Welschtirol und der italienische Irredentismus (Teil 2)
Eine kritische Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung
von Georg Dattenböck
Vor dem Ersten Weltkrieg
Als am 21. November 1916, nach einer Regierungszeit von nahezu 68 Jahren, der greise österreichische Kaiser Franz Joseph I. aus dem Haus Habsburg-Lothringen, König von Böhmen und Apostolischer König von Ungarn in Wien starb, ging ein geschichtliches Zeitalter zu Ende: Tirol gehörte seit der Zeit der Völkerwanderung zum Herzogtum Bayern und seit 1363, als Margarete Maultasch von Tirol ihr Land im Einvernehmen mit den Landständen ihrem nächsten Verwandten, dem Habsburger Rudolf, dem Stifter übergab, zu Österreich.
Franz-Josef wurde am 2. Dezember 1848, nachdem sein Vater auf das Amt verzichtete, auf Wunsch der kaiserlichen Familie und nach den revolutionären Erhebungen breiter Volksschichten, im Alter von achtzehn Jahren Kaiser von Österreich. Als erste Maßnahme und als ein Menetekel, hob der junge Kaiser alle gegebenen Verfassungszugeständnisse auf und regierte ab 1851 wieder absolutistisch und zentralistisch. Die Regierung wollte nicht mehr oder weniger, als das abgewirtschaftete und verhasste „System Metternich“ wieder in Kraft setzen.
Das erwachende Nationalbewusstsein der Völker
Als Flammenschrift an der politischen Wand standen an erster Stelle bereits die soziale Frage, dann der Freiheitswille und auch der (teilweise von außen) geschürte Nationalismus der vielen Völkerschaften der Monarchie.
Niemand wollte und konnte damals diese Flammenschrift, Vorbote des zermalmenden Orkans von 1914, lesen und die Botschaft verstehen. Auch dann noch nicht, als der für die ungarischen Aufständischen 1848 als Schneidergeselle arbeitende János Libényi am 18. Februar 1853 auf der Bastei in Wien ein Messerattentat auf den jungen Kaiser verübte.
Die politischen Feinde der Monarchie im Untergrund jubelten: Am 18. März 1853 erschien die anonyme Schmähschrift eines Italieners und in Wien sang der verhetzte Mob:
„Auf der Simmeringer Had (Heide) hat’s an Schneider verwaht. Es g’schieht ihm scho‘ recht, warum sticht er so schlecht?“
1859 erfolgte die Niederlage der österreichischen Armee im „Sardinischen Krieg“. Sardinien-Piemont wollte das Königreich Lombardo-Venetien von österreichischer Herrschaft befreien und sich selbst einverleiben. Das Vorhaben gelang, Österreich verlor den Krieg in blutigen Schlachten.
Am 3. Juli 1866 folgte die schwere Niederlage der österreichischen Armee bei Königgrätz gegen Preußen im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland. Der Kaiser wurde dadurch zum Ausgleich mit den aufsässigen Ungarn und zur Umwandlung des bislang von Wien aus regierten Kaiserstaates Österreich in zwei konstitutionelle Monarchien gezwungen: Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn entstand, unter törichter Missachtung der nationalen Wünsche aller anderen Völkerschaften.
Bewegungen im Untergrund: „Carbonari“ und Freimaurer
Italien war seit dem Ende des antiken Römischen Reiches im Jahre 476 bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nur ein geographischer Begriff, aber keine Nation, kein staatsrechtlicher Begriff.
Im 18. Jahrhundert entstanden vor allem in Süditalien geheime Sekten mit radikaler politischer Tendenz, die radikalste Gruppierung waren die „Carbonari“, deren Riten sich an jene der Freimaurerei anlehnten.
„An Stelle der Loge trat bei den „Köhlern“ die „Hütte“, in denen den ‚guten Vettern‘, so nannten sich die Mitglieder, als heiligste Pflicht der Kampf gegen die Tyrannei verkündet wurde, oder, wie die Carbonari das in ihrer symbolischen Sprache ausdrückten: ‚die Jagd auf die Wölfe des Waldes‘. Man hat in der Folge oft behauptet, die Carboneria sei mit der Freimaurerei identisch gewesen. Aber das ist nicht der Fall.“ [Lennhof/Posner: Internationales Freimaurerlexikon; unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1932, Spalte 760ff, Wien-München 1980].
