck sowie an ihren Fahnen auszumachen ist, eint sie Tradition und Heimatverbundenheit, wie sie sich in den Grundsätzen des Schützenwesens manifestieren (dazu gehören „Treue zu Gott und dem Erbe der Väter“, „Schutz von Heimat und Vaterland“ sowie „Einheit des Landes“).
Letzteres führte mitunter zu Auseinandersetzungen in und zwischen den drei maßgeblichen Schützenverbänden – sehr stark beeinflusst von den in den Tiroler Landesteilen dominanten politischen Kräften respektive regierenden Parteien, von denen im Bundesland Tirol die ÖVP und in der Provinz Bozen-Südtirol deren Pendant SVP seit dem Zweiten Weltkrieg ununterbrochen an der Macht sind.
Dass Streit über die Landeseinheit mittlerweile als „Schnee von gestern“ gelten darf, ist in erster Linie dem Betreiben des SSB und dessen Landeskommandanten Major Elmar Thaler sowie der Mitwirkung seines Pendants im Norden – Major Fritz Tiefenthaler, Kommandant des Bundes Tiroler Schützenkompanien (BTSK) – zuzuschreiben.
Hieß der übergreifende Grundsatz zwischen Nord und Süd in den 1990er Jahren „geistige und kulturelle Landeseinheit“, so ist in den letzten Jahren, weitgehend inauguriert vom SSB, immer stärker auch die „politische Einheit des Landes“ in den Mittelpunkt gemeinsamer Zielsetzungen gerückt. Und mit der Neugründung eines (die ansonsten eigenständigen Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols) vereinigenden „Verbandes Tiroler Schützen“ (VTS) wurde die „Landeseinheit Tirols“ in dessen Statut fixiert. Jedes Jahr übernimmt ein anderer Landeskommandant die Führung der darin vereinten mehr als 20.000 Schützen Gesamttirols.
Sichtbarster Ausdruck der Veränderung vom „unpolitischen“ – und von zeitgeistfrommen Zeitgenossen abschätzig „heimattümelnd“ genannten – Charakter zu einem durchaus ernstzunehmenden politischen Faktor in beiden Teilen Tirols war der „Freiheitsmarsch“ der Schützen 2012 in Bozen. Damit war erstmals auch die personifizierte gesamttirolische Verbandseinheit dokumentiert worden, indem der Südtiroler Landeskommandant Elmar Thaler, der Nordtiroler Fritz Tiefenthaler und der Welschtiroler Giuseppe Corona an der Spitze den farbenprächtigen Zug von Tausenden ihrer Mannen nebst Marketenderinnen und Sympathisanten in gleichem Schritt und Tritt quer durch die Stadt auf den Platz vor das Landhaus (Landtag) zur Abschlusskundgebung führten.
Dort fassten sie zusammen, was die einzelnen Kompanien in griffige Parolen gekleidet auf Spruchbändern mit sich geführt hatten und was Ziel des demonstrativen, aber gänzlich unmartialisch verlaufenen Aufmarschs sein sollte: Der „Mut zum Bekenntnis und zur Tat“ gipfelte in dem wider Italien gerichteten Bekenntnis „Unser Staat ist das nicht“, respektive im Verlangen „Schluss mit der italienischen Verwaltung“.
In Anlehnung an den November 1989 in der damaligen DDR hieß es auch auf rotweißen Spruchbändern, die der Tiroler Adler zierte: „Wir sind das Volk“. Womit zugleich das Verlangen nach Wiedervereinigung des seit Ende des Ersten Weltkriegs geteilten Tirols Ausdruck fand. All das verdichtete sich in den beiden markanten Parolen von der „Ausübung des Selbstbestimmungsrechts“ und der „Verabschiedung aus Italien“, mithin dem „Los von Rom“. Es fehlte auch nicht an Schelte für „Politiker, die der Landeseinheit im Wege stehen“. Vom SSB initiierte und organisierte „Unabhängigkeitstag“ in Meran 2013 und in Bruneck 2016, zu denen sich Vertreter zielgleicher nationaler Minderheiten aus EUropa einfanden, gerieten zu selbstbewussten Manifestationen wider assimilatorische Entnationalisierung sowie des unbedingten Willens zur Selbstbehauptung und des Verlangens nach Verwirklichung des in der UN-Charta verankerten Selbstbestimmungsrechts.
Die Schützen wissen, dass sie mit derartigen Aktivitäten mitunter auf Ablehnung stoßen: nicht allein in Rom (zur Gänze) sowie (weithin) in der politischen Klasse Wiens und Innsbrucks, sondern auch und vor allem bei der SVP. Die 1945 gegründete „Sammelpartei“ hat sich längst mit den obwaltenden, weil mitgestalteten Verhältnissen arrangiert. Dem Arrangement fiel das in ihren Parteistatuten als Gründungszweck und hehres Verwirklichungsziel verankerte Selbstbestimmungsbegehr „realpolitisch“ ebenso zum Opfer wie ihr die einst auch von ihr als höchsten Daseinszweck propagierte Landeseinheit faktisch obsolet geworden ist. Dies legte die seit der Streitbeilegung 1992 immer öfter ins Auge stechende, dem Machterhalt dienende und für Funktions- und Amtsträger sowie dem sozial und ökonomisch nutznießenden Teil der eigenen Wählerklientel einträgliche Maxime des „Kompromisses um jeden Preis“ offen. Man tritt der gegenwärtigen SVP-Führung und dem Gros ihrer Parlamentarier gewiss nicht zu nahe, wenn man sie als italophil bezeichnet.
Dass dies zwangsläufig zu Konflikten mit dem Schützenbund führen muss(te), dessen Wiedergründung ohne Beistand und Rückhalt der SVP 1957 kaum denkbar gewesen wäre und zu dessen erstem Kommandanten infolgedessen der damalige Landeshauptmann Dr. Alois Pupp bestimmt worden war, ist in den letzten Jahren häufig zutage getreten. Das Wiederaufleben des im italienischen Faschismus verbotenen Schützenwesens geschah gegen den hartnäckigen Widerstand des „demokratischen Italiens“, das – in Südtirol übrigens bis heute – zäh sein geistiges faschistisches Erbe verteidigt. In Rom war und ist man sich der Bedeutung des Schützenwesens bewusst, dessen traditioneller Daseinszweck auf Bewahrung der Identität und Freiheit der Tiroler sowie auf Wiedererlangen der Landeseinheit gerichtet ist.
Von den 1950er bis zu den frühen 1980er Jahren herrschte hinsichtlich dieser Ausrichtung weithin Übereinstimmung mit der SVP, zudem bestand eine gewisse personelle Identität. Man tut wohl niemandem Unrecht, wenn man den SSB bis zur zäsuralen „Schützenrevolte“ auf der denkwürdigen Landesversammlung (dem Parteitag) 1986 in Meran als eine der SVP-„Vorfeldorganisationen“ charakterisiert. Das hat sich seitdem fundamental geändert. Zwischen SVP und SSB, der sich von ihr emanzipierte und mehr und mehr zum Stachel im Fleische der Politik wurde, ist heute der Bruch unübersehbar.
Die Schützen haben wieder und wieder bewiesen, dass sie trotz (gesellschafts)politischen Gegenwinds an ihrem historisch begründeten und legitimierten Auftrag sowie an ihrem tradierten Wertegefüge festhalten und standfest bleiben. Daher ist es vornehmlich ihnen zu danken, dass das letzte Wort bezüglich der Zukunft (Süd-)Tirols wohl noch lange nicht gesprochen ist.
Mein soeben erschienenes Buch „Standhaft im Gegenwind“. Der Südtiroler Schützenbund und sein Wirken für Tirol als Ganzes“ legt all dies faktengesättigt offen. Wobei eine Fülle exklusiver Informationen aufgeboten werden konnten, die man sowohl in der journalistischen, als auch in der bisherigen wissenschaftlichen Publizistik vergeblich sucht. Diese facettenreiche Publikation über den Südtiroler Schützenbund stellt daher zugleich eine detaillierte Beschreibung der ins österreichisch-italienische Verhältnis eingebetteten politischen Handlungen beider Tirol dar. Mithin schließt die Darstellung auch eine Lücke in der Aufarbeitung der jüngeren Zeitgeschichte.
Neuerscheinung: zeitgeschichtliches Werk enthüllt parteipolitisch motivierte Südtirol-Geheimdiplomatie
Der renommierte Historiker und Publizist Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt stellt die in Buchform erschienene Dokumentation „Südtirol – Opfer für das westliche Bündnis“ von Dr. Helmut Golowitsch vor.
Konspirative politische Händel zu Ungunsten Südtirols
Wie ein bisher weitgehend im Dunkel verborgener Emissär das Nachkriegsgeschehen zwischen Wien und Rom hinter den Kulissen zu beeinflussen vermochte
von Reinhard Olt
Die Brenner-Grenze ist wieder da. Unter völkerwanderungsartig anschwellendem Zustrom afrikanisch-orientalischer Migranten über die „Italien-Route“ nach Mitteleuropa nimmt der enge Gebirgseinschnitt wieder seine Rolle als neuralgisches Kontroll-Areal am Übergang zum Bundesland Tirol ein, welches seit dem Schlagbaum-Abbau nach Österreichs EWG-Beitritt (1. Januar 1995) als obsolet galt. Verschwunden war sie ja nicht wirklich, sondern lediglich „nicht mehr spürbar“, wie eine medial widerhallende stereotypisierte Politformel besagte und eher oberflächliche Betrachtung von Fahrzeuginsassen darüber hinwegrollender Automobilkolonnen nahelegte.
Ob unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich die Chance für die in vielfachen eindrücklichen Willensbekundungen der Bevölkerung sowie die in politischen und kirchlichen Petitionen zum Ausdruck gebrachte Forderung nach Wiedervereinigung des 1918/19 geteilten Tirols bestand, ist unter Historikern umstritten. Unumstritten ist, dass das Gruber-De Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946, Grundlage für die (weit später erst errungene) Autonomie der „Provincia autonoma di Bolzano“, dem die regierenden Parteien sowie der zeitgeistfromme Teil der Opposition in Wien, Innsbruck und Bozen heute den Rang einer „Magna Charta für Südtirol“ zubilligen, sich für Österreichs Politik jahrzehntelang als „furchtbare Hypothek“ (Bruno Kreisky) erwies.
Gruber und De Gasperi
Allem Anschein nach fügte sich der österreichische Außenminister Gruber seinerzeit ebenso seinem italienischen Gegenüber Alcide De Gasperi wie den drängenden Siegermächten, um überhaupt etwas mit nach Hause bringen zu können. Es waren jedoch nicht allein die aus der (geo)politischen Lage herrührenden Umstände und die Unzulänglichkeiten des damals zur Pariser Friedenskonferenz entsandten österreichischen Personals sowie das mitunter selbstherrliche Gebaren Grubers respektive der Druck, den die (west)alliierten Siegermächte auf die Beteiligten ausübten und schließlich ein anderes als das von den (Süd-)Tirolern erhoffte Ergebnis zeitigten. Eine soeben erschienene Dokumentation des Zeithistorikers Dr. Helmut Golowitsch zeigt, dass auch hinter den Kulissen Akteure emsig und weitgehend inkognito am Geschehen beteiligt waren.
Insbesondere ein Kärntner Unternehmer übte einen bisher weithin unbekannten und im Blick auf das von der weit überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in beiden Tirol sowie in ganz Österreich erhoffte Ende der Teilung des Landes fatalen Einfluss aus. Sein lautloses Mitwirken inkognito erstreckte sich nahezu auf den gesamten für den Südtirol-Konflikt zwischen Österreich und Italien bedeutsamen Geschehensablauf vom Kriegsende bis zur sogenannten „Paket“-Lösung Ende der 1960er Jahre, bisweilen lenkte er ihn in bestimmte Bahnen.
Hinter den Kulissen
Der Mann hieß Rudolf Moser, war 1901 in Wien geboren und in der christlich-sozialen Bewegung politisch sozialisiert worden. In Sachsenburg (Kärnten) leitete er die „A. Moser & Sohn, Holzstoff- und Pappenfabrik“, und als Industrieller gehörte er der vor allem auf die regierende Österreichische Volkspartei (ÖVP) stark einwirkenden Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft an. Mit dem ersten Bundeskanzler Leopold Figl, den er als seinen „engsten Jugendfreund“ bezeichnete, verband ihn wie er vermerkte, „in allen Belangen …. stets gegenseitige und vollständige Übereinstimmung und Treue“.
Der Emissär
In Italien, wohin seine Firma gute Geschäftskontakte unterhielt, hielt sich Moser häufig für länger auf und kam mit namhaften Persönlichkeiten des Staates ebenso wie mit katholischen Kreisen und dem Klerus in engen Kontakt. Moser, den auch Papst Pius XII. mehrmals in Rom persönlich empfing, wirkte zudem als Vertrauensmann des Vatikans. Insofern nimmt es nicht wunder, dass sich der die italienische Sprache mündlich wie schriftlich nahezu perfekt beherrschende und absolut diskret agierende Moser nach 1945 geradezu ideal für die Aufnahme, Pflege und Aufrechterhaltung einer trotz Südtirol-Unbill dennoch äußerst belastbaren Verbindung zwischen ÖVP und Democrazia Cristiana (DC) eignete, die sich weltanschaulich ohnedies nahestanden. Dazu passte, dass er sich der Rolle des (partei)politischen Postillons und verdeckt arbeitenden Unterhändlers mit geradezu missionarischem Eifer hingab.
Verkaufte „Herzensangelegenheit“
Das erste für das Nachkriegsschicksal der Südtiroler bedeutende und in seiner Wirkung fatale Wirken Mosers ergab sich im Frühjahr 1946. Während nämlich die österreichische Bundesregierung offiziell – besonders Kanzler Figl, der in seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 vor dem Nationalrat gesagt hatte:
„Eines aber ist für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache, das ist Südtirol. Die Rückkehr Südtirols nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers“
Die Selbstbestimmungslösung mittels Volksabstimmung verlangte, die Außenminister Gruber gegenüber den Siegermächten und dem Vertreter Italiens in Paris bis dahin einigermaßen aufrecht erhalten hatte, wurde Rom auf der Ebene parteipolitischer Beziehungen vertraulich darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich Wien gegebenenfalls auch mit einer Autonomielösung anstelle eines Plebiszits einverstanden erklären könne. Das Signal dazu gab Figl via Moser, der über Vermittlung eines Priesters aus dem Trentino den gebürtigen Trientiner De Gasperi am 3. April 1946 im Palazzo del Viminale, dem Amtssitz des italienischen Ministerpräsidenten, zu einer ausgiebigen geheimen Unterredung traf.
Dass das Duo Figl/Moser damit Grubers Aktivitäten konterkarierte, dürfte auch dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass die beiden ÖVP-Politiker Figl und Gruber einander sozusagen „in herzlicher Abneigung“ zugetan waren. Dass es dem Kanzler primär um gutnachbarschaftliche politische (und wirtschaftliche) Beziehungen Wiens zu Rom sowie vielleicht mehr noch um freundschaftliche Verbindungen zwischen seiner ÖVP mit De Gasperis DC zu tun war und dass er damit der alldem entgegenstehenden Sache Südtirols – wider alle öffentlichen Bekundungen und Verlautbarungen – schadete, spricht Bände.
Widersprüchliches Gebaren
Dieses widersprüchliche politische Gebaren sollte sich, wie die von dem oberösterreichischen Forscher Helmut Golowitsch erstellte Dokumentation zeigt, unter allen auf Figl folgenden ÖVP-Kanzlern bis in die für das österreichisch-italienische Verhältnis äußerst schwierigen 1960er Jahre fortsetzen, unter der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus ihren Kulminationspunkt erreichen und darüber hinaus – wie man als Beobachter späterer Phasen hinzufügen muss – gleichsam eine politische Konstante bilden, der in aller Regel die beanspruchte Schutz(macht)funktion Österreichs für Südtirol untergeordnet worden ist. Allen damals führenden ÖVP-Granden stand Rudolf Moser als emsig bemühtes, lautlos werkendes und wirkendes Faktotum zur Seite: Sei es als Organisator konspirativ eingefädelter Spitzentreffen inkognito – mehrmals in seinem Haus in Sachsenburg – , sei es als Emissär, mal als besänftigender Schlichter, mal operierte er als anspornender Impulsgeber. Mitunter war er verdeckt als Capo einer geheimen ÖVP-Sondierungsgruppe unterwegs oder auch gänzlich unverdeckt als Mitglied einer offiziellen ÖVP-Delegation auf DC-Parteitagen zugegen. Und nicht selten nahm er die Rolle eines Beschwichtigers von ÖVP-Politikern und -Funktionären wahr.
Geheime Treffen
So regte er die erste geheime Begegnung Figls mit De Gasperi an, wie aus einem mit Briefkopf des Kanzlers versehenen Schreiben vom 16. Juli 1951 an Moser hervorgeht. Das „inoffizielle Zusammentreffen“ fand im August 1951 – der genaue Tag ließ sich nicht rekonstruieren – im Hinterzimmer eines Gasthauses am Karerpass in Südtirol statt, wohin der in Matrei (Osttirol) sommerfrischende österreichische und der in Borgo (Valsugana) urlaubende italienische Regierungschef reisten, um sich „auf halbem Wege“ und „nach außen hin zufällig“ zu treffen. Über Inhalt und Ergebnis dieses ersten Geheimtreffens, worüber es keine Aufzeichnungen gibt – und weiterer konspirativer Begegnungen mit anderen Persönlichkeiten – wurden weder Süd- noch Nordtiroler Politiker informiert. Während des gesamten Zeitraums, für die Golowitschs Dokumentation steht, agierten ÖVP-Kanzler und ÖVP-Parteiführung unter gänzlichem Umgehen der dem südlichen Landesteil naturgemäß zugetanen Tiroler ÖVP.
Das ging sogar so weit, dass der legendäre Landeshauptmann Eduard Wallnöfer wegen „wachsender Unstimmigkeiten mit der Wiener Parteizentrale“ – insbesondere während der Kanzlerschaft des Josef Klaus, zu dem er ein „unterkühltes Verhältnis“ gehabt habe (Michael Gehler – eine „Unabhängige Tiroler Volkspartei“ (nach Muster der bayerischen CSU) ernsthaft in Erwägung zog. Indes war der aus dem Vinschgau stammende Wallnöfer – nicht allein wegen der Südtirol-Frage, aber vor allem in dieser Angelegenheit – dem Außenminister und nachmaligen Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ) ausgesprochen freundschaftlich verbunden.