Die italienische Freimaurerei vertrat nicht wie die deutsche Freimaurerei eine utopische Vorstellung eines Weltbürgertums, sondern war nicht nur aus der Sicht der österreichischen Behörden durchaus irredentistisch/nationalistisch. Dies wird durch viele freimaurerische Bekundungen dokumentiert, wie zum Beispiel durch die feierliche Enthüllung des Dante-Alighieri-Denkmal in Trient, welches als sogenanntes Trienter „Trutzdenkmal“ die Italianität Welschtirols unterstreichen sollte.
Der bekannteste Freimaurer seiner Zeit war der Irredentist und Revolutionär Giuseppe Garibaldi. Er wurde später Großmeister des ‚Grande Orients d’Italia‘. Andere waren Camillo Cavour, Schöpfer der italienischen Verfassung, Giuseppe Mazzoni, auch ein berühmter Großmeister, oder der Revolutionär Giuseppe Mazzini.
Den Irredentisten im italienisch-sprachigen Teil der Monarchie, die Teile des Bürgertums, kleinere Teile des Adels, der Geistlichkeit und Arbeiterschaft, aber kaum die Bauernschaft umfassten, kann man Gewandtheit, oft List und Ausdauer sowie Unerschütterlichkeit nicht absprechen:
„Sie waren Meister im ununterbrochenen Kleinkrieg gegen die österreichischen Behörden. Letztere waren gewiß nicht immer konsequent; sie zeigten aber, besonders an Verhältnissen nach dem ersten Weltkrieg gemessen, im allgemeinen und meistens eine Milde, Nachsicht und Geduld sowie Fairness, über die man heute noch staunt. Dank und Anerkennung ist ihnen von der Gegenseite dafür nicht geworden“ [Hans Kramertz: „Das Dante-Aligherie-Denkmal in Trient im Rahmen des italienischen Irredentismus“; in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Band 58, Dezember 1950].
Ein späterer Faschist als Vorkämpfer imperialistischer Unterdrückung
Die ohne Zweifel für das Schicksal Tirols unheilvollste Person war der 1865 in Rovereto geborene Ettore Tolomei. Er studierte in Florenz Geschichte und Geographie, wurde ein glühender Nationalist und Mitglied der ‚Dante Alighieri Gesellschaft‘.
Ettore Tolomei, der von seinem geliebten „Duce“ Mussolini ehrenhalber zum faschistischen Senator befördert werden sollte, sah seine Lebensaufgabe darin, die Grenzen Italiens auf den Alpenhauptkamm zu verlegen, dadurch das historisch gewachsene Tirol zu zerstören und die Ladiner und die Deutschen südlich des Brenner unter italienische Fremdherrschaft zu bringen. Er scheute dabei vor keinen historischen und Ortsnamen-Fälschungen, zurück, die teilweise skurrilen und lächerlichen Charakter annahmen.
Seine erlogene „Erstbesteigung“ des eher unbedeutenden, aber am nördlichsten im Alpenhauptkamm gelegenen Glockenkarkopfes mit der grotesken Umbenennung des Gipfels in „Vetta d’Italia“ („Gipfel Italiens“) hatte historische Bedeutung. Bei den Pariser Friedensverhandlungen am Ende des Weltkrieges wurde von der italienischen Delegation eine Landkarte mit diesem Namen vorgelegt. Dies machte angeblich großen Eindruck – oder politisch willkommenen und vorgetäuschten Eindruck – auf den US-Präsidenten Wilson. Auch hier darf man Verlogenheit und Täuschung nicht ausschließen.
Bereits in der ersten Ausgabe der von ihm gegründeten Zeitschrift „La Nazione Italiana“ hatte Tolomei seine unheilvolle Lügenpropaganda begonnen. In der Zeitschrift „Archivio per l’Alto Adige“ präsentierte Tolomie seine geschichtlichen Lügen und gefälschten Ortsnamen, womit er die „Italianität“ des deutschen und ladinischen Südtirols „wissenschaftlich“ begründete.