Delikate Besuche
Für das zweite Geheimtreffen Figls mit De Gasperi am 18. und 19. August 1952 sorgte Moser, der es arrangiert hatte, auch eigens dafür, den Ministerpräsidenten inkognito über den Grenzübergang Winnebach nach Osttirol zu schleusen und von dort aus auf sein Anwesen in Sachsenburg (Bezirk Spittal/Drau) zu geleiten. Während zweier Tage unterhielten sich De Gasperi und Figl bei ausgedehnten Spaziergängen unter vier Augen, niemand sonst war zugegen.
In einem späteren Rückblick, angefertigt zu Weihnachten 1973, vermerkte Moser:
„Seit 1949 gab es in meinem Kärntner Landhaus gar viele Zusammenkünfte, Besprechungen, Beratungen und Konferenzen, aber nicht selten wurden auch in fröhlichem Zusammensein weitreichende Beschlüsse gefaßt. Im Gästebuch dieses ,Hauses der Begegnung‘, wie es vielfach genannt wurde, gibt es von den delikaten Besuchen fast keinerlei Eintragungen, weil ja jedwede Dokumentation vermieden werden sollte.“
Auf Figl folgte Julius Raab. Auch er war in Sachsenburg zu Gast, bediente sich Mosers Diensten hinsichtlich Italiens aber kaum. Das war auch gar nicht erforderlich, denn die politischen Prioritäten Wiens waren während Raabs Ägide vornehmlich auf das Ausverhandeln des Staatsvertrags (1955) und damit das Wiedererlangen der Souveränität gerichtet. Was dazu führte, dass es – worüber in Bozen und Innsbruck Unmut herrschte – in der Südtirol-Politik zu keinen nennenswerten Aktivitäten oder Initiativen mehr kam.
Handreichung für Folterer
Nach De Gasperi, mit dem sich Moser auch weiterhin freund(schaft)lich austauschte, wechselten in Italien die Regierungschefs beinahe jährlich; bis 1981 war das Amt des „Presidente del Consiglio dei Ministri“ stets sozusagen ein „Erbhof“ der DC. Bis zum Abschluss des Südtirol-Pakets 1969 unter Mario Rumor, der zwischen 1968 und 1970 drei wechselnden, DC-geführten und dominierten (Koalitions-)Regierungen vorstand, hatten sieben DC-Regierungschefs 14 Kabinetten vorgestanden. Mit allen pflegte(n) Moser (und die ÖVP) mehr oder weniger enge Kontakte.
Zu Mario Scelba, der später traurige Berühmtheit erlangte, weil unter seiner Billigung 1961 in Carabinieri-Kasernen politische Häftlinge aus den Reihen des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) gefoltert worden waren und er als damaliger Innenminister den Folterknechten dazu „freie Hand“ („mani libere“) gelassen hatten, waren sie ebenso intensiv wie zu Fernando Tambroni, Antonio Segni, Amintore Fanfani und Aldo Moro. 1962 hatte Moser ein geheimes Treffen zwischen dem stellvertretenden DC-Generalsekretär Giovanni Battista Scaglia sowie der DC-Fraktionsvizechefin Elisabetta Conci und ÖVP-Generalsekretär Hermann Withalm sowie Außenamtsstaatssekretär Ludwig Steiner eingefädelt, das in seinem Beisein am 12. Mai in der am Comer See gelegenen „Villa Bellini“ der mit ihm befreundeten Papierfabrikantin Anna Erker-Hocevar stattfand. Einmütiger Tenor des Treffens: Südtiroler „Friedensstörer“ seien „gemeinsame Feinde“ und als solche „unschädlich zu machen“.
Moser bekundete stets, man müsse, wie er selbst, beseelt sein vom Willen „engster vertraulicher Zusammenarbeit …mit den aufrechten Europäern und jenen Christen, welche den Mut haben, solche der Tat zu sein“ sowie beitragen zur „gemeinsamen Verurteilung jeder Äußerung von unzeitgemäßem Nationalismus und unchristlichen Gewalttaten“ und mithelfen, jene Kräfte zu isolieren und auszuschalten, „die unbedingt Gegner einer Einigung, einer Versöhnung sind“. An Scelba schrieb er am 16. September 1961, er möge „im Alto Adigejene wahnsinnigen Radikalen isolieren, welche mit verbrecherischen Taten sich als Handlanger des Bolschewismus erweisen“.
ÖVP-Geheimdiplomatie
Mosers Engagement ging so weit, dass er sich nicht scheute, daran mitzuwirken, hinter dem Rücken des damaligen Außenminister Kreisky (SPÖ) sozusagen „christdemokratische Geheimdiplomatie“ zu betreiben und dessen mit Giuseppe Saragat ausgehandeltes „Autonomie-Maßnahmenpaket“ zu desavouieren, welches die Südtiroler Volkspartei (SVP) dann auch am 8. Januar 1965 für „zu mager“ befand und infolgedessen verlangte, es müsse nachverhandelt werden. Schon am 6. Januar 1962 hatte er in einer an zahlreiche ÖVP-Politiker und -Funktionäre verschickten „Südtirol-Denkschrift“ bemerkt, Kreisky betreibe „eine dilettantisch geführte Außenpolitik.“ Das bezog sich just auf den seit den verheerenden Auswirkungen des Gruber-De Gasperi-Abkommens ersten zielführenden und erfolgreichen Schritt der Wiener Südtirol-Politik, nämlich der Gang Kreiskys 1960 vor die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwang mittels zweier Resolutionen Italien zu „substantiellen Verhandlungen zur Lösung des Streitfalls“ mit Österreich, womit der Konflikt zudem internationalisiert und der römischen Behauptung, es handele sich um eine „rein inneritalienische Angelegenheit“ die Grundlage entzogen worden war.
Ludwig Steiner und Kurt Waldheim
In den Rom-freundlichen Kreisen der Bundes-ÖVP war dies jedoch mit Unwillen registriert worden. Zunächst hatte ÖVP-Staatssekretär Ludwig Steiner versucht, Kreisky zu bewegen,
„die österreichische UNO Initiative zurückzunehmen“, denn „seiner Meinung nach habe Italien in einer UNO Debatte d[er]z[ei]t. eine bessere Stellung und im übrigen solle man nicht die westlichen Freunde Österreichs strapazieren.“
Kreisky vermerkte über Steiner :
„Seit seinem Eintritt als Staatssekretär haben die Intrigen gegen die gemeinsame Außenpolitik in hohem Maße zugenommen.“
Ebenso vergeblich wie Steiner hatten auch (der spätere ÖVP-Außenminister) Kurt Waldheim und der damalige Leiter der Politischen Abteilung des Außenministeriums, Heinrich Haymerle, versucht, Kreisky, wie dieser festhielt,
„in stundenlangemGespräch zu überreden, dass wir uns jetzt aus der Affäreziehen sollten … Andernfalls würde Österreich als ein Störenfried betrachtetwerden, und dies wäre uns keineswegs zuträglich“.
Mosers vielfältiges und nicht eben einflusslos gebliebenes Wirken beschränkte sich indes nicht auf die eines Kontaktknüpfers oder Verbindungsmannes zwischen ÖVP und DC. Er betätigte sich auch auf internationalem Parkett und vertrat die ÖVP auf den seit 1947 stattfindenden jährlichen Parteikongressen der DC sowie auf den Jahrestagungen der „Nouvelles Équipes Internationales“ (NEI), die sich 1965 in „Union Européenne des Démocrates-Chrétiens“ (EUDC) / „Europäische Union Christlicher Demokraten“ (EUCD) umbenannte. Die von Gegnern als „Schwarze Internationale“ verunglimpfte EUCD ging 1998 in der Europäischen Volkspartei (EVP) auf.
Josef Klaus beugt sich römischem Druck
Der italophile Moser ist nicht selten als politischer Stichwortgeber auszumachen, wenn es um den Versuch der in Wien Regierenden – insbesondere der von der ÖVP gestellten Bundeskanzler der ersten 25 Nachkriegsjahre – ging, sich des mehr und mehr als lästig empfunden Südtirol-Problems zu entledigen. Dies trifft in Sonderheit auf die „Ära Klaus“ zu. Rudolf Moser fungierte just in der Südtirol-Causa als dessen enger Berater und wirkte, wie stets zuvor, als graue Eminenz. Die Regierung Klaus ließ sich – von Rom in der von Wien angestrebten EWG-Assoziierung massiv unter Druck gesetzt – auf (verfassungs)rechtlich äußerst fragwürdige (bis unerlaubte) Händel ein, so beispielsweise auf die auf sicherheitsdienstlicher Ebene mit italienischen Diensten insgeheim verabredete Weitergabe polizeilicher Informationen über Südtiroler, obwohl dies für politische Fälle unzulässig war. Das Wiener Justizministerium und die für Rechtshilfe zuständigen Institutionen wurden dabei kurzerhand übergangen. Für all dies und einiges mehr gab Klaus, der hinsichtlich der Südtirol-Frage ähnlich dachte wie sein deklarierter Freund Rudolf Moser, allen Forderungen der italienischen Seite bereitwillig nach. Moser hatte alles getan, um im Sommer 1966 ein geheimes Treffen in Predazzo, wohin Klaus im Anschluss an seinen üblichen Urlaub (in Bonassola an der Ligurischen Küste) reiste, mit Aldo Moro zustande zu bringen.
Aus dem Dunkel ans Licht
Mosers konspiratives Wirken endete 1969/70. Bevor er sich als Pensionist aufs Altenteil in seine Geburtsstadt Wien zurückzog, hinterließ er seine gesamten Aufzeichnungen, Dokumente und Photographien einem Kärntner Nachbarn. Begünstigt von einem glücklichen Zufall war es Helmut Golowitsch nach langwierigen Recherchen gelungen, an den zeitgeschichtlich wertvollen Fundus zu gelangen, in den zuvor noch nie ein Historiker ein Auge geworfen hatte.
Ergänzt durch Material aus dem im niederösterreichischen Landesarchiv verwahrten Nachlass Figls sowie durch einige Dokumente aus dem Österreichischen Staatsarchiv und dem Tiroler Landesarchiv hat er ihn umsichtig aufbereitet, ausgewertet und nunmehr in dieser voluminösen Dokumentation publiziert, worin er die für die Geschehenserhellung brisantesten Notizen Mosers erfreulicherweise faksimiliert wiedergibt. Alle Moser’schen Dokumente hat Golowitsch zudem zu jedermanns Einblick und Nutzung dem Österreichischen Staatsarchiv übergeben. Seiner Publikation, die ein bisher im Dunkel verborgenes wichtiges Kapitel der mitteleuropäischen Nachkriegsgeschichte ins Licht hebt und, wie der Salzburger Historiker Reinhard Rudolf Heinisch zurecht in seinem Vorwort schreibt, „durch dessen Ergebnisse die tragische Geschichte Südtirols nach 1945 in vielen Bereichen umgeschrieben werden muss“, ist weite Verbreitung zu wünschen.
—
Der Verfasser dieses Beitrages, der Historiker Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt, war von 1985 bis 2012 Redakteur und Österreich-Korrespondent der angesehenen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er hat etwa 100 wissenschaftliche Publikationen verfasst und lehrt heute an österreichischen und ungarischen Hochschulen. Die Geschichte und das Geschick Südtirols liegen ihm besonders am Herzen. Er ist der Verfasser der reich bebilderten Dokumentation „Standhaft im Gegenwind. Der Südtiroler Schützenbund und sein Wirken für Tirol als Ganzes.“ (Neumarkt a. d. Etsch 2017 (Effekt-Verlag). ISBN 978-88-97053-39-2)
—
Das vorliegende Werk von Helmut Golowitsch „Südtirol – Opfer für das westliche Bündnis. Wie sich die österreichische Politik ein unliebsames Problem vom Hals schaffte“ sollte in keinem Bücherregal zur Tiroler Geschichte fehlen. Es ist in gebundener Ausgabe im Leopold Stocker Verlag in Graz erschienen, umfasst mit einem Vorwort von Univ.-Prof. Dr. Reinhard R. Heinisch rund 600 Seiten und ist über den Buchhandel mit der IBSN 978-3-7020-1708-8 für 34,80 € erhältlich.
Das Buch wird öffentlich vorgestellt:
Buchpräsentation durch den Autor in Linz
mit Lichtbildern Mittwoch, 20. September 2017 Beginn: 19:00 Uhr Volkshaus Kleinmünchen, Dauphinestraße 19, 4030 Linz Medienpartner: Magazin Info-DIREKT
Buchpräsentation durch den Autor in Innsbruck
mit Lichtbildern und Podiumsdiskussion von Zeitzeugen Einführung und Moderation Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt Samstag, 23. September 2017 Gasthof Sailer, Saal Tirol, Adamgasse 8, 6020 Innsbruck Beginn: 19:30 Uhr Veranstalter: Andreas Hofer Bund Tirol (AHBT)
„Standhaft im Gegenwind“
Das ist der Titel eines neuen Buches des Publizisten und Historikers Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Michael Olt, welches am 29. April 2017 auf der Bundesversammlung des Südtiroler Schützenbundes der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Auch die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete darüber:
Eine höchst informative Darstellung der jüngeren Zeitgeschichte Südtirols
Olt hat mit seinem Werk eine Lücke in der Aufarbeitung der jüngeren Zeitgeschichte Südtirols geschlossen. Sein Buch schildert nicht nur die Entwicklung des Südtiroler Schützenwesens, es ist auch eine detaillierte – sich aber nicht in Nebensächlichkeiten verlierende – Darstellung der jüngeren Zeitgeschichte Tirols und liefert eine Fülle von Informationen, die man in zahlreichen anderen Publikationen so nicht vorfindet. Die zeitgeschichtlichen Informationen werden ergänzt durch Bilder, die zum Teil erstmals veröffentlicht werden.
Von den Anfängen zur Gegenwart
Ausgehend von der Schilderung der historischen Ursprünge des Tiroler Schützenwesens und dessen prägenden Beiträgen zur Wehrhaftigkeit, zum Freiheitswillen und somit zur Identität Tirols kommt der Verfasser rasch auf die jüngeren Zeitläufte zu sprechen.
Militärisch trat das Tiroler Schützenwesen letztmals im Jahre 1915 in Erscheinung, als die für den regulären Kriegsdienst zu alten oder zu jungen Freiwilligen in den Reihen der Standschützen Tirol an der Hochgebirgsfront erfolgreich gegen den Überfall des vertragsbrüchigen Königreichs Italien verteidigten.
Die Annexion Südtirols führte zur Auflösung des Schützenwesens und zur Beschlagnahme seines Eigentums durch Italien.
Nach 1945 gelang es Patrioten wie dem unvergesslichen Schützenmajor und späteren Freiheitskämpfer Georg Klotz, das Schützenwesen in Südtirol neu zu beleben. Dies geschah gegen den andauernden Widerstand eines Staates, der zäh sein geistiges faschistisches Erbe verteidigte und den Schützen mit zahlreichen Schikanen und Verboten Steine in den Weg legte.
In Rom war man sich der Bedeutung des Schützenwesens bewusst. Dessen geistiges Erbe war die Bewahrung der Identität, der Freiheit Tirols und das Streben nach Wiedergewinnung der Landeseinheit. Es ging um den Schutz der Heimat. In den Augen der römischen Politiker war dies natürlich Hochverrat. Die Schützen traten für ihre Ziele nun mit geistigen statt militärischen Waffen ein.
Die Reihen der Schützen bildeten sich vorwiegend aus den „kleinen Leuten“ des Landes. Sie waren nicht bestechlich. Sie lebten nicht von der Politik, sondern brachten persönliche Opfer. Ihnen konnte man im Gegensatz zu manchen Parteipolitikern nicht augenzwinkernd politische Gegengeschäfte vorschlagen oder sie durch persönliche Zuwendungen korrumpieren.
Professor Dr. Olt zeichnet nach, wie „Klotz und mutige Gleichgesinnte“ nach der gewaltigen Volkskundgebung von Sigmundskron von 1957 den „Südtiroler Schützenbund“ (SSB) ins Leben riefen. Dabei stand ihnen die damalige Sammelpartei aller Südtiroler, die „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) zur Seite. Der Landeshauptmann Dr. Alois Pupp wurde erster Landeskommandant.
Das Freiheitsstreben des Landes sichtbar gemacht
Das Freiheitsstreben des südlichen Tirols wurde der ganzen Welt vor Augen geführt, als die Schützen auf dem großen Landesfestumzug von 1959 in Innsbruck nicht nur der Taten Andreas Hofers und seiner Mitstreiter vor 150 Jahren gedachten, sondern eine riesige schmiedeeiserne Dornenkrone unter begeisterter Zustimmung der Bevölkerung durch die Straßen Innsbrucks trugen. Die Dornenkrone drückte den Schmerz über die Landesteilung aus – und die Bevölkerung verstand dies sehr gut.
In Rom reagierte man wie zu Mussolinis Zeiten mit Ausrückungsverboten, Versammlungsverboten, Verbot der Schützentrachten, Fahnenverboten und allen sonst erdenkbaren Schikanen.
Der „Südtiroler Schützenbund“ (SSB) musste seine Tätigkeit einstellen. Diese Maßnahmen waren aber nur Teil einer viel größeren Repression, welche die gesamte deutsche und ladinische Bevölkerung Südtirols traf und zu einer unhaltbaren Situation führte, die sich zunächst in einzelnen Anschlägen und schließlich 1961 dann in der „Feuernacht“ des Freiheitskampfes entlud.
Persönliche Opfer
Zahlreiche Schützen wurden verhaftet, von den Carabinieri schwer gefoltert und gingen für viele Jahre ins Gefängnis. An den Folgen der erlittenen Folter starb der Schütze Franz Höfler. Der Schütze Luis Amplatz wurde im Auftrag der italienischen Polizei von einem Agenten heimtückisch im Schlaf ermordet, während der Schütze Georg Klotz sich schwer verletzt retten konnte.
Die Zeit des Freiheitskampfes war auch die Zeit der Unterdrückung des Schützenwesens im südlichen Tirol. Erst ab 1967 konnte der „Südtiroler Schützenbund“ wieder in Erscheinung treten und tat dies in alter Grundsatztreue.
Lösen aus Bevormundung
Der zeitgeschichtliche Berichterstatter Prof. Dr. Olt schildert, wie die Schützen sich aus der Vormundschaft der SVP befreiten, als die Partei sich immer mehr zur Erfüllungspolitik gegenüber Rom bereitfand. Die Schützen indes waren nicht bereit, in ihrer Montur lediglich als farbenprächtiger Aufputz für Parteiveranstaltungen zu dienen. So kam es zu einer allmählichen Loslösung von der SVP.
Verfolgung durch die Staatsmacht
1987 demonstrierte ein überparteiliches Komitee, dem sowohl einige SVP-Funktionäre als auch Schützen angehörten, in Wien anlässlich der internationalen KSZE-Konferenz für das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler.
Die italienische Justiz packte daraufhin den immer noch in Geltung befindlichen faschistischen Repressionsparagraphen 269 des Strafgesetzbuches („Staatsfeindliche Tätigkeit im Ausland“) aus der Mottenkiste der Geschichte und ließ die Demonstrationsteilnehmer verhaften.
Die Spitze der „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) verhielt sich ebenso wie die österreichische Regierungspartei ÖVP mehr als zurückhaltend, um in Rom nicht unliebsam anzuecken.
Letztendlich musste das skandalöse Verfahren nach dem alten Faschistenparagraphen, welches mittlerweile in ganz Europa Aufmerksamkeit erregt hatte, wieder eingestellt werden.
Die Schützen hatten sich die Schneid nicht abkaufen lassen. Im Frühjahr 1991 demonstrierten sie in Bozen für die Entfernung des faschistischen „Siegesdenkmals“ und ließen sich weder durch Anpöbelungen junger italienischen Neofaschisten, noch durch Strafbescheide der italienischen Justiz beeindrucken.
Auch auf dem Alpenregionsfest in Matrei bekräftigten die Schützen ihre Botschaft.
Fernsehübertragungen machten die Tatsache des Weiterbestehens faschistischer Denkmäler in Südtirol in ganz Europa bekannt.
Die Schützen standen und stehen zu ihren Überzeugungen
Am 15. September 1991 fand auf den Wiesen oberhalb des Brennerpasses, welcher das Land Tirol bis heute teilt, eine von der SVP-Spitze abgelehnte Großkundgebung unter der Devise „Nachdenken über Tirol“ statt. Viele tausende Schützen aus allen Landesteilen bekundeten ihr Eintreten für die Selbstbestimmung.
Prof. Dr. Olt schildert in seinem reich bebilderten Werk auch weitere Initiativen der Schützen und öffentliche Kundgebungen, die wiederum Gerichtsverfahren unter Verwendung alter faschistischer Repressionsparagraphen nach sich zogen.
Die Schützen ließen und lassen sich von solchen Schikanen nicht abschrecken. Sie demonstrieren gegen das Weiterleben des Faschismus in Südtirol, gegen die Faschistendenkmäler und fordern öffentlich die Abschaffung der erfundenen faschistischen Ortsnamen
Doppelspiel der Politiker
Die akribische Zeitgeschichtsschreibung Olts fördert zutage, wie die Bestrebungen der Schützen von einigen Politikern südlich wie nördlich des Brenners auf der öffentlichen Bühne vor den Kulissen lauthals gelobt und hinter den Kulissen hintertrieben und sabotiert wurden.
Deutlich wurde diese Taktik, als im Jänner 2006 die Landeskommandanten der Südtiroler wie der Nordtiroler Schützen dem österreichischen Nationalratspräsidenten Andreas Khol (ÖVP) eine Petition überreichten. In dieser wurde erbeten, dass die Republik Österreich einen Passus in ihre Verfassung aufnehme, in welchem das Bekenntnis Österreichs zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts für die Südtiroler festgeschrieben werden sollte.
Das Bedeutsame an der Petition: 113 von insgesamt 116 Südtiroler Bürgermeistern sowie zahlreiche Amtskollegen aus Nord- und Osttirol hatten dieses Begehren mit ihrer Unterschrift bekräftigt.
Der Zeithistoriker Olt schildert im Detail, wie diese Resolution von einigen ranghohen Politikern zunächst vor der Presse laut gelobt, dann aber im Verborgenen sabotiert und letztlich mithilfe eines Geschäftsordnungstricks nicht einmal im Österreichischen Nationalrat behandelt wurde. In ähnlicher Weise wurde mit der Forderung verfahren, die Schutzmachtfunktion Österreichs in der Bundesverfassung zu verankern.
Virtuelle „Landeseinheit“ in den Köpfen statt tatsächlicher Landeseinheit
Das Bestreben, nur ja keine Verstimmung in die Beziehungen zu Rom einfließen zu lassen, führte in der Folge zu seltsamen Selbstdarstellungen von Politikern. Politiker wie Andreas Khol verkündeten und verkünden bis heute unverdrossen, dass die „Landeseinheit“ in der EU bereits erreicht sei. Es gehe nur noch darum, die Grenzen in den „Köpfen und Herzen“ zu beseitigen.
Die Tatsache, dass die italienische Staatsmacht auch nach der Petition der Schützen und Bürgermeister wiederum auf einschüchternde Weise strafrechtlich ermitteln ließ, zeigt die Lächerlichkeit des Versuchs auf, die reale Landesteilung zu leugnen.
Die Schützen widerstehen dem Gegenwind
Eine Politik dauernder Willfährigkeit gegenüber Rom hat in Südtirol zu katastrophalen Ergebnissen geführt. Die einstmals durch ihre Geschlossenheit starke Sammelpartei SVP ist heute geschwächt und hat den Anspruch auf die Gesamtvertretung der Volksgruppe verloren.
Längst schon tritt diese Partei nicht mehr für die Selbstbestimmung Südtirols ein und hat damit ihren Gründungsauftrag aufgegeben.
Prof. Dr. Olt schildert in seinem packend geschriebenen und mit zahlreichen Zeitdokumenten ausgestatteten Werk, wie der Südtiroler Schützenbund durch zahlreiche Auftritte und Aktionen die Forderung des „Los von Rom“ nicht verstummen lässt. Sowohl die Teilnehmerzahlen als auch das publizistische Echo bewirken, dass das Verlangen nach Loslösung von Italien im öffentlichen Raum ein Diskussionsthema bleibt. Meinungsumfragen haben mehrfach bekräftigt, dass im Falle einer Volksabstimmung diese wohl nicht zugunsten Roms ausgehen dürfte.
Prof. Dr. Olt, der als Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ viele Jahre hindurch die Entwicklung in Südtirol vor Ort beobachtet und darüber berichtet hat, entrollt vor dem Leser ein spannendes Szenarium von höchster Aktualität. Wer dieses Buch gelesen hat, kann die jüngsten politischen Entwicklungen in Südtirol besser verstehen. Es ist auch ein tröstliches Buch, denn es berichtet vom Mut und von der Zuversicht unserer Landsleute im von nicht wenigen für besetzt erachteten Süden.
Die Schützen widerstehen dem Gegenwind. Sie widerstehen Schikanen und Verfolgung, und sie lassen sich durch das Versagen eigener Politiker nicht entmutigen.
Das letzte Wort ist in Bezug auf die Zukunft dieses Landes noch nicht gesprochen. Vor allem auch dank der Schützen!
Das vorliegende Buch des Zeithistorikers Prof. Dr. Olt ist eine fesselnde Darstellung der jüngeren Geschichte des geteilten Landes Tirol und eine wahrhafte Fundgrube an Informationen, die aus der Zeitgeschichtsschreibung und aus der politischen Publizistik bisher ausgeblendet wurden.
Bibliographische Angaben:
Reinhard Olt: „Standhaft im Gegenwind – Der Südtiroler Schützenbund und sein Wirken für Tirol als Ganzes“
Verlag Effekt GmbH
Neumarkt a.d. Etsch 2017 364 Seiten, Format 260×235 mm; Hardcover, illustriert; 25.- Euro
ISBN 978-88-97053-39-2
Die italienischen Geheimdienste und die „Strategie der Spannung“
Neuere zeitgeschichtliche Veröffentlichungen haben sensationelle Enthüllungen über die provokatorische Rolle italienischer Geheimdienste in den 1960er Jahren gebracht.
Zu dem lange Zeit als mysteriös betrachteten Geschehen auf der Porze-Scharte im Jahre 1967 hat Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt nachstehende Untersuchung zur Verfügung gestellt. Der Autor lehrt an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE) in Budapest
Italienische Manipulationen
50 Jahre nach dem Vorfall auf der Porzescharte wäre es höchst an der Zeit, dass Österreich für die völlige Rehabilitierung der damals zu Unrecht Verurteilten sorgte
Von Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt
Am Abend des 24. Juni 1967 steigen der Arzt Dr. Erhard Hartung, der Elektrotechniker Peter Kienesberger und der Unteroffizier des österreichischen Bundesheeres Egon Kufner auf zur Porzescharte. Der als unbewacht geltende Grenzkamm zwischen dem Osttiroler Bezirk Lienz und der italienischen Provinz Belluno wurde seinerzeit von Kämpfern des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) als Nachschub- und Fluchtweg benutzt.
Kienesberger, der Anführer der Gruppe, war, wie die drei später aussagten, kurzfristig davon verständigt worden, dass auf der Porzescharte ein verwundeter BAS-Aktivist zur Weiterbehandlung in Österreich übernommen werden müsse. Daher nähern sie sich bis auf eine ungefähre Gehzeit von einer halben Stunde dem Grenzgebirgsübergang zwischen Österreich und Italien. In einer geschützten Mulde lässt Kienesberger seine Kameraden zurück und tastet sich noch ein Stück Wegs weiter nach oben, um , wie üblich, Funkkontakt mit den am Grat vermuteten wartenden Südtirolern aufzunehmen. Doch Antworten auf Funksignale bleiben aus, stattdessen gewahrt er oben kurz aufscheinendes Licht von einer Taschenlampe oder einem Feuerzeug und vernimmt Geräusche sowie Stimmen. Dies kommt ihm ungewöhnlich vor, denn Südtiroler Kameraden hatten sich stets lautlos verhalten und kein Licht gebraucht, weshalb Kienesberger der Sache misstraut, sie abbricht und mit seinen Kameraden in die Ortschaft Obertilliach zurückkehrt. Dort besteigt die Gruppe eine Stunde nach Mitternacht, mithin am 25. Juni, jenen von dem Studenten Christian Genck chauffierten VW Käfer, mit dem sie gekommen waren.
Just am 25. Juni sollen – so die offizielle und letztlich für die Gruppe verhängnisvolle italienische Darstellung – auf besagter Porzescharte (ital. Benennung „Cima Vallona“) vier italienische Soldaten zu Tode gekommen und einer verletzt worden sein. Aufgeschreckt von einer nächtlichen Detonation seien sie zum Grenzübergang geeilt, wo – wie ein Jahr zuvor – ein Strommast gesprengt worden war. Einer der Männer, der Alpini-Soldat Armando Piva, war diesen Angaben zufolge durch die Detonation einer vergrabenen Sprengfalle schwer verletzt worden und noch am selben Tag gestorben. Angehörigen einer eingeflogenen Spezialeinheit sei dasselbe passiert: Carabinieri-Hauptmann Francesco Gentile und die Fallschirmjäger Mario di Lecce und Olivo Dordi hätten eine zweite Sprengfalle ausgelöst: Dabei seien sie getötet sowie ihr Kamerad Marcello Fagnani, ein vierter Angehöriger des Kommandos, schwer verwundet worden.
Freispruch in Österreich, lebenslang in Italien
Des von Politik, Sicherheitsbehörden und Militär in Italien und Österreich sowie in Medien beider Länder und darüber hinaus so genannten „blutigsten Attentats des Südtirol-Terrorismus“ werden daraufhin der im Zusammenhang mit früheren BAS-Aktionen namhafte Kienesberger, der bis dahin unauffällige Dr. Hartung sowie Kufner bezichtigt, (in Österreich) inhaftiert und schließlich sowohl in Österreich, als auch in Italien angeklagt. In Florenz lautet das Urteil für Kienesberger und Hartung lebenslänglich, Kufner soll für 24 Jahre hinter Gitter. Die drei waren durch „Geständnisse“ belastet worden, welche zwei im Keller der Carabinieri-Kaserne in der Bozner Drusus-Straße gefolterte österreichische BAS-Aktivisten unterzeichnet hatten.
Die „Behandlungen“ durch mehrere Folterer und in mehrtägiger Dunkelhaft – über einen Tisch gespannt und mit brutalen Schlägen auf die Genitalien sowie der Drohung der „Erschießung auf der Flucht“ gefügig gemacht, um nur weniges aus dem „Werkzeugkasten“ der besonders bei Südtirolern angewandten „Cautio criminalis“ – ließen sie Protokolle unterschreiben, welche der berüchtigte Bozner Untersuchungsrichter Mario Martin, den nicht nur der Schriftsteller Rolf Hochhuth sowie der Strafrechtler Ingo Müller oder der Kriminologe Arthur Kreuzer einen „furchtbaren Juristen“ nennen würden, zu deren Anklage verwendete; zudem waren sie im Verfahren zu Florenz von Bedeutung. (Erschütternd ein Zeitzeugenbericht hier und hier.)
Die florentinischen Urteilssprüche ergingen in Abwesenheit der Angeklagten und fußten auf Gesetzen aus der Zeit des italienischen Faschismus. Aufgrund späterer Erkenntnisse/Urteile österreichischer und deutscher Höchstgerichte verstieß das Verfahren in Florenz vor allem dadurch, dass die Angeklagten nicht zur Hauptverhandlung geladen wurden und ihnen weder die Anklageschrift noch das Urteil zugestellt worden war, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
In Österreich hingegen wurden die Drei freigesprochen. Der Freispruch war – wider gewisse justizielle Bemühungen, welche heute weithin als konstruiert, politisch beeinflusst und zudem auf fingierten italienischen „Beweismitteln“ beruhend gelten dürfen, die Täter mittels Schuldnachweis zu überführen – letztlich auf ein mittels Sachverständigengutachten untermauertes Hauptargument der Verteidigung zurückzuführen.
Dieses förderte zutage, dass die den Dreien zur Last gelegten Taten im mehrfach bezeugten Zeitrahmen nicht zu bewerkstelligen war, wofür die Anwälte das gutachterliche Weg-Zeit-Diagramm ins Feld führen konnten. Ein weiteres von der Staatsanwaltschaft auf dem Einspruchswege in Gang gesetztes Gerichtsverfahren ließ der österreichische Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger 1975 endgültig einstellen.
Neue Forschungsergebnisse stellen vieles in Frage
Die italienische Verurteilung vom 15. Mai 1970 ist indes nach wie vor in Kraft; Würden Hartung und Kufner nach Italien reisen – Kienesberger ist am 14. Juli 2015 verstorben – müssten sie mit Verhaftung rechnen. Sie gelten nach wie vor als „Terroristen“, „Attentäter“, „Mörder“ – nicht allein im Stiefelstaat und dessen (zumindest unter rechtshistorischem Aspekt) fragwürdiger Justiz, sondern auch weithin in der Publizistik und, was ebenso schlimm ist, in der wissenschaftlichen Südtirol-Geschichtsschreibung. Die vor vier Jahren publizierten akribischen Forschungsergebnisse des österreichischen Militärhistorikers Hubert Speckner („Zwischen Porze und Roßkarspitz…“ Der „Vorfall“ vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten; Wien, Verlag Gra&Wis, 2013 ) zur Causa vermochten daran wenig zu ändern.
Zu hoffen ist, dass seine jüngst erschienene, großformatige Publikation (Von der „Feuernacht“ zur „Porzescharte“. Das „Südtirolproblem“ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten; Wien, Verlag
Gra&Wis, 2016), in welcher Speckner auf nahezu 800 Seiten anhand zahlreicher damaliger Geschehnisse offenlegt, wie Italien (nicht nur) während der „Bombenjahre“ in Südtirol manipulierte und täuschte, das zeitgeschichtliche Bild endlich zu revidieren vermag. Seine Erkenntnisse, Ertrag langjähriger umsichtiger und disziplinierter Quellenstudien im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik – Auswertung von der breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglichen Beständen der Staatspolizei (StaPo) und der Justiz sowie von einschlägigen Dokumentationen des Entschärfungsdienstes des Innenministeriums sowie von „streng geheimen“ Beständen des Verteidigungsministeriums über den Einsatz des Bundesheeres an der Grenze zu Italien anno 1967 – unter Einbeziehung neuerlicher Expertisen von Spreng(mittel)sachverständigen und mehrerer militärfachlicher Erkundungen des Geländes rund um die Porzescharte, zeigen nämlich klipp und klar, dass die amtliche italienische Darstellung von einst nie und nimmer der Wahrheit entspricht.
Justitielle Fernwirkung
Es wäre daher an der Zeit, von Wien, Innsbruck und Bozen aus alles zu unternehmen, um Rom dazu zu bewegen, besagtes florentinisches Fehlurteil, das eines Rechtsstaats(anspruchs) unwürdig ist, zu annullieren. Zumal da es jüngst in einer anderen Causa just ad personam Hartung ganz offensichtlich auf eine höchst zweifelhafte mehrinstanzliche justitielle Entscheidungen zwischen Bozen, Trient und Rom seine negative zeitliche Fernwirkung entfaltete. Wie das? Die von der in Australien lebenden Österreicherin Dr. Helga Christian gegründete „Laurin-Stiftung“ greift seit Jahren in Nöten befindlichen Personen, Verein(igung)en und Verbänden Südtirols ideell und finanziell unter die Arme, was gewissen Politikern, politisch-korrekten Journalisten und den Interessen der römischen Staatsmacht vorauseilend willfahrenden Justizbeamten im „Alto Adige“ ein Dorn im Auge war und ist. Weshalb (der vermeintliche „Porze-Attentäter“) Hartung, Kuratoriumsmitglied der Stiftung, unlängst wiederum in Italien zu einer sechsmonatige Haftstrafe verurteilt worden ist, wohin ihn Österreich indes immerhin nicht ausliefert.
Was gegen Italiens Darstellung spricht
Im Rückblick auf die Geschehnisse von vor nunmehr 50 Jahren ist es Speckners Forschungsergebnissen zufolge höchst zweifelhaft, ob seinerzeit die vier „Attentatsopfer“ überhaupt auf der Porzescharte zu Tode gekommen waren. Weder die österreichische noch die italienische Seite legte in den in Österreich stattgehabten Gerichtsverfahren Totenscheine, Obduktionsbefunde oder eine amtliche Tatortbeschreibung vor.
Innenminister Dr. Franz Hetzenauer (ÖVP) und Dr. Stocker von der Sicherheitsdirektion Tirol (Fernschreiben an das Innenministerium vom 28.06 1967), sowie der Osttiroler Bezirkshauptmann Dr. Othmar Doblander ( Bericht vom 27.06.1967), die unmittelbar nach der italienischen Geschehensmeldung unabhängig voneinander den Tatort besichtigten und dort nichts gewahrten, was nach Tod und Verderben aussah, wurden nicht zu den 1968 beginnenden mehrinstanzlichen Prozessen geladen und ihre Berichte offensichtlich bewusst zurückgehalten.
Diese belegen, dass der angebliche Tatort ungesichert war und anders aussah, als ihn die eingesetzte italienisch-österreichische „Untersuchungskommission“ vorfand, die ihn erst nach zehn Tagen (sic!) in Augenschein nahm. Was den (parteifreien) damaligen österreichischen Justizminister Prof. Dr. Hans Richard Klecatsky († 23. 04. 2015) davon überzeugt sein ließ, dass es sich bei dem „angeblichen Attentat um eine rein inneritalienische Manipulation auf der Porzescharte“ handelte, womit er aber in der ÖVP-Regierung Klaus kein Gehör fand.
Aus den von Speckner erstmals ausgewerteten Quellen geht hervor, dass sich in den Erhebungen dieser „Untersuchungskommission“ zahlreiche Unstimmigkeiten finden und dass sich vieles von dem, was den damaligen Justizverfahren gegen die „Attentäter“ zugrunde gelegt worden war, so nicht ereignet haben konnte. Es ergaben sich aus seiner Untersuchung objektive Befunde, welche den Aussagen von Zeugen, besonders jenen des italienischen Militärs, diametral entgegenstehen. Andere Befunde lassen sich nicht zweifelsfrei klären/objektivieren, da italienische (Geheimdienst-)Akten – weil „Secreto di Stato“ (Staatsgeheimnis) – unzugänglich sind.
Manöver-Unglück oder „Gladio“-Aktion?
Ob es sich tatsächlich um ein Attentat, um ein Manöver-Unglück auf dem Kreuzbergsattel (ital. „Passo di Monte Croce di Comelico“), wo das italienische Heer eine Verminungsübung durchführte, oder um eine Falle für Südtiroler Freiheitskämpfer gehandelt hat, in die dann, bedingt durch schlechte Koordination, eigene Leute hineinliefen, oder ob es eine Geheimdienst- bzw. „Gladio“-Aktion im Rahmen der „Strategie der Spannung“ war, bei der selbst das Leben eigener Leute in Kauf genommen ward: Das dürfte erst verifizierbar sein, wenn Italien die entsprechenden Archivalien, sofern nicht ohnehin längst vernichtet, freigibt. Erhebliche Zweifel an der offiziellen Version hegten neben österreichischen Blättern – zumindest anfangs – auch italienische Journalisten wie etwa Giuseppe Gaddi.
Der Wiener „Expreß“ meldete, die österreichischen Behörden gelangten immer mehr zu der Überzeugung, dass der angebliche „Terroristenanschlag“ in Wahrheit ein Unglück gewesen sei:
„Inzwischen sind Zweifel an der Echtheit des Attentats aufgetaucht. Die österreichischen Behörden glauben immer mehr, daß der Terroristenanschlag ein Unglück war. Aussagen bestätigen, daß zur Zeit der Explosion italienische Fallschirmjäger ganz in der Nähe eine militärische Übung abhielten. E-Werks-Angestellte hätten auch keinerlei Fußspuren am Tatort feststellen können.“
Und die „Tiroler Tageszeitung“, alles andere als den Südtiroler Freiheitskämpfern wohlgesonnen, blieb aufgrund eigener Recherchen beharrlich dabei, dass es sich bei dem Vorfall um ein Unglück gehandelt
habe: Der sich ständig widersprechende Kommandant des zuständigen IV. Armee-Korps, General Marchesi, und die ebenso wechselnden Aussagen der amtlichen italienischen Nachrichtenagentur ANSA seien dafür Hinweis genug.
Tatsächlich hatte ANSA am Nachmittag des 26. Juni, also ein Tag nach dem Vorfall auf der Porzescharte, gemeldet, die vier Soldaten seien bei einem „Manöver-Unglück“ (!) am Kreuzbergsattel ums Leben gekommen seien. Wenig später wurde diese Meldung zurückgezogen, statt des Unglücks nun ein Attentat und als Ort des Geschehens die Porzescharte genannt.
Vorwand, Wien unter Druck zu setzen
Plausibel begründet lautet daher eine von Speckners Hypothesen, die auf dem unweit gelegenen Kreuzbergsattel einem Unfall zum Opfer Gefallenen könnten herbeigeschafft worden sein, um im damals angespannten bilateralen Verhältnis Rom-Wien Österreich der „Begünstigung von Terroristen“, ja selbst des „Staatsterrorismus“ zu bezichtigen. Politisch nahm Italien das angebliche „Porze-Attentat“ zum Vorwand, um sein Veto gegen den Beginn von Verhandlungen über Österreichs EWG-Assoziierungsbegehr einzulegen.
Außenminister Amintore Fanfani hatte die italienische Delegation bei der Hohen Behörde der Montanunion, dem Vorgängerorgan der EG-Kommission, am 28. Juni angewiesen, sich der Aufnahme von Verhandlungen mit Österreich, dessen Regierung am 15. Dezember 1966 einen entsprechenden Antrag gestellt hatte, so lange zu widersetzen, bis Wien bewiesen habe, dass sein Staatsgebiet „nicht länger als Operationsbasis der Terroristen diene, die in Italien Attentate verübten“.
Am 1. Juli unterrichtete er seine Botschafter in den EWG-Staaten, dass Rom weitere Verhandlungen Österreichs mit der EWG nicht zulassen werde, bis Wien widerlegen könne, dass sein Territorium „zur Vorbereitung und Verherrlichung von Terrorakten sowie Beherbergung für die Südtirol-Attentäter“ diene.
Im Zeichen des italienischen Kampfes gegen die sogenannten „Südtirol-Terroristen“ wurde das vermeintliche Ereignis auf der Porzescharte also genutzt, um Österreich politisch unter Druck zu setzen. Infolgedessen erhielt das Bundesheer den Auftrag, unter dem Kennwort „Grenzeinsatz Süd“ den Gendarmerie-Einheiten bei Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen zu assistieren.
Regierung Klaus: Staatspolitisch notwendige Vorgangsweise
Die ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus (1966-1970) war sichtlich bemüht, den Konflikt möglichst rasch beizulegen. Der Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (1963-1987), sein Parteifreund, musste Einsicht für die „staatspolitisch notwendige Vorgangsweise“ zeigen, wenngleich er BAS-Leute in Schutz nahm und ihnen die Flucht nach Bayern ermöglichte.
Der aus Tirol stammende Innenminister Franz Hetzenauer (ÖVP) war in einer delikaten „Zwittersituation“, wie er es selbst nannte. Österreich übernahm noch vor Erstellung des ersten „Tatort“-Protokolls der italienisch-österreichischen „Untersuchungskommission“ auf der Porzescharte mit Ministerratsbeschluss vom 4. Juli die offizielle italienische Darstellung, erklärte das Ereignis zu einem „Anschlag“ und fahndete nach den vermeintlichen Attentätern. Wiewohl das von Italien an Österreich übergebene „Beweismaterial“ mehr Zweifel hätte entstehen lassen als Klarheit erbringen müssen, wurden die drei „Tatverdächtigen“ Kienesberger, Hartung und Kufner verhaftet. Und im Rahmen der österreichischen Porzescharten-Prozesse wurden Richter von Regierungsseite nachweislich darauf aufmerksam gemacht, dass eine Verurteilung „außenpolitisch von Vorteil“ wäre.
„Strategie der Spannung“
Der Vorfall auf der Porzescharte passte im Rahmen der gesamten Südtirol-Problematik auch nur allzugut in die „Strategie der Spannung“. Mit der „strategia della tensione“ trachteten verschwörerische Kreise – organisiert in geheim(bündlerisch)en Vereinigungen neofaschistischen Zuschnitts wie „Ordine nuovo“ und Avanguardia Nazionale“, aber auch verankert in Teilen italienischer Dienste sowie des geheimen „Gladio“-Netzwerks des Militärs – danach, die gesellschaftliche Unterfütterung für einen (letztlich erfolglos gebliebenen) Wechsel in Italien hin zu einem autoritären Regime zu bereiten. Im Rahmen dieser Strategie gab es durchaus nicht wenige „getürkte“ Attentat(sversuch)e, von denen Senator Marco Boato im 1992 veröffentlichten parlamentarischen Untersuchungsbericht auch auf Südtirol bezogene auflisten ließ.
Höchst aufschlussreich sind Passagen, in denen die Namen der besonders in die verschwörerischen Südtirol-Aktivitäten involvierten Personen aufgelistet sind und in denen der Carabinieri-Oberst Amos Spiazzi bekundet, dass „der Staatsapparat in den Südtirol-Terrorismus involviert gewesen“ sei.
Schon 1990 hatte der venezianische Untersuchungsrichter Felice Casson aufgrund seiner Recherchen in den Archiven des Militär-Abschirmdienstes SISMI die Existenz einer „geheimen komplexen Struktur innerhalb des italienischen Staates“ aufgedeckt, 622 Gladio-Mitglieder namhaft gemacht und herausgefunden, dass
– Mitarbeiter des SISMI respektive der Vorgängerorganisationen SID und SIFAR
– Mitglieder neofaschistischer Organisationen wie „Avanguardia Nazionale“ und „Ordine Nuovo“
– Angehörige des Gladio-Netzwerks, die u. a. in Gruppierungen wie API (Associazione Protezione Italiani) und MIA (Movimento Italiani Alto Adige) wirkten,
zwischen 1960 und 1980 „zahlreiche politisch motivierte Terroranschläge und Morde in Italien begangen“ hatten. Oberster Drahtzieher war General Giovanni De Lorenzo, ursprünglich Leiter des Militärgeheimdienstes SIFAR, danach Kommandeur der Carabinieri-Truppe, aus der heraus er Vertrauensleute ins Gladio-Netz einschleuste.
Geheim(dienstliche)e Umtriebe
Der Gladio-Prozeß in Rom 1994 warf ein bezeichnendes Licht auf die Umtriebe De Lorenzos und seiner Mannen, auch in Südtirol. Angeklagt waren unter anderen General Paolo Inzerilli, ehemaliger SISMI-Chef und Kommandeur der illegalen Gladio-Einheiten sowie das Gladio-Mitglied Francesco Stoppani. Eigens dazu angeworben, sollte Stoppani Kienesberger entweder nach Italien entführen oder liquidieren. Inzerilli hatte in dem Verfahren die früheren Minister Attilio Ruffini und Virginio Rognoni – beide bekleideten in diversen Kabinetten Ministerämter – beschuldigt, von alldem gewusst zu haben. Schließlich und endlich stellte Peppino Zangrando, als Präsident der Belluneser Anwaltskammer von hoher Reputation, in der „Causa Porzescharte“, in der er jahrelang recherchiert hatte, ein Attentat des BAS in Abrede. 1994 wollte er den Fall neu aufrollen, sein Wiederaufnahmeantrag scheiterte aber an der Staatsanwaltschaft.
Erlittenes Unrecht
Was folgt aus alldem? Der BAS hat 1967 auf der Porzescharte kein Attentat verübt. Die dafür verantwortlich gemachten Personen (Prof. Dr. med. Erhard Hartung, Egon Kufner sowie der mittlerweile verstorbene Peter Kienesberger) sind zu Unrecht verfolgt worden. Ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen, das sich offenkundig anders denn offiziell dargestellt abspielte, wäre es an der Zeit, das florentinische Schandurteil aus der Welt zu schaffen, mit denen sie gänzlich wahrheits- und rechtswidrig für eine offenkundig nicht begangene Tat verurteilt und damit zu Mördern gestempelt worden sind. Es versteht sich daher eigentlich von selbst, dass die trotz Freispruchs (in Österreich) nach wie vor mit dem Makel der Täterschaft behafteten und in ihrer persönlichen (Reise-)Freiheit eingeschränkten Personen endlich offiziell und überdies öffentlich vernehmlich zu rehabilitieren sind.
Ein aus dem Österreichischen Nationalrat (Parlament) heraus an den damaligen Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) gerichteter dahingehender Versuch des FPÖ-Abgeordneten Werner Neubauer vom 17.12.2013 erwies sich als ergebnislos. Faymann gab sich in seiner schriftlichen Antwort vom 17.02.2014 (GZ: BKA-353.110/0008-I/4/2014) auf Neubauers umfangreichen Fragenkatalog ahnungslos – sowohl gegenüber den Erkenntnissen aus Speckners Forschungsergebnissen, als auch gegenüber Fragen nach eventuell vorliegenden Unterlagen zur „Intervention des Kanzlers Klaus bezüglich der Prozessführung durch den Richter Dr. Kubernat im Dezember 1968 beim Landesgerichtspräsidenten“. Und in allen anderen Fragen erklärte Faymann das Kanzleramt für unzuständig.
Leisetreter am Ballhausplatz
Auch an das österreichische Staatsoberhaupt gerichtete Anfragen erwiesen sich letztlich als nicht zielführend. Der damalige Bundespräsident Dr. Heinz Fischer hatte zwar, „Auftrag gegeben, diesesBucheingehend zu studieren. Erst nachher wird die Beurteilung der Frage möglich sein, ob sich über den bisher schon bekannten Sachverhalt hinaus neue Gesichtspunkte in dieser Angelegenheit ergeben.“, wie er am 28. August 2013 an den „sehr geehrten Herrn Klubobmann des Freiheitlichen Parlamentsclubs, Abg. z. NR Heinz-Christian Strache, FPÖ Bundesparteiobmann“ schrieb.
Doch am 7. Februar 2014 teilte er diesem mit: „Wie ich in meinem Schreiben vom 28. August 2013 in Aussicht gestellt habe, wurde dieses Buch von Mitarbeitern der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei durchgelesen. Ein Beweis dahingehend, dass die vom italienischen Geschworenengericht verurteilten Personen nicht ,die Täter gewesen sein konnten‘, ist aus dem Buch nach Ansicht meiner Mitarbeiter nicht eindeutig abzuleiten. Was mögliche Begnadigungen anlangt, darf ich auf die Ihnen bekannten, bisher schon gesetzten Schritte hinweisen. Ich werde dieses Thema bei geeigneten Gelegenheiten auch in Zukunft im Auge behalten.“
Auf neuerliches Nachsetzen des Abgeordneten Neubauer (Schreiben vom 1. 12. 2014) ließ Fischer am 12.12. 2014 seinen „Berater für europäische und internationale Angelegenheiten“, Botschafter Dr. Helmut Freudenschuss, antworten (GZ S130040/221-IA/2014).
Darin hieß es, es gehe „nicht um die Bewertung des Buches, sondern ausschließlich darum, ob die darin enthaltenen Ausführungen über die bereits gesetzten Schritte hinaus eine weitere Intervention gegenüber den italienischen Organen nahelegt. Sie wissen sicher, dass der Herr Bundespräsident das Thema der Begnadigungen immer wieder – zuletzt am 11. November 2014 – im Gespräch mit dem italienischen Staatspräsidenten zur Sprache gebracht hat. Die italienischen Vorbedingung – nämlich Gnadengesuche der Betroffenen – ist aber offenbar nicht erfüllbar.
Unziemliche Empfehlungen und Schande für Österreich
Seit Jahren raten und/oder empfehlen regierende österreichische Bundes- und Landespolitiker (vornehmlich jene Tirols und zuvorderst jene von ÖVP und SPÖ), aber auch Politiker des 1919 von Italien annektierten südlichen Teils Tirols, vorzugsweise jene der Südtiroler Volkspartei (SVP), „Betroffenen“, deren Taten – seien sie bewiesen oder unbewiesen; seien sie begangen oder nichtbegangen; seien sie von BAS-Aktivisten verübt oder diesen durch italienische Manipulationen untergeschoben worden – bereits ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegen, mögen doch bitteschön Gnadengesuche einreichen. Mit Verlaub – das ist Chuzpe.
Abgesehen davon, dass italienische Staatsoberhäupter längst Terroristen aus den Reihen der „Roten Brigaden“ respektive aus dem rechtsextremistischen Milieu begnadigten, sich bisher aber stets ablehnend gegenüber den letzten Verbliebenen Südtirolern wie etwa den legendären „Pusterer Buben“ verhielten, setzt der Gnadenakt für Südtirol deren Gnadengesuch voraus. Alle unrechtmäßig Beschuldigten und zudem menschenrechtswidrig Verurteilten – und um solche handelt es sich bei den drei „Betroffenen“ der „Causa Porzescharte“, von denen nurmehr Univ.Prof. Dr. med. Erhard Hartung und Egon Kufner unter den Lebenden weilen – wären doch von allen guten Geistern verlassen, so sie um Gnade bettelten für eine Tat, die sie nicht begangen haben.
Dass indes maßgebliche Organe der Republik Österreich, die sich damals schon hasenfüßig und Italien gegenüber unterwürfig verhielten, auch 50 Jahre danach noch ihrer Fürsorgepflicht für zwei ihrer jahrelang politisch und justitiell verfolgten Staatsbürger (offenkundig) nicht nachkommen (wollen), darf man mit Fug und Recht eine Schande nennen.
„Von der ,Feuernacht‘ zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirol-Problem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“
Militärhistoriker Oberst Mag. Dr. Hubert Speckner
Eine sensationelle Dokumentation beleuchtet die Rolle italienischer „Dienste“ in der Zeit des Südtiroler Freiheitskampfes der 1960er Jahre
Am 28. November 2016 stellte der österreichische Militärhistoriker Oberst Mag. Dr. Hubert Speckner von der Österreichischen Landesverteidigungsakademie einem interessierten Fachpublikum in Wien ein neues Buch brisanten Inhalts vor.
Bereits 2013 hatte ein Werk des Autors Aufsehen erregt. In der Dokumentation „Zwischen Porze und Roßkarspitz …“ hatte Speckner anhand reichlich vorhandener sicherheitsdienstlichen Archivalien Österreichs und mithilfe persönlicher „Tatort“-Begehungen und Beiziehung von Sprengsachverständigen nachgewiesen, dass ein angeblicher Anschlag österreichischer Täter auf der Porzescharte mit vier italienischen Opfern am 25. Juni 1967 nicht so stattgefunden haben konnte, wie es die offiziellen italienischen Darstellungen schilderten. Zudem konnten die von Italien beschuldigten und in der Folge in Abwesenheit verurteilten Österreicher Speckners Untersuchungen auf keinen Fall die „Täter“ gewesen sein.
Speckners neues in Wien vorgestelltes Werk trägt den Haupttitel „Von der Feuernacht zur Porzescharte“ und den Untertitel „Das ‚Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“.
Speckner hatte auch diesmal Zugang zu allen relevanten und Jahrzehnte lang geheimen sicherheitsdienstlichen Unterlagen der Republik, welche sich mit Anschlägen in Südtirol während der Zeit des Freiheitskampfes befassten.
Italienische Geheimdienste hatten bei „verwerflichen“ Anschlägen die Hand im Spiel
Das Ergebnis der Aktenauswertung ist sensationell: Bei einer ganzen Reihe von Anschlägen, welche gezielt auch Zivilbevölkerung in Gefahr gebracht hatten oder hätten bringen können, haben offenbar italienische „Dienste“ ihre Hand mit im Spiel gehabt. Hier war es darum gegangen, die „terroristi altoatesini“ als gewissenlose und verruchte Täter darzustellen, welche auf die Vernichtung von Menschenleben abzielten.
Tragische Unfälle, denen Menschenleben zum Opfer gefallen waren, wurden nachträglich in „Terroranschläge“ umgewandelt.
In anderen Fällen ließ sich eine provokatorische Steuerung im Hintergrund erkennen.
Speckner dokumentiert auch Anschläge, die von italienischen Neofaschisten verübt worden waren und bei denen versucht worden war, sie Österreichern in die Schuhe zu schieben.
Als Oberst Dr. Speckner bei der Buchvorstellung einige besonders augenfällige Beispiele brachte und mit österreichischen sicherheitsdienstlichen Erkenntnissen und Unterlagen untermauerte, waren die Zuhörer gepackt und auch erschüttert.
Hochrangige Diskussionsteilnehmer betonten den Wert des Südtiroler Freiheitskampfes
Einführend wurde Speckners Werk von dem langjährigen Österreich-Berichterstatter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem Univ.-Prof. Dr. Reinhard Olt vorgestellt. Am Präsidium saß Roland Lang vom „Südtiroler Heimatbund“ (SHB), einer von ehemaligen politischen Häftlingen Südtirols gegründeten Vereinigung, welche für das Selbstbestimmungsrecht Südtirols eintritt.
An seiner Seite saßen der ehemalige österreichische Außenminister Dr. Peter Jankowitsch (SPÖ), der ehemalige österreichische Generalkonsul in Mailand Dr. Franz Matscher sowie der ehemalige Südtiroler Landesrat Dr. Bruno Hosp (SVP). Im Plenum befanden sich der ehemalige österreichische Justizminister Dr. Harald Ofner (FPÖ) und der ehemalige Verteidigungsminister Dr. DI Helmut Krünes (FPÖ).
Diese kompetenten Zeitzeugen lieferten wertvolle Diskussionsbeiträge:
Roland Lang betonte die Wichtigkeit der Enthüllungen des Buchautors Oberst Speckner. Er habe zahlreiche Protagonisten des damaligen Geschehens persönlich kennen gelernt. „Ich habe nie geglaubt, dass es sich um ruchlose Mörder gehandelt hat. Man darf Ihnen, Herr Oberst Speckner sagen: Vergelt’s Gott!“
Die Anschläge hätten bewirkt, dass die italienische Seite einer Kompromisslösung habe zustimmen müssen. Das Ergebnis sei die derzeitige Autonomie. Die Freiheitskämpfer seien nach vielen Jahren dann im Rückblick durch Landeshauptmann Dr. Magnago rehabilitiert und ihre Verdienste seien anerkannt worden.
Dr. Peter Jankowitsch erklärte, Speckners Forschungsergebnisse seien „ein sehr wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung dieser Periode.“
Es sei damals das Bestreben Italiens gewesen, „alles in die Ecke des Pangermanismus zu stellen. Dies wurde durch Außenminister Dr. Bruno Kreisky verhindert, welcher die ungelöste Südtirol-Frage vor die Vereinten Nationen brachte.“ Die Anschläge seien „Verzweiflungsschreie der Südtiroler“ gewesen. „Die Anschläge haben das internationale Interesse geweckt und auch in Italien zu einem Durchbruch geführt.“
Alles was die internationale Aufmerksamkeit erregt habe, sei für die Weiterentwicklung der Südtirol-Frage von größtem Wert gewesen. Beweis dafür sei, dass während der Anschläge die Verhandlungen weitergegangen seien.
„Die Anschläge haben dem Südtirol-Problem sicherlich nicht geschadet, sondern sie haben vielmehr eine Tür geöffnet.“
Dr. Franz Matscher erklärte in der Diskussion, dass es damals zwei bedeutende „Paukenschläge“ gegeben habe: Die Bombenanschläge ab 1960 hätten „Rom in Angst versetzt“. Daraufhin habe der Innenminister Scelba eine Autonomie-Kommission zur Ausarbeitung von Vorschlägen eingesetzt. „Die Sprengstoffanschläge haben dazu geführt, dass es zur 19er Kommission kam.“
Der zweite „Paukenschlag“ sei die Befassung der Vereinten Nationen durch den österreichischen Außenminister Dr. Kreisky gewesen.
Die Befassung der UNO und deren Aufforderung zu italienisch-österreichischen Verhandlungen hätten vor der Weltöffentlichkeit deutlich gemacht, dass es sich hier um kein „inneritalienisches Problem“ gehandelt habe. „Ab nun gab es Verhandlungen, vorher waren es unverbindliche Gespräche gewesen.“
Die „Paukenschläge“ hätten dazu geführt, dass es zu einer Autonomielösung kam. „Die Anschläge waren der Auslöser für die Verhandlungen. Ohne Feuernacht wäre es zu den Verhandlungen nicht gekommen.“
Dr. Bruno Hosp berichtete, dass er anlässlich der Volkskundgebung auf Schloss Sigmundskron im Jahr 1957 gemeinsam mit den Freiheitskämpfern Kerschbaumer, Amplatz und Klotz im Rahmen des „jungen BAS“ tätig gewesen sei.. In der Folge sei es zu den Anschlägen der Herz-Jesu-Nacht gekommen. In dieser Zeit sei er als Student in Wien. „Ich habe aber dann mit erleben müssen, wie es zu den Verhaftungen und Folterungen kam, bei denen auch von völlig Unbeteiligten Geständnisse erzwungen wurden.“
Von italienischer Seite seien alle Südtiroler Freiheitskämpfer von Beginn an unter den Generalverdacht einer neonazistischen Ideologie gestellt worden. Das habe die Betroffenen geschmerzt und auch die Südtiroler Politik stets behindert. Diese Propaganda sei über die Jahre hinweg betrieben worden
„Die Anschläge hatten für uns jedenfalls einen ganz eklatanten Nutzen für den Fortgang der weiteren Verhandlungen, um zu einer verhältnismäßig guten Autonomie zu kommen, von der man jetzt wieder etwas wegschneiden will.“
In Richtung eines von ihm namentlich nicht genannten Zeithistorikers aus Norddeutschland sagte Dr. Hosp: „Man muss schon vom sehr hohen Norden kommen, um nicht einzusehen, dass die Anschläge der Auslöser zur Inangriffnahme der Verhandlungen waren.“
Dr. Hosp dankte den Freiheitskämpfern und dem ehemaligen Justizminister Dr. Ofner vor allem dafür, dass dieser im Rahmen des „Bergisel-Bundes“ mit einer „Südtirol-Lotterie“ wertvolle soziale Hilfe für die Häftlinge und deren Familien geleistet habe.
Über die neueste Speckner-Dokumentation hat uns Professor Dr. Olt dankenswerter Weise eine Abhandlung zur Verfügung gestellt, die wir nachstehend wiedergeben:
Licht auf ein düsteres Kapitel der Zeitgeschichte:
Jüngste Forschungen legen offen, wie Italien während der „Bombenjahre“ in Südtirol manipulierte und täuschte
Von Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt
Geschichte bedarf bisweilen der Revision. Revision heißt, sie aufs Neue in den Blick zu nehmen. Erstmals aufgefundene oder unterbelichtet gebliebene, mitunter auch bisher gänzlich unbeachtete oder dem freien Zugang entzogene Dokumente zeitigen meist erhellende Einblicke und nicht selten ertragreiche Befunde. Wobei die akribische Auswertung und sorgfältige Analyse von ans Licht geholten Fakten jene „Erkenntnisse“ grundlegend erschüttern, worauf die bis dato für sakrosankt erachteten, historiographisch festgeschriebenen wie massenmedial verbreiteten „Wahrheiten“ und/oder Meinungen respektive „Überzeugungen“ beruhten.
Eine derart „revisionistische“ Umschreibung zeitgeschichtlicher Gewissheiten ist nunmehr aufgrund der neuerlichen Inaugenscheinnahme des an Spannungen reichsten Kapitels der jüngeren österreichisch-italienischen Beziehungen zwingend geboten. Im Allgemeinen ist dieses Kapitel vom Südtirol-Konflikt sowie vom Freiheitskampf mutiger Idealisten und im Besonderen von den sogenannten „Bombenjahren“ geprägt gewesen.
Ein österreichischer Militärhistoriker, der sich wie nie jemand zuvor intensiv mit den brisantesten Akten seines Landes über die Geschehnissen der 1960er Jahre befasste, legte dazu soeben eine beeindruckende, großformatige Publikation von nahezu 800 Seiten vor, worin er manches zuvor für sicher, weil „wahr“ Gehaltene ins rechte Licht rückt und damit vom Kopf auf die Füße stellt.
Brisante Akten
Hubert Speckners Buch „Von der ,Feuernacht‘ zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“ (Wien Verlag Gra&Wis 2016; ISBN 978-3-902455-23-9, EURO 49)
ist Ergebnis und Ertrag disziplinierter langjähriger, umfassender Studien im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik. Darüber hinaus erstreckten sie sich auf die – der Öffentlichkeit nicht zugänglichen – Bestände der Staatspolizei (StaPo) sowie der Justiz sowie auf einschlägige Dokumentationen des Entschärfungsdienstes des Innenministeriums und erfassten schließlich auch „streng geheime“ Bestände des Verteidigungsministeriums über den Einsatz des Bundesheeres an der Grenze zu Italien anno 1967.
Daraus ergab sich für den promovierten, an der Landesverteidigungsakademie in Wien tätigen Offizier der Befund, dass der Truppeneinsatz sozusagen den Höhepunkt der „verstärkten Grenzüberwachung“ der Sicherheitskräfte der Republik Österreich nach der „Feuernacht“ (11./12. Juni 1961) in Südtirol bildete, in der Aktivisten des „Befreiungssauschusses Südtirol“ (BAS) in einer konzertierten Aktion mittels Sprengung von ungefähr 40 Hochspannungsmasten die Energieversorgung im Bozner Becken zeitweise lahmgelegt und damit der Industrie Norditaliens partiell Schaden zugefügt hatten.
Von 1961 bis zum Sommer 1967, dem absoluten „Höhepunkt“ der Südtirol-Problematik nach dem Zweiten Weltkrieg, geriet Österreich unter wachsenden Druck durch Italien. Dies führte nach dem „Vorfall auf der Porzescharte“, zufolge dessen gemäß amtlichen italienischen Verlautbarungen am 25. Juni 1967 vier italienische Soldaten den Tod fanden, einerseits zum Veto Italiens gegen die damaligen EWG-Assoziierungsverhandlungen Österreichs, andererseits zur „verstärkten Grenzüberwachung“ durch sein Militär.
Dem Geschehen rund um den Vorfall vom Juni 1967 hatte Speckner bereits sein aufsehenerregendes, 2013 ebenfalls im Verlag Gra&Wis zu Wien erschienenes Buch „Zwischen Porze und Roßkarspitz…“ gewidmet. Anschließend nahm er sich aller vorhandenen sicherheitsdienstlichen Akten zu Südtirol an, denen die maßgebliche zeitgeschichtliche Forschung – entgegen dem weithin erweckten Eindruck, wonach „eigentlich alles gesagt“ sei – ein nur äußerst geringes Interesse entgegengebracht hatte. Daher seien von den akribisch aufbereiteten 48 „aktenkundig“ gewordenen Vorfällen einige exemplarisch vorgestellt, bei denen die aus den Inhalten der jeweiligen österreichischen Dokumente gewonnenen Erkenntnisse massiv von den jeweiligen offiziellen italienischen Darstellungen abweichen.
Vertuschung des wahren Sachverhalts
So hatte Italien mittels einer „diplomatischen Note“ unverzüglich die angebliche „Untätigkeit der österreichischen Sicherheitsbehörden gegen die Terroristen, die von Österreich aus operieren“ angeprangert, als es in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1965 am Reschenpass angeblich zu einem „Angriff von BAS-Aktivisten gegen eine Alpini-Kaserne“ gekommen sein sollte. Indes ergaben die Nachforschungen der StaPo, dass es sich lediglich um eine während einer Feier in der „Manuela Bar“ in Reschen unter angetrunkenen italienischen Soldaten ausgebrochene Streiterei wegen anwesender deutscher Urlauberinnen gehandelt hatte. Einige Soldaten verließen demnach die Bar, holten in der Kaserne ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf das Lokal. Dagegen waren nirgendwo Einschläge oder Schäden durch angeblich von BAS-Leuten geworfene Handgranaten zu registrieren gewesen. Stattdessen hatte der ebenfalls anwesende und ebenfalls alkoholisierte Kasernenkommandant am nächsten Morgen einen „Terroristenüberfall“ gemeldet, um den wahren Sachverhalt zu vertuschen. Und Italien überzog Österreich mit Anschuldigungen. Die Schüsse am Reschenpass wurden fortan und werden bis heute wahrheitswidrig als „BAS-Anschlag“ dargestellt.
Ähnlich verhält es sich hinsichtlich eines Vorfalls, der sich am 23. Mai 1966 am Pfitscherjoch – am Grenzverlauf zwischen Südtiroler Pfitschtal und Nordtiroler Zillertal – zutrug. Laut offizieller italienischer Darstellung löste Bruno Bolognesi, Angehöriger der Guardia di Finanza (Finanzwache), beim Betreten der Schutzhütte nahe der Grenze eine 50-kg-Sprengladung aus, die ihn das Leben gekostet habe. Italien verdächtigte sofort die „Pusterer“, vier BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, und führte ohne Beiziehung österreichischer Sicherheitsbehörden im Zillertal Erhebungen durch. Allerdings existiert auch eine vom Bozner Kommando der Guardia di Finanza zu dem Vorfall angelegte Bilddokumentation, derer die österreichischen Behörden habhaft wurden. Laut unabhängig voneinander vorgenommener Expertisen von Spreng(stoff)sachverständigen belegen diese Aufnahmen – ebenso wie das Foto, welches den toten Finanzer zeigt – allerdings keinesfalls die Explosion von 50 kg Sprengstoff, sondern vielmehr eine Gasexplosion in der Schutzhütte. Nach wie vor beschuldigt Italien besagte BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, weshalb Rom deren Rehabilitierung stets strikt ablehnt(e). Wohingegen die „Strafverfolgung“ für jene italienischen Neofaschisten ans Lächerliche grenzt, die für zweifelsfrei erwiesene Sprengstoffanschläge auf österreichische Einrichtungen – wie am 01. Oktober 1961 auf das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck oder am 18. August 1962 auf das „Russendenkmal“ in Wien, respektive den für einen österreichischen Polizisten tödlichen vom 23. September 1963 am Ebensee – verantwortlich waren.
Ein „Attentat“, das keines war
Der spektakulärste und für die damaligen österreichisch-italienischen Beziehungen folgenschwerste Vorfall trug sich am 25./26. Juni 1967 auf der Porzescharte, am Grenzverlauf zwischen Osttirol und der italienischen Provinz Belluno, zu. Die vorliegenden österreichischen Akten beweisen zweifelsfrei, dass die offizielle italienische Version, wonach die angeblich von drei „Terroristi“ aus Österreich begangene Tat – Sprengung eines Strommastes und Verlegen einer Sprengfalle, bei deren Detonation vier Soldaten getötet und einer schwer verletzt worden sein sollen, so nicht stimmen kann.
Darüber hinaus ging aus mehreren Geländebegehungen und Feldstudien sowie aus der Expertise ausgewiesener Sachverständiger die sprengtechnische Unmöglichkeit dieser bis heute offiziellen Darstellung hervor, was Italien bis zur Stunde ignoriert. Für die Experten gilt es als gesichert, dass sich dort mindestens drei Explosionen ereignet haben müssen. Und es zeigt(e) sich mit einiger Deutlichkeit, dass Angehörige der italienischen „Stay behind“-Organisation „Gladio“ im Zuge der von staatsstreichbeseelten Militärgeheimdienstoffizieren verfolgten „Strategie der Spannungen“ als wahre Verursacher der Geschehnisse gelten müssen, deren Machenschaften in Italien erst zu Beginn der 1990er Jahre publik werden sollten. Was für die 1971 in Florenz zu Unrecht – weil für eine nicht begangene Tat – und darüber hinaus wider die Europäische Menschenrechtskonvention – weil in Abwesenheit – zu lebenslanger Haft verurteilten drei Österreicher, von denen noch zwei am Leben sind, bis zur Stunde folgenlos geblieben ist.
Instrumentalisierte, gezielte Anschuldigungen
Aus dem was Hubert Speckner sorgsam zusammengetragen, gründlich ausgewertet und im Zusammenwirken mit Sachverständigen aufbereitet sowie durch schlüssige Analysen untermauert hat, lassen sich wichtige Erkenntnisse gewinnen und resümierend einige revisionistische Schlüsse ziehen. So fanden Aktionen des BAS ungefähr zeitgleich eine gewisse Parallelität durch italienische Neofaschisten. Umgehend instrumentalisierte Italien vor allem jene Vorfälle mit bis heute nicht einwandfrei geklärten Hintergründe und nutzte sie politisch wie medial gegen Österreich. Hatte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg alles versucht, um die Südtiroler – mit Hinweis auf die zwischen Hitler und Mussolini vereinbarte, aber infolge Kriegsverlaufs verringerte und schließlich zum Stillstand gekommene „Option“ – zu Nazis abzustempeln, so stellt(e) es seit Ende der 1950er Jahre alle BAS-Aktivisten in die rechte Ecke und politisch wie publizistisch unter Generalverdacht des Neonazismus. Was in politischen Milieus Österreichs und Deutschlands von ganz links bis zur Mitte verfing und bis heute anhält und womit den Aktivisten, die aus Verzweiflung ob der kolonialistischen Unterwerfungshaltung auch des „demokratischen“ Nachkriegsitaliens handelten, bis zur Stunde Unrecht geschieht.
Der BAS-Grundsatz, wonach „bei Anschlägen keine Menschen zu Schaden kommen dürfen“, wurde trotz Eskalation der Gewalt zwischen 1961 („Feuernacht“) und 1969 (mehrheitliche Annahme des Südtirol-„Pakets“ durch die Südtiroler Volkspartei) weitestgehend eingehalten. Der Tod nahezu aller während dieser Jahre gewaltsam ums Leben gekommenen Personen ist nicht dem BAS als solchem anzulasten, wie dies fälschlicherweise von der italienischen Justiz und diversen Medien wahrheitswidrig festgestellt sowie verbreitet wurde und noch heute behauptet wird. Stattdessen handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Unfälle – so im Falle des Todes von Bruno Bolognesi in der Pfitscherjoch-Hütte am 23.06.1966 sowie von Herbert Volgger, Martino Cossu und Franco Petrucci am 09.09.1966 auf der Steinalm-Hütte – , um einen Unfall bzw. um eine Geheimdienstaktion – so im Falle des Todes von Olivo Dordi, Francesco Gentile, Mario Di Lecce und Armando Piva auf der Porzescharte am 25./26.06.1967 – und um Geheimdienstaktivitäten wie im Falle des Todes von Filippo Foti und Edoardo Martini im „Alpenexpress“ zu Trient am 30.09.1967. In den Fällen des Todes von Vittorio Tiralongo (03.09.1964) sowie des Palmero Ariu und des Luigi De Gennaro (26.08.1965), schließlich auch des Salvatore Gabitta und Guiseppe D´Ignoti (24.08.1966) sind die allfälligen Strafverfahren ohne Anklageerhebung infolge nicht ausreichender Erkenntnisse ohnedies eingestellt worden.
Verdrehung der Tatsachen
Für einige im Zusammenhang mit der Südtirol-Frage zwischen 1961 und 1963 in Österreich geplante und/oder ausgeführte Anschläge ist dem BAS ursprünglich fälschlicherweise die Täterschaft zugeschrieben worden. Es waren dies die Explosion einer am Denkmal der Republik in Wien angebrachten Sprengladung (30.04.1961); die Sprengung es Andreas-Hofer-Denkmals in Innsbruck (01.10.1961); Schüsse auf die italienische Botschaft in Wien (08.10.1961), Anschlagsversuche am Wiener Heldenplatz (27.12.1961) und auf das sowjetische Ehrenmal („Russendenkmal“) in Wien (18.08.1962) sowie der für den Gendarmen Kurt Gruber todbringende Sprengstoffanschlag in Ebensee (23.09.1963), bei dem es zudem zwei Schwer- und neun Leichtverletzte gab.
Die Taten waren von italienischen Neofaschisten bzw. von österreichischen Rechtsextremisten, die nicht dem BAS angehörten oder mit ihm in Verbindung standen, begangen worden. Ein Zusammenhang zwischen den Anschlägen und dem BAS wurde wahrheitswidrig von ideologisierten Personen sowie von (bewusst) falsch informierten/informierenden Medien in Österreich und nicht zuletzt von italienischen Stellen zur Gänze behauptet, um den BAS zu diskreditieren.
Ranghohe Diskutanten verleihen der Studie den Rang des offiziellen Standpunktes Wiens
Der Südtiroler Freiheitskampf der 1960er Jahre war letztendlich erfolgreich und hat entscheidend zur politischen Lösung des Konflikts („Paket“) beigetragen. Dies ist unlängst während einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion in Wien einmütig und eindrücklich bestätigt worden, in deren Rahmen Speckners voluminöse Studie erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Zugegen waren neben dem vormaligen Außenminister Peter Jankowitsch (am Podium), dem ehemaligen Verteidigungsminister Helmut Krünes und dem einstigen Justizminister Harald Ofner ranghohe Vertreter des Staatsarchivs, der Präsidentschaftskanzlei sowie die Spitzen des Bundesheers und nicht zuletzt einige noch lebende Freiheitskämpfer. Zurecht schrieben daher die „Salzburger Nachrichten“, die Anwesenheit höchster Repräsentanten der Republik bei der öffentlichen Präsentation dieser die jüngere Zeitgeschichtsschreibung zuhauf korrigierenden Studie des Militärhistorikers verliehen ihr den Status des offiziellen Standpunkts Österreichs.
Autor Speckner unterstreicht, dass zum „Höhepunkt“ des Aufbegehrens der BAS-Aktivisten etwa 15.000 Angehörige italienischer Sicherheitskräfte zusätzlich in Südtirol stationiert wurden und somit dort das Militär auf insgesamt etwa 40.000 Mann aufgestockt worden war. Trotzdem war deren Einsatz letztlich praktisch wirkungslos. Aufgrund dieses Umstands hatte der Ruf des italienischen Militärs stark gelitten. Und wegen dieses Gesichtsverlusts und der zusätzlichen enorm hohen Kosten hätten in der italienischen Politik letztendlich die „Tauben“ über die „Falken“ die Oberhand gewonnen, worauf es zurückzuführen gewesen sei, dass unter Aldo Moro eine politische Lösung erreicht werden konnte. Damit und untermauert durch die übereinstimmenden Aussagen der Diskutanten während der Buchpräsentation dürfte auch die von dem Innsbrucker Zeitgeschichtler Rolf Steininger aufgestellte und wider alle Einwände von Zeitzeugen sowie aus der Oral History vertretene These, dass der Südtiroler Freiheitskampf kontraproduktiv gewesen sei – „Trotz und nicht wegen der Attentate wurde die 19er Kommission eingesetzt“ – als widerlegt gelten.
Die moralische Verpflichtung Roms
Auf italienischen Druck hin und aus angeblicher Staatsräson hatte Wien damals wider besseres Wissen in vielen die Südtirol-Frage bestimmenden Angelegenheiten den römischen Forderungen nachgegeben. Und zum Nachteil von Südtirol-Aktivisten war seinerzeit von beteiligten österreichischen Stellen sozusagen aus vorauseilenden Gehorsam, mitunter aber auch aus bestimmten Interessenlagen Recht gebeugt worden. Es wäre daher nur recht und billig, dass Österreich alles unternähme, um auf die völlige Rehabilitation der in Italien zu Unrecht Verurteilten und in aller Öffentlichkeit Stigmatisierten hinzuwirken. Wien sollte zudem offensiv gegenüber Rom auftreten, damit Italien seine diese Zeit betreffenden Archivalien freigibt und seiner moralischen Verpflichtung nachkommt, der Forschung die Möglichkeit zur Revision dieses unsäglich geklitterten Kapitels auch seiner eigenen politischen Geschichte zu gewähren. Schuldig wäre es dies sowohl den fremden wie den eigenen Opfern.
Nachstehend ein Ausschnitt aus dem Medienecho
Die Presse
Südtirol und die Geheimdienste in den Sechzigerjahren
Ein österreichischer Militärexperte hat sämtliche Sprengstoffattentate jener Zeit akribisch analysiert und kommentiert.
02.12.2016 | 19:01 | Hans Werner Scheidl (Die Presse)
Um 22.45Uhr in der Nacht vom 30. April auf den 1.Mai 1961 explodierte an der Rückseite des Denkmals der Republik am Schmerlingplatz in Wien, unmittelbar neben dem Parlamentsgebäude, eine Sprengladung. Der vor dem Parlament wachhabende Polizist sah eine zweieinhalb Meter hohe Stichflamme emporschießen, „begleitet von einer heftigen Druckwelle“. Beschädigt wurde lediglich der Sicherungskasten für die Beleuchtung des Denkmals. Spuren gab es keine, nicht einmal Reste einer Zündvorrichtung.
Für die Staatspolizei war das Ganze ein Rätsel. Was sollte der maschingeschriebene Zettel, der in nächster Nähe, an einen Laternenmast geheftet, gefunden wurde: „Die Einhaltung der Naturgesetze ist heiligste Pflicht. Rassenmischung ist Rassentod. Rassenmischung führt zur Artauflösung. Die Erbmasse steht unter Naturgesetz“?
So beginnt Hubert Speckners spannendes Opus magnum über die Südtirol-Krise der Sechzigerjahre, die „Feuernacht“ vom Juni 1961, den ungeklärten Mordfall auf der Südtiroler Porzescharte, die Folterungen Südtiroler Einheimischer durch die italienische Polizei und das undurchsichtige Spiel der Geheimdienste in diesem Krimi, der für mehrere Jahre zu einer feindlichen Stimmung zwischen Wien und Rom geführt hat, die erst nach einem Bundesheereinsatz und Bruno Kreiskys Auftritt vor der UN-Generalversammlung nach Jahrzehnten zu einer friedlichen Lösung geführt hat.
Speckner, der über exzellente Kontakte zur Staatspolizei im österreichischen Innenministerium verfügt, kann in seinem neuesten Werk erstmals aus geheimen Informationen zitieren, die nicht an die heimischen Medien gelangen durften. Schon einmal hat er sich des Vorfalles auf der Porzescharte intensiv angenommen (25.Juni 1967) und ist zu dem Schluss gekommen, dass die damals verdächtigten vier Süd- und Nordtiroler Widerstandskämpfer nicht die Mörder an vier Carabinieri gewesen sein konnten.
Nun, nach dreijähriger Recherche, beschreibt Speckner anhand der sicherheitsdienstlichen Akten jeden einzelnen Sprengstoffanschlag jener Zeit. Und das waren sehr viele. Es war nur logisch, dass in diesen hysterischen Jahren der italienische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte. Doch die in Rom lagernden Aktenbestände sind noch immer gesperrt.
Umso deutlicher sind die Lageberichte der Bundespolizeidirektion Graz mit dem Stempel „Streng vertraulich!“ vom Dezember 1961. Da waren bereits mehrere Südtiroler in italienischer Haft. Die dort vorgenommenen Folterungen der Inhaftierten waren immer wieder Themen in den österreichischen Zeitungen. „Die Presse“ war hier führend. Im vertraulichen Lagebericht heißt es dazu: „Das Bekanntwerden der unmenschlichen Verhörmethoden italienischer Sicherheitsdienststellen bei der Vernehmung von in Italien inhaftierten Südtirolern hat in allen Bevölkerungsteilen nicht nur tiefste Empörung, sondern auch Abscheu hervorgerufen… Die italienischen Protestnoten in Wien werden keinesfalls als Rechtfertigung aufgefasst. Vielmehr scheint es, als versuche Rom durch diese diplomatischen Schritte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den Geschehnissen in Südtirol abzulenken…“ Die mehr als 700 Seiten umfassende Dokumentation Hubert Speckners ist keine Apologie auf den Südtiroler Widerstandskampf gegen den italienischen Neofaschismus, aber sie rückt einige Dinge ins richtige Licht. „Seit den frühen Sechzigerjahren“, schreibt er, „sind für einen Gutteil der österreichischen Bevölkerung die damaligen Aktivisten ,rechtslastige‘ Personen. Natürlich gehörte ein Teil der BAS-Aktivisten einer ,nationalen‘ und ,rechten‘ Ideologie an. Beträchtliche Teile des BAS (des Befreiungsausschusses Südtirol) hatten allerdings mit einer derartigen Ideologie absolut nichts am Hut, und es darf daran erinnert werden, dass einige auch bereits im Widerstand gegen das nazistische deutsche Reich unter Adolf Hitler waren.“ Beispiele waren die Südtirol-Aktivisten der ersten Stunde, „Presse“-Herausgeber Fritz Molden und sein Freund und späterer Nachfolger, Gerd Bacher. (hws)
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 03.12.2016)
Buchvorstellung in Wien
SHB: “Buch von Hubert Speckner revidiert Geschichtsschreibung”
Mittwoch, 30. November 2016 | 16:14 Uhr
Wien – Der Südtiroler Heimatbund erinnert in einer Presseaussendung an die Buchvorstellung des neuen Buchs von Militärhistoriker Oberst Dr. Hubert Speckner “Von der Feuernacht zur Porzescharte“, die vor kurzer Zeit in Wien über die Bühne ging.
“Ein sehr hochkarätig besetztes Podium unterstrich die Wichtigkeit der Ergebnisse von Speckner, dass die bisherige Meinung über die Zeit der Feuernacht und danach wohl neu zu sehen sei. Das ist in der Geschichte gut so, und es löst in revidierender Weiser bisher festgesetzte Denkschablonen auf”, betont Roland Lang.
“Dem Autor Dr. Hubert Speckner verdanken wir dieses außerordentlich wichtige Buch über das Südtirol-Problem der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten Die verfälschenden Versionen, die Italien in die Welt setzte und weiterhin setzt, sind Ausdruck seiner nationalistischen Nachkriegspolitik, an der sich bis heute wenig geändert hat. Italien könnte mit der Öffnung der italienischen Archive über diese Zeit wesentlich zur weiteren Aufklärung der Geschehnisse beitragen. Warum ist Rom dazu nicht bereit? Welche Machenschaften und Intrigen darf die Öffentlichkeit nicht erfahren? Die Salzburger Nachrichten berichteten in einer positiven Weise über das Werk und verliehen ihm den Status des offiziellen Standpunktes Österreichs. Dies wohl auch deshalb, weil sich unter den Anwesenden gleich drei ehemalige österreichische Minister, der frühere Außenminister Peter Jankowitsch sogar vorne in der Diskussionsrunde, befanden”, so der SHB.
Unter den Gästen befanden sich hochrangige Vertreter des Staatsarchives, der Präsidentschaftskanzlei und des Bundesheers. Auch zahlreiche Freiheitskämpfer der sechziger Jahre als direkt Betroffene sah man unter den Anwesenden. Nur ist es nach wie vor eine Frage des (schlechten) Gewissens, aus welchem Grund Italien nicht die Archive zu diesem Thema öffnet. Hat man Angst vor der historischen Wahrheit, oder muss man sich gefallen lassen, Fehler zuzugeben, die damals in der politisch heißen Zeit gemacht worden sind?”, heißt es weiter.
Das Buch wird in Südtirol am Mittwoch, den 14. Dezember um 18.00 Uhr in Bozen, Franziskanertaverne, erneut vorgestellt. Dort sei es auch möglich, Fragen direkt an den Autor zu stellen, so Lang abschließend.
Buchvorstellung zur Feuernacht in Wien
Buchvorstellung zur Feuernacht in Wien
November 28, 2016
Am Montag fand in Wien die Präsentation des Buches von Hubert Speckner „Von der Feuernacht zur Porzescharte“ statt. Dabei lud der Autor zusammen mit prominenter Beteiligung zu einer Vorlesung im Cafe Landtmann, an der auch der Obmann des Südtiroler Heimatbundes Roland Lang teilnahm.
Neben dem Autor und SHB-Obmann Roland Lang umrahmten die Veranstaltung in Wien der ehemalige österreichische Außenminister Peter Jakowitsch, sowie die beiden Völkerrechtler Franz Matscher und Bruno Hosp.
Die Buchvorstellung wurde eingeleitet durch Grußworte von Prof. Reinhard Olt, bevor Hubert Speckner den Anwesenden sein 700 Seiten umfassendes und 1,5 Kilogramm schweres Wert ausführlich präsentierte.
In seinem Buch geht Speckner auf das Südtirol-Problem in besonderer Berücksichtigung der österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten ein. Dabei sind klare Differenzen zu den offiziellen Versionen des italienischen Staates zu erkennen, deren Archive bis heute nicht geöffnet wurden – und einer weiteren Aufklärung damit im Wege steht (UT24 berichtete).
SHB-Roland Lang ging bei der Veranstaltung während seiner Rede auf den Passus seines Treffens mit Heinrich Oberleiter ein. Dabei ging er darauf ein, warum die Attentate der 60er Jahre sehr wohl dazu beigetragen hätten, die Verhandlungen der Südtirol-Autonomie zu beschleunigen.
Staaten, Völker und Nation(alität)en
Anmerkungen zum aktualisierten Handbuch der europäischen Volksgruppen
Von Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt
Vorstellung des Rezensenten – Auszug aus der Laudatio anlässlich der Verleihung Würde eines Doktors und Professors ehrenhalber durch die Eötvös-Loránd-Universität Budapest (ELTE):
Reinhard Olt wurde 1952 in Haingrund geboren. Er studierte Germanistik, Volkskunde, Geschichte, Politikwissenschaften und Publizistik in Mainz und Gießen. 1980 beendete er sein Doktoratsstudium und arbeitete als Forscher und Lehrbeauftragter an der Justus Liebig-Universität Gießen bis 1985.
Danach war er als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an den Universitäten und Hochschulen in Gießen, Frankfurt, Innsbruck und Graz tätig. Besonders zu erwähnen ist, daß er auch an der Europäischen Journalismus-Akademie in Krems (später in Wien) unterrichtete und an der Planung einer Abteilung für Theologie und Kommunikation an der Universität Maribor (Marburg/Drau; Slowenien) beteiligt war.
Seine Aktivitäten als Forscher und Journalist zeigen nicht nur einen außergewöhnlichen Lebensweg auf, sondern hatten eine ungewöhnlich breite Wirkung. Er hat mehr als 40 Studien und zahlreiche Monographien auf den Gebieten Geschichte und Sprachgeschichte veröffentlicht. Er publizierte über die deutsche Soldatensprache, über die Sprachgesellschaft „Allgemeiner Deutscher Sprachverein“ in Hessen, über die Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Medien in Zentral- und Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Er ist ein vorzüglicher Kenner der Autonomie(geschichte) Südtirols, der „Deutschen Frage in der Sowjetunion“ sowie der Lage nationaler Minderheiten überhaupt.
Ein Schwerpunkt seiner Forschungen war und ist der Einsatz für nationale Minderheiten. Nationalitäten-Fragen, Fragen des Separatismus und der Lösung ethnischer Konflikte hat er sich mit höchstem Anspruch sowohl wissenschaftlich als auch journalistisch gestellt und beantwortet. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit anspruchsvollen sprachwissenschaftlichen Fragen, mit Fragen der Namenkunde sowie der Dialektliteratur. Zudem hat er ungefähr 200 Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften sowie in der FAZ veröffentlicht.
Reinhard Olt arbeitete seit 1994 für die FAZ in Wien und war seit 2002 für die Berichterstattung über Ungarn verantwortlich. Wiewohl er 2012 in Ruhestand ging, ist er weiterhin in der akademischen Lehre tätig: auf den Gebieten Minderheitenschutz und Medienpolitik“.
Prof. Dr. Olt hat uns freundlicher Weise diese Buchbesprechung zur Verfügung gestellt.
Staaten, Völker und Nation(alität)en
Anmerkungen zum aktualisierten Handbuch der europäischen Volksgruppen
Von Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist verstrichen, seit mit der Öffnung des Drahtverhaus an der ungarisch-österreichischen Grenze die Friedhofsruhe der Völker, die unter der Pax Sovietica lebten, beseitigt wurde. Was bis 1989/90 lang mehr oder weniger mit der Ideologie vom neuen, dem sowjetischen Menschen zusammenzuschweißen versucht worden war, brach danach unter (zum Teil kriegerischem) Lärmen auseinander. Da der Terror des marxistisch-leninistischen Internationalismus wich, meldeten sich Nationen und Völkerteile zu Wort, die es eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen, wenn das kommunistische Weltbild vom Aufgehen in einer neuen, friedliebenden und angeblich allen zwischennationalen Hader hinter sich lassenden Menschengemeinschaft den Sieg davongetragen hätte. Daß dem nicht so war/ist, führ(t)en zum Teil kriegerische Nationalitätenkonflikte zwischen Mare Balticum und Ochotzkischem Meer vor Augen.
Mit der Auflösung des russisch dominierten Sowjetimperiums und seines ihm ideologisch verbunden gehaltenen Vorhofs entstanden ebenso neue Nationalstaaten wie dort, wo unter serbischer Dominanz die balkanische Spielart des Stalinismus, der titoistische Jugoslawismus, Völker und Volksgruppen zu assimilieren trachtete. Daß die „nationale Frage“ in Europa virulent ist, zeigten just die mit Waffengewalt ausgetragenen Sezessionskonflikte des nach Titos Tod rasch erodierenden südslawischen Staatsgebildes. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion legten zunächst die moldauisch-transnistrischen, die georgisch-ossetischen sowie die armenisch-aserbaidschanischen Auseinandersetzungen blutige Nationalitätenkonflikte offen. Wenngleich derartige Konflikte im Baltikum, im Transkaukasus und in den vorwiegend orientalisch-muslimisch geprägten zentralasiatischen Staaten der Betrachtung von außen meist nur unterschwellig ins Auge fallen, sind sie von nicht minderer Brisanz. Daß dabei stets auch russische Interessen im Spiel waren/sind, offenbaren die Vorgänge rund um die Annexion der Krim sowie das Entfachen des bürgerkriegsartigen Sezessionismus in der Ostukraine durch russische Insurgenten und Freischärler sowie von Moskau offen wie verdeckt unterstützter Separatisten.
Am Verhalten einiger westeuropäischer Regierungen gegenüber den Selbständigkeitsbestrebungen der Slowenen und Kroaten, aber auch der Esten, Letten und Litauer (vor der völkerrechtlichen Anerkennung ihrer staatlichen Gemeinwesen, ja mitunter danach auch noch) war augenfällig geworden, daß die Furcht vor Separatismus im eigenen Lande das Handeln bestimmte. Dies rührte von der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verbreitenden Zuversicht her, wonach im Zuge der Europäisierung die Nationalstaaten allmählich verschwänden und somit die „nationale Frage“ gleichsam als Erscheinung des 19. Jahrhunderts überwunden würde. Vor allem die (westeuropäische) Linke – aber nicht nur sie – leistete mit der theoretisch-ideologischen Fixierung auf die Projektion der „multikulturellen Gesellschaft“ einer geradezu selbstbetrügerischen Blickverengung Vorschub, indem man glaubte, mit deren Etablierung sei die infolge zweier Weltkriege entgegen dem Selbstbestimmungsrecht erfolgte willkürliche Grenzziehung quasi automatisch aufgehoben. Dabei hatte just die machtpolitische Ignoranz historisch-kulturräumlicher Bindung, ethnischer Zusammengehörigkeit sowie von Sprachgrenzen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu spezifischen Minderheitensituationen geführt, deren Konfliktpotential bis in unsere Tage fortwirkt.
Während sich im Westen die Nationalstaaten überlebt zu haben schienen, sind die Völker Mittelost-, Ost- und Südosteuropas noch immer dabei, Sowjetismus und Titoismus abzustreifen. Der Denkfehler in der westlichen Welt bestand darin, zu glauben, staatliche Gebilde wie die „Jugoslawische Föderation oder die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ hätten sogleich etwas gemein mit der Europäischen Gemeinschaft, sobald man sich dort der Fesseln des Kommunismus entledigt habe. Anstatt dies zu unterstützen oder wenigstens Sympathie dafür aufzubringen und vor allem den „kleinen Völkern“, als die die in fremdnationaler Umgebung beheimateten Minderheiten bisweilen genannt werden, Gehör zu schenken, zeigt(e) sich vor allem in den Hauptstädten der zentralstaatlich geprägten Länder Westeuropas, dass die Sorge vor dem möglichen Aufbegehren der eigenen Minoritäten das Verhältnis zu den Eigenständigkeit einfordernden und zwischen Selbstverwaltung, Autonomierechten, Unabhängigkeit bis hin zu (klein)staatlicher Souveränität changierenden Nationen und Volksgruppen im Osten und Südosten des Kontinents bestimmt(e).
Frankreich gilt bisher geradezu als Verkörperung des nationalstaatlichen Zentralismus. Weshalb viele der 370.000 Bretonen mit Sympathie die nach dem mehrheitlichen Brexit-Votum im Vereinigten Königreich wieder vernehmlicher werdenden Töne der schottischen Unabhängigkeitsbewegung verfolgen, welche im Referendum 2014 nur knapp gescheitert war. Ähnliches gilt für die 150.000 Korsen, wobei die Nationalpartei PNC (Partitu di a Nazione Corsa) nicht unbedingt für die Unabhängigkeit Korsikas eintritt, was das Ziel bisweilen bombender Extremisten war/ist, aber doch mehr Selbständigkeit anstatt politischer Steuerung durch Paris verlangt. Im Elsass sowie in Lothringen begnügt man sich hingegen offenbar mit einigen Zuständigkeiten in (sprach)kulturellen Angelegenheiten. Wenngleich nicht wenige der 978.000 deutschsprachigen Elsässer und Lothringer gegen die Verschmelzung ihrer Provinzen mit der Champagne und den Ardennen zur Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine protestierten, welche seit 1. Oktober 2016 kurz „Région Grand Est“ heißt.
In Spanien bekunden besonders die gut 10 Millionen Katalanen (in Katalonien, Valencia und Andorra) sowie 676.000 Basken (im Baskenland und in Navarra) immer wieder machtvoll ihren Willen, die Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 55.000 Menschen zum baskischen Volk. Der 2015 von der baskischen Regionalregierung verabschiedete Plan „Euskadi Nación Europea“ enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.
In Belgien hat sich der (nicht nur sprachliche) Konflikt zwischen niederländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen seit den 1990er Jahren zu einer latenten institutionellen Krise ausgewachsen und kommt einer Staatskrise ziemlich nahe. Von den 5,8 Millionen Flamen (52,7 % der Bevölkerung), die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der „ärmeren“ Wallonie (3,9 Millionen Wallonen; 35,8 % der Bevölkerung) wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus. Die Deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 87.000 Menschen (0,8 % der Bevölkerung) bewohntes Gebilde mit autonomer politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebietes Eupen-Malmedy, gehört zwar territorial zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.
Außerhalb Italiens werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden des Landes meist unterschätzt und zumindest in der Wissenschaftspublizistik weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen angesichts regionaler Erosionserscheinungen befürchten, dass Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, an Boden gewinnen. So beteiligten sich im März 2014 im Veneto 2,36 Millionen Wahlberechtigte (63,2 % der regionalen Wählerschaft) an einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, von denen 89,1 % – das waren immerhin 56,6 % aller Wahlberechtigten – auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ antworteten. In unmittelbarer lombardisch-„padanischer“ Nachbarschaft zündelt die Lega Nord immer wieder mit Unabhängigkeitsverlangen und strebt ein aus der Lombardei, Piemont und Venetien zu bildendes Unabhängigkeitsbündnis an.
Nebenan, in der mit Sonderstatut, wie sie die Lega für die Lombardei anstrebt, versehenen Region Trentino-Alto Adige, ist in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol (520 000 Bewohner; davon 62,3 % Deutsch(sprachig)e; 23,4 % Italiener; 4,1 % Ladiner und 10,2 % Personen, die sich bei der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung nicht den genannten Autonomiestatuts-Ethnien zugehörig erklärten) seit zwei Landtagswahlperioden die verstärkte Hinwendung von deutschtiroler Wählern zu den deutschtiroler Oppositionsparteien zu registrieren. Dies rührt, neben unübersehbaren Abnutzungserscheinungen der seit 1945 dominanten Regierungspartei SVP und deren Aufgabe ihrer gut sechs Jahrzehnte gewahrten Äquidistanz zu den römischen Parteien, auch von den vielfältigen Maßnahmen Roms seit einigen Jahren her, sozusagen scheibchenweise die ansonsten international als Vorbild gerühmte Autonomie auszuhöhlen und damit zu entwerten. Dies könnte sich mit der anstehenden, auf noch mehr Zentralismus hinauslaufenden Staats- und Verfassungsreform, welcher die SVP-Kammerabgeordneten – wider die Warnungen der Opposition und von ehedem langjährigen politischen Verantwortungsträgern der eigenen Partei – zustimmten, noch weiter verstärken.
Angesichts dessen ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Befürworter des „Los von Rom“ in Südtirol Zulauf erhalten. Und sich, wie der 2014 in Meran sowie im Mai 2016 in Bruneck vom Südtiroler Schützenbund initiierter „Unabhängigkeitstag“ erwies, mit den politischen Kräften jener Bewegungen verbünden, welche das „Los von London, Madrid, Paris, Brüssel …..“ für sich beanspruchen sowie die Gewährung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verlangen.
Man kann daher der EU den Vorwurf nicht ersparen, daß sie es verabsäumt hat, sich auf eine vernünftige Politik zugunsten nationaler Minderheiten einzulassen und einen verlässlichen kollektiven Rechtsrahmen zum Schutz der „kleinen Nationen“ und Volksgruppen zu schaffen. Warum hat die EU keine wirklich substantiellen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen ergriffen? Weil zentralistisch organisierte Nationalstaaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen, deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Hinsichtlich Rumäniens ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,4 Millionen ethnischen Ungarn – und insbesondere der ca. 700.000 Szekler – nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr (Stichwort: Trianon) gebrandmarkt wird.
Ein anderes Beispiel: Frankreich (am 7. Mai 1999) und Italien (27. Juni 2000) haben zwar die am 5. November 1992 vom Europarat verabschiedete und – bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen – relativ „harmlos“ bleibende „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ unterzeichnet; ratifiziert und inkraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.
Solange das Manko aufrecht ist, dass die „kleinen Völker“ respektive „kleinen Nationen“, als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche verstehen, in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Enttäuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise „Erlösung“ erhoff(t)en. Denn abgesehen von dem den Volksgruppen vom Europäischen Parlament 1991 deklaratorisch zugestandenen „Recht auf demokratische Selbstverwaltung“, womit „kommunale und regionale Selbstverwaltung bzw. Selbstverwaltung einzelner Gruppen“ zu verstehen ist, und abgesehen vom 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon, mithilfe dessen erstmals die „Rechte der Angehörigen von Minderheiten“ (als Teil der Menschenrechte) als Artikel 2 EUV in den EU-Wertekanon aufgenommen worden sind, hat sich just das supranationale Gebilde EU als solches den im Zentrum der Bedürfnisse aller nationalen Minderheiten stehenden überindividuellen, also kollektiv einklagbaren Schutzrechten weithin entzogen. Dabei hätten die nationalen Minderheiten – über die (nach dem Brexit verbleibenden) EU-Mitgliedstaaten hinaus einen Platz und kollektivrechtlichen Rang verdient, der ihnen allein schon wegen ihrer quantitativen Bedeutung eigentlich zustünde.
Dies führt das soeben in überarbeiteter und aktualisierter Auflage erschienene Handbuch „Die Volksgruppen in Europa“ überdeutlich vor Augen. Demnach leben zwischen Atlantik und Ural 768 Millionen Menschen in 47 Staaten und 100 größeren oder kleineren Völkern. Jeder siebte Bewohner Europas fühlt sich einer Minderheit zugehörig, denn ein Siebtel aller Europäer, nämlich gut 107 Millionen Menschen, sind Angehörige größerer respektive kleinerer Minderheiten.
Dabei sind ausweislich der klaren und präzisen Zu- sowie Einordnung der Autoren die meisten der „38 minderheitenrelevanten Staaten Europas als Nationalstaaten konzipiert“, wenngleich sie tatsächlich „ethnisch inhomogen und in Wirklichkeit multinationale Staaten mit traditionellen Volksgruppen bzw. nationalen oder ethnischen Minderheiten sind, deren Bevölkerungsanteil von einigen wenigen Prozent bis zu 48 % (z.B. Montenegro) reicht.“ Daher stellen Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil im Einführungskapitel zurecht fest: „Ethnische Homogenität in einem Staat, wie z.B. in Island oder San Marino, ist also die auf einige Zwergstaaten beschränkte Ausnahme und keinesfalls die Regel. Das hieraus sich ergebende Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlichem Organisationsmodell und dem soziologischen Phänomen Ethnizität markiert einen wichtigen Gesichtspunkt dessen, was unter dem herkömmlichen Begriff Nationalitätenkonflikt die europäische Entwicklung bis zur Gegenwart nachhaltig beeinflusst.“
Was Inguschen sind oder Tschetschenen, Tataren oder Gagausen, Georgier (Grusinier) oder Abchasen, Osseten respektive Tscherkessen/Adygen respektive andere der mehr als 100 kaukasischen und transkaukasischen Völkerschaften und Minderheiten, das ist aufmerksamen Medien-„Konsumenten“ und politisch interessierten Zeitgenossen in den letzten 25 Jahren immer wieder durch Nationalitätenkonflikte bis hin zu kriegerische Handlungen bekannt geworden. Doch viele der zahlreichen europäischen Minderheiten – wie beispielsweise Agulier, Awaren, Balkaren, Baschkiren, Bessermenen, Darginer, Ingrier/Ischoren, Kabardiner, Karatschaier, Karaimer, Kalmücken, Karelier, Lakken, Lesgier, Lipowenr, Mordwinen, Nogaier, Permjaken, Rutuler, Udmurten, Syrjänen, Tabasaraner, Taten, Tscheremissen, Tschurier, Tschuwaschen und Wepsen in Russland; beispielsweise auf dem Balkan Aromunen/Wlachen , Arvaniten, Bunjawatzen, Goranen und Lasen – sind weder dem Namen nach noch nach der Zugehörigkeit zu Staaten oder Sprach(familie)n bekannt.
Europa ist überaus reich an Kulturen und Sprachen; sie sind sozusagen konstitutives Element des Kontinents. Zu deren Erhaltung bedarf es, wie die Autoren im politisch-rechtlichen Teil ihres Opus aufzeigen, einer Ergänzung der durch die Menschenrechte verbürgten Gleichberechtigung der Individuen durch das – im alten Österreich wohlbekannte – Prinzip der Gleichberechtigung der Völker und Ethnien.
Die geeigneten Instrumente zur Verwirklichung gleichberechtigter „nationaler Partnerschaften“ aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en wären übernational geltende Volksgruppen(schutz)rechte, nationale Minderheitenrecht(sinstrumentari)e und das Zugestehen von (Territorial-, Kultur- bzw. Personal- und/oder Lokal-)Autonomie; alle Arten gebunden an statutarisch geregelte Formen politischer Selbstverwaltung.
Weil die quantitative Dimension der Ethnizität in Europa kaum (oder allenfalls Spezialisten) bekannt ist und daher wenig Augenmerk auf sich lenkt, fühl(t)en sich die ihrem wissenschaftlichen Ethos verpflichteten Autoren herausgefordert, diesem Umstand abzuhelfen. Dem ist insbesondere jener empirische Teil ihres voluminösen, konsequent durchdachten Werks geschuldet, der mit übersichtlichen Karten, zahlreichen Tabellen und Graphiken die Gesamtübersicht über die Vielfalt der in Europa lebenden Völker und ihrer Sprachen darbietet.
Die drei Autoren dieses Standardwerks – Pan ist Rechtssoziologe, Pfeil Juristin mit ausgeprägtem Schwerpunkt Minderheitenrecht, und Paul Videsott Romanist – sind vielfach wissenschaftlich ausgewiesene Fachleute von Rang. Ihre umfassende neuerliche Bestandsaufnahme fußt auf der Auswertung aller relevanten Volkszählungsergebnisse, welche sich zwischen 2009 und 2014 ergaben, und ruht analytisch und prospektiv auf jahrzehntelanger Forschungstätigkeit an der Spitze des in Bozen ansässigen Südtiroler Volksgruppen-Instituts (SVI), dessen Leitung Videsott – Angehöriger der ladinischen Minderheit des Landes – seit 2013 innehat.
Was dabei an konzisen und luziden Ergebnissen herausgekommen ist sowie nunmehr höchst umfassend und über alle Maßen tiefschürfend vorgestellt wird, ist als unerlässliche Grundlage für die fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den rund um den Komplex „Die Volksgruppenfrage als das alte Problem im neuen Europa“ angesiedelten und von den Autoren beleuchteten sowie minutiös aufgefächerten Themen zu rühmen.
Nicht allein das: Die höchst beeindruckende Publikation sei vor allem der europäischen Politik als Mahnung zur Selbstvergewisserung angeraten sowie politischen und ökonomisch-sozialen Entscheidungsträgern in (und zwischen) den Nationalstaaten geradezu als „Handwerkszeug“ anempfohlen. Insbesondere die „Denkanstöße“ im abschließenden Kapitel „Kollektiver Volksgruppenschutz und Separatismus“ seien ihnen nachdrücklich ans Herz gelegt.
—
Christoph Pan, Beate Sibylle Pfeil, Paul Videsott : Die Volksgruppen in Europa, Wien (Verlag Österreich) / Berlin (BWV- Berliner Wissenschafts-Verlag) ²2016; XLIX, 477 Seiten, zahlr. Illustrationen; gebunden; 88,– €
Die Option 1939 und ihre Folgen
Nachdem im jüngsten SID der Beitrag „Hitler und Südtirol – Eine Dokumentation“ erschienen war, wurde von Lesern angefragt, ob wir nicht auch zum Thema der Option von 1939 nähere Informationen geben könnten.
Dankenswerter Weise hat sich Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt, der Germanistik, Osteuropäische Geschichte, Volkskunde und Politikwissenschaft studiert und 27 Jahre der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ angehört hatte, dazu bereit erklärt, einen solchen Beitrag zur Verfügung zu stellen.
Rund 78 Prozent der Berichterstattung über Südtirol gingen während seiner Tätigkeit in der FAZ auf seine Rechnung. Es war ihm stets ein Anliegen, die Interessen der Südtiroler und anderer ethnischer Minderheiten zu vertreten. Seit seinem Ausscheiden aus der FAZ lehrt er an österreichischen und ungarischen Hochschulen.
Im Jahr 2009 wurde Olt mit dem Verdienstorden des Landes Südtirol geehrt, und im Jahr 2013 zeichnete ihn die Republik Österreich mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst aus. Der Nordtiroler Landeshauptmann Günther Platter verlieh ihm ebenfalls anno 2013 den Großen Tiroler Adler-Orden.
Es freut uns, den nachstehenden Beitrag von ihm veröffentlichen zu können. Die Bebilderung wurde durch uns vorgenommen.
Georg Dattenböck Schriftleiter
„Option“ – Hitlers und Mussolinis folgenreicher Schacher mit den Südtirolern.
Eine Rückblende von Reinhard Olt
Für Tiroler ist von den historischen Erinnerungsdaten – neben dem Beginn des Ersten Weltkriegs, an dessen Ende die waffenstillstandswidrige Annexion des südlichen Landesteils durch Italien 1918 und dessen friedensvertragliche Übereignung an den Stiefelstaat im Jahr darauf stand – der alljährliche 21. Oktober als besonders schmerzlicher Gedenktag zu „bewältigen“: An diesem Tag des Jahres 1939 gab der nationalsozialistische deutsche „Führer“ Adolf Hitler seinem faschistischen italienischen Pendant, dem „Duce“ Benito Mussolini, Südtirol preis.
Mit dem damals zwischen Berlin und Rom in Kraft getretenen „Optionsabkommen“ sollte gewährleistet werden, was nach der faschistischen Machtübernahme in Italien 1922 zwischen Brenner und Salurner Klause sowie zwischen Reschen-Pass und Dolomitenstock trotz brutaler Entnationalisierungspolitik nicht erreicht worden war, nämlich die „ewige Italianità“ dieses Landstrichs.
Für dessen Erwerb hatten chauvinistische Irredentisten gemäß der seit Mitte des 19. Jahrhunderts propagierten „Wasserscheiden-Theorie“ unablässig gefochten, und für dessen Einverleibung wechselte Italien 1915 die Seite und trat – gemäß dem Motto „Sacro egoismo“ („Heiliger Eigennutz“) – gegen den aus Deutschem Reich und Österreich-Ungarn bestehenden Zweibund, mit dem es ehedem im „Dreibund“ verbündet war, in den Krieg ein.
Schon in einer seiner weniger bekannten Schriften aus der „Kampfzeit“ – „Die Südtiroler Frage und das Deutsche Bündnisproblem“ (erschienen 1926 in München im NSDAP-Parteiverlag F. Eher) – hatte der „böhmische Gefreite“ Hitler zu erkennen gegeben, daß er die Südtiroler als ein Hindernis auf dem Weg zur Annäherung an den späteren Achsenpartner betrachtete.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938, womit die Wehrmacht am Brenner stand, zerstreute Hitler anlässlich seines Staatsbesuchs italienische Befürchtungen, wonach eine Rückgliederung Südtirols bevorstehen könnte, indem er am 7. Mai 1938 in Rom erklärte: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, daß es die von der Natur uns beiden aufgerichtete Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.“
Diese Erklärung fand in dem am 22. Mai 1939 in Berlin im Beisein Hitlers von den Außenministern Joachim von Ribbentrop und Galeazzo Graf Ciano (Schwiegersohn Mussolinis) unterzeichneten „Stahlpakt“ ihre Bekräftigung. Denn in der Präambel dieses politisch-militärischen Bündnisses zwischen dem Deutschen Reich und Italien hieß es, dass mit den „für immer festgeschriebenen gemeinsamen Grenzen die sichere Grundlage für gegenseitige Hilfe und Unterstützung gegeben“ sei. Und um die in diesem Abkommen genannte „ewige Grenze“ auch „volkstumspolitisch“ zu untermauern, handelten besagter Graf Ciano und Reichsführer-SS Heinrich Himmler unter strikter Geheimhaltung das Optionsabkommen aus.
Es sah vor, daß sich Deutschsüdtiroler und Ladiner in der Provinz Alto Adige („Hochetsch“) sowie jene des zur Provinz Trient gehörenden Südtiroler Unterlandes, aber auch die Bewohner des bis 1918 zu Kärnten gehörenden Kanaltals – es erstreckt sich vom heutigen Grenzübergang Thörl-Maglern/Arnoldstein über Tarvis/Tarvisio bis Pontafel/Pontebba – sowie des Fersentals und Luserns (deutsche Sprachinseln im Trentino) für Italien oder für das Deutsche Reich zu entscheiden hatten: „Optierten“ sie bis zum 31. Dezember 1939 für die deutsche Staatsbürgerschaft, so war damit die Verpflichtung zur Aussiedlung verbunden; entschieden sie sich für die Beibehaltung der italienischen, somit für den Verbleib in der angestammten Heimat, so taten sie dies freilich in der Gewissheit, keinen Schutz mehr für ihre Volksgruppe in Anspruch nehmen zu können.
Schon im Juni 1939 war der Inhalt des schändlichen Abkommens in Südtirol bekannt geworden. Daraufhin traten Vertreter des (der Kirche nahestehenden) „Deutschen Verbandes“ (DV) wie Repräsentanten des (NS-nahen) „Völkischen Kampfrings Südtirols“(VKS), die sich im Bozner Marien-Internat bei Kanonikus Michael Gamper zu einer Beratung getroffen hatten, einhellig dafür ein, geschlossen für den Verbleib in der Heimat zu stimmen. Am 1. August 1939 wurde im Verlautbarungsblatt der Staatsbahnen angekündigt, dass „in nächster Zeit Transporte von Personen und Gütern aus Südtirol in südliche Provinzen abgehen“ sollten. Der römische Statthalter, Präfekt Giuseppe Mastromattei, verkündete in der Zeitschrift „Atesia Augusta“, dass, wer „immer Treue zu Italien und zu den Einrichtungen des Regimes bewiesen“ habe, bleiben dürfe. Dies bedeutete jedoch, dass die meisten der keineswegs faschistisch eingestellten Südtiroler von Deportation in die südlichen Provinzen bedroht waren. Dazu kam, dass laut Arbeitsvermittlungsgesetz nur Italiener als Ersatz für entlassene Deutschsüdtiroler eingestellt werden durften.
Den italienischen Privatbetrieben wurde die Einstellung von Südtirolern verboten, und auch die Obstgenossenschaften durften keine deutschtiroler Saisonarbeiter mehr beschäftigen. Höchste Repräsentanten des faschistischen Staates gaben in öffentlichen Äußerungen zu verstehen, dass die für Italien optierenden Südtiroler nach Sizilien umgesiedelt werden könnten, wo das Regime gerade eine Landreform in Gang gesetzt hatte, wodurch 20 000 neue Bauernstellen geschaffen werden sollten. Späteren Erklärungen der italienischen Behörden, wonach Italien-Optanten in Südtirol verbleiben könnten, wurde nicht mehr geglaubt, vor allem auch, weil eine von Bischof Geisler geführte Delegation, die diesbezüglich bei Mussolini vorsprechen wollte, nicht empfangen worden war. Man sah sich auf Gedeih und Verderb der römischen Willkür ausgeliefert.
In ihrer Verzweiflung hatten sich Vertreter des VKS direkt an Himmler gewandt. Dieser erklärte einer VKS-Abordnung anlässlich einer Begegnung am Tegernsee unverblümt, dass das Deutsche Reich die „Dableiber“, also die Optanten für Italien, ihrem Schicksal, mithin dem unabwendbaren nationalen Untergang, überlassen werde. Der VKS schwenkte nun um und begann, mit reichsdeutscher Unterstützung, für eine möglichst geschlossene Option für das Reich zu werben. Kanonikus Michael Gamper und sein Freundeskreis vom DV und dem Andreas Hofer-Bund (AHB) hingegen waren überzeugt, dass man im Lande bleiben und auf eine Änderung der Verhältnisse hoffen müsse. Die emotionalen Auseinandersetzungen führten zu einer tiefgreifenden Spaltung der Bevölkerung, die durch die Dörfer und teilweise auch durch die Familien ging. Es kam zu gegenseitigen Vorwürfen des „Verrats“, wobei die Deutschland-Optanten als „Heimatverräter“ und die „Dableiber“ als„Volksverräter“ beschimpft wurden.
Von den 246 036 dazu Berechtigten optierten 211 799 für die deutsche Staatsbürgerschaft und Aussiedeln, 34 237 votierten für die Beibehaltung der italienischen und Bleiben. Wer ging, ließ alle unbewegliche Habe zurück. Von den Optanten wurden schließlich etwa 76 000 ausgesiedelt. In ihre Häuser und Höfe, über deren Wert hastig Kommissionen befanden, zogen zumeist Süditaliener ein – der ganze Landstrich sollte ja seinen „deutschen Charakter“ verlieren.
Der Zweite Weltkrieg, an dessen Beginn vor 77 Jahren auch in diesem Zusammenhang zu erinnern ist, verhinderte die vollständige Ausführung der Umsiedlung, die bereits 1941 zum Erliegen kam, ins Deutsche Reich oder ihm angeschlossene respektive von ihm unterworfene Gebiete.
Die Entscheidung für Gehen oder Bleiben war schließlich schon mit der „Operationszone Alpenvorland“ gänzlich obsolet geworden, zu der Südtirol mit der Besetzung Norditaliens gehörte, nachdem Mussolini 1943 vom Faschistischen Großrat abgesetzt worden war und in der „Republik von Salò“ als Satrap Hitlers „regierte“. Berlin fragte fortan nicht mehr nach „Optanten“ oder „Dableibern“. Gestellungsbefehle an die Front erreichten Angehörige beider Lager.
Die Rückkehr der Deutschland-Optanten in ihre Heimat nach Kriegsende stieß auf enorme Schwierigkeiten. Es bedurfte trotz des zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber am 5. September 1946 zu Paris geschlossenen Abkommens („Parier Vertrag“) über die (dann bis 1972 von Rom torpedierte) Autonomie Südtirols, welches auch die „Revision der Option“ zum Gegenstand hatte, zäher Verhandlungen, den zunächst Staatenlosen, überdies als Nazis Gebrandmarkten, die italienische Staatsbürgerschaft wieder zuzuerkennen. Die damals geschlagenen, tiefen seelischen Wunden sind auf beiden Seiten erst nach vielen Jahren wieder vernarbt.
Selbst der von Angehörigen beider Lager gegründeten Südtiroler Volkspartei (SVP), an deren Spitze nachmals für gut drei Jahrzehnte Silvius Magnago stand, ein Optant, fiel es nicht leicht, die Kluft allmählich zu überwinden. Kanonikus Gamper gebührt das Verdienst, durch sein leuchtendes Beispiel der Nächstenliebe und Toleranz die Südtiroler nach Kriegsende wieder zu einer handlungsfähigen Volksgruppe zusammengeführt zu haben.
Anfangs hatte der im Mai 1945 von den Alliierten in Bozen eingesetzte italienische Präfekt Bruno De Angelis sogar danach getrachtet, die Aussiedlung der verbliebenen Optanten in die amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszonen in Österreich und Deutschland zu erreichen. Dies war an den alliierten Mächten gescheitert. Rom versuchte sodann, mit Kniffen und Tricks die Rückkehr der ausgesiedelten Optanten zu behindern. Welche Methoden dabei angewandt wurden, zeigte etwa die Beschlagnahme des Vermögens jener Deutschland-Optanten, denen Italien 1949 die Wiedererteilung seiner Staatsbürgerschaft unter der durch nichts zu rechtfertigenden Beschuldigung verweigerte, es handele sich durchweg um Nazis. Damit hoffte man, weitere Rückkehrwillige abzuschrecken.
Bis 1952 hatten nur deren 25 000 wieder in die Heimat zurückkehren können. Das war nur rund ein Drittel der Ausgesiedelten.
Erst dem „Dableiber“, Gamper-Vertrauten, ehemaligen KZ-Häftling, nunmehrigen Journalisten und SVP-Abgeordneten im italienischen Parlament Friedl Volgger gelang es mithilfe einer von ihm organisierten alliierten Unterstützung, die römische Regierung dazu zu bewegen, die Vermögensbeschlagnahme wieder aufzuheben.
Für lange Zeit auch stellte sich im deutsch-italienischen Nachkriegsverhältnis die vermögens- und versicherungsrechtliche sowie die technische Abgeltung von Leistungen für Optanten wie ein Sperrriegel in den Weg. Die Optanten hatten sämtliche Guthaben verloren. Die Ablösesummen für ihre zwischen 1939 und 1941 in Südtirol verlassenen Besitztümer waren auf Sperrkonten ohne Verfügungsberechtigung überwiesen worden. In Österreich, das 1938 dem Reich „angeschlossen“ worden war und wohin viele Südtiroler ausgesiedelt wurden, raffte die Geldentwertung die „freien Einlagen“ dahin.
Und in Ansiedlungsgebieten wie Böhmen und dem Elsass waren von Optanten erworbene Liegenschaften als „deutsches Eigentum“ entschädigungslos konfisziert worden.
In Südtirol bemühten sich Josef Zingerle, diözesaner Caritasdirektor von Brixen, Rudolf Freiherr Unterrichter von Rechtenthal, Johannes Schauff von der in Genf ansässigen „Internationalen Katholischen Wanderungskommission“, sowie die SVP-Senatoren Karl Tinzl und Karl Mitterdorfer um Rücksiedlungshilfen für heimkehrwillige Optanten aus der Bundesrepublik.
Erst Anfang der sechziger Jahre konnten ihre Bemühungen mit finanzieller Hilfe Bonns in geordnete Bahnen gelenkt werden, indem Finanzministerium und Bundesausgleichsamt eine „humanitäre Regelung“ entwickelten, in die später das Arbeits- und Sozialministerium eingebunden war. Grundlage dafür war das 14. Lastenausgleichsgesetz, welches 1963 auf „Umsiedlungsgeschädigte und Optanten“ angewandt wurde.
In Bozen wurde ein „Berufungsausschuss für Umsiedlungsgeschädigte“ eingerichtet, über den man das Verfahren zur individuellen Entschädigung nach dem deutschen Reparationsschädengesetz abwickelte, welches in einem 1969 in Kraft getretenen „Abkommen zur Regelung von Kriegsschäden italienischer Staatsangehöriger in der Bundesrepublik Deutschland und deutscher Staatsangehöriger in der Republik Italien“ seine Anwendung fand.
Letztendlich mündete es in das deutsch-italienische Rentenabkommen von 1976, in welchem eine über die Abgeltung von Vermögensschäden hinausreichende Zubilligung von Ausfallzeiten sowie Rentenleistungen geboten war und nach Beseitigung mancher Schwierigkeiten in Verhandlungsrunden 1983, 1986 und 1991 bis zur endgültigen Befriedung 1998 zum Tragen kommen konnte.
Zu Mitgliedern des Bozner Beratungsausschusses waren Vertreter der Optanten, der Sozialverbände, der Kirche und des öffentlichen Lebens berufen worden. Grundsätzlich wurden Leistungen nach dem Einzelantragsprinzip gewährt. Zahlungen zur Abgeltung von Vermögensansprüchen wurden an Geschädigte oder antragsberechtigte Erben geleistet, Rentenansprüche und -zahlungen im Zusammenwirken mit dem italienischen Rentenversicherungsträger NISF/INPS geregelt; der Berufungsausschuss stellte hierfür die amtlich anerkannten Bescheinigungen aus.
Nach dem Bonner Lastenausgleichsgesetz sind insgesamt 121,3 Millionen Mark bewilligt worden, die deutschen Aufwendungen im Rahmen des Rentenabkommens beliefen sich auf 262 Millionen Mark. Dreißigtausend Akten hatte der Berufungsausschuss angelegt, mehr als fünfzehntausend Anträge bearbeitet; nahezu zehntausend Begünstigte kamen in den Genuss von Zahlungen.
In einer separaten Regelung für Optanten aus dem Fersental und aus Lusern ermöglichte der Berufungsausschuss die Rückübertragung von 27 000 Grundparzellen im Trentino und 1971 den Umtausch von Vermögenswerten auf DM-Basis, die einst in Reichsmark festgesetzt worden waren.
Im Jahr 1999, 35 Jahre nach seiner Gründung und 60 Jahre nach dem unseligen Optionsabkommen, hatte der Berufungsausschuss seine gänzlich ehrenamtliche Tätigkeit beendet. Damit schloss sich ein beklemmendes Kapitel der jüngeren deutsch-italienischen Geschichte, damit war zugleich eine über Jahrzehnte belastende Hypothek auf den Beziehungen zwischen Bonn/Berlin und Rom sowie der beiden Hauptstädte zu Südtirol auf langwierige, aber humanitäre und pekuniäre Weise geräuschlos abgetragen worden.
Ein Beteiligter sah sich hingegen gegenüber den Ansprüchen von Optanten nicht in der Pflicht, wie der damalige Abschlußbericht des Ausschussvorsitzenden festhielt: „Die Verhandlungen um eine Entschädigung seitens der Republik Österreich für die Einbehaltung von cirka 11 000 Wohnungen, die mit Geldern der Südtiroler Umsiedler, gestützt auf Reichsbürgschaften, noch während des Zweiten Weltkrieges für diese errichtet wurden, führten zu keinem Erfolg.“
Weiter hieß es darin: „Es wäre sicherlich opportun, wenn die CA-Bank Innsbruck noch alle Konten der Optanten nach dem Vorbild der Schweizer Banken offenlegen würde.“
Mit in Jahrhunderten gefestigten Banden historisch legitimiert und mit der Jurisdiktion zweier UN-Deklarationen im Rücken gibt sich Wien zwar stets zu Recht als „Schutzmacht“ der Südtiroler aus. Wo es ihr als „Schutzmacht“ aber gut angestanden hätte, zusammen mit Deutschland Rückgrat zu zeigen, da zog sich die Republik Österreich in bewährter Weise auf den von ihr vertretenen, quasi staatsdoktrinären Standpunkt von der „Nichtexistenz als Völkerrechtssubjekt zwischen 1938 und 1945“ zurück – er kostet(e) nichts.