Die Abschaffung des wahren und geschichtlichen Namens Tirol sowie die Umwandlung aller deutschen und ladinischen Orts- und Flurnamen in erfundene italienische Namen war sein Programm. Für die Landesbezeichnung griff Tolomei auf den kurzzeitig unter Napoleon verwendeten Namen „Alto Adige“ – „Hoch-Etsch“ – zurück.
Es gelang Tolomei und seinen Helfern jedoch trotz vieler Anstrengungen bis Mitte des 1. Weltkrieges nicht, die italienische Wissenschaft, besonders die „Geographische Gesellschaft“ und sogar die Mehrheit der politischen Führung Italiens, vom „wissenschaftlichen“ Wert seiner Publikationen zu überzeugen. Erst als er trotz heftiger Proteste Mitglied der „Geographischen Gesellschaft“ wurde, sollte sich dann unter dem Eindruck des gewonnenen Krieges und vor allem unter dem Einfluss des Faschismus rasch die Einstellung dieser Vereinigung wandeln.
In Österreich hatte man die Entwicklung und die drohenden Gefahren nicht rechtzeitig erkannt
Die lodernde Flammenschrift an der Wand war vom Kaiser Franz Joseph und seinem Führungskreis, trotz vieler ernsthafter Warnungen, immer noch nicht verstanden worden, als der italienische Anarchist Luigi Lucheni die Gattin Franz Josephs, Kaiserin Elisabeth („Sissy“), am 10. September 1898 in Genf mittels einer Feile mit eiskaltem Vorbedacht ermordete. [Luigi Lucheni / Santo Cappon: Ich bereue nichts! Die Aufzeichnungen des Sissi-Mörders; Taschenbuch, 2000]
Lucheni hatte sich den russischen Adeligen und Anarchistenführer Michail Alexandrowitsch Bakunin (*1814, †1876 in Bern) als anarchistisches Vorbild gewählt. Bakunin hatte 1861 mit Guiseppe Garibaldi Verbindung aufgenommen und sich 1864 in Italien niedergelassen. Er war durch Empfehlungsschreiben von G. Mazzini und Aurelio Saffi in die revolutionären italienischen Kreise eingeführt worden und hatte 1864 in Italien die „Internationale Bruderschaft“, die Keimzelle der Anarchisten Italiens, begründet.
Der Historiker Otto Weiß stellte in einem historischen Beitrag „Deutschlandbild der Italiener von der Schlacht bei Königgrätz bis zur Reichsgründung“ [In: „Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen 1830-1870“, Berlin 1991] die Frage:
„Wie sahen die ‚Deutschen‘ im Urteil und Empfinden der Italiener zwischen 1866 und der deutschen Reichsgründung aus? Als Quellen für seine gründliche Analyse untersuchte Weiß die gesamte damalige Presse, „dann auch programmatische Artikel in Zeitschriften und Flugschriften, die sich speziell mit Deutschland, insbesondere mit dem Verhältnis Deutschlands zu Italien befassen“.
Auf S. 257 zitierte Weiß eine hier im Kontext dieses Buches wichtige italienische Flugschrift des Jahres 1869, worin u.a. zu lesen ist:
„Damit die beiden Völker ihrer Aufgabe nachkommen könnten (…) müssten sie gemeinsam Tirol von Österreichern befreien. Der Brenner soll zur Grenze, nein zum Ort der Begegnung beider Völker werden.“
(Diese durchaus heuchlerische Interpretation des Brenners als „Ort der Begegnung“ hört und liest der aufmerksame Zeitgenosse auch heute noch in vielerlei Abwandlungen in den Medien! In erster Linie nicht von Seiten italienischer Politiker, sondern vor allem von den politischen Repräsentanten der Republik Österreich und Südtirols, die damit seit Jahrzehnten ihre ständige Verzichtspolitik in Südtirol-Fragen rechtfertigen und als moralischen Fortschritt verkaufen.)
Die Ermordung des Thronfolgers
Am 28. Juni 1914 wurden der seit 1896 zum Thronfolger bestimmte Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este und seine Gattin, Sophie Gräfin Chotek v. Chotkowa und Wognin, seit 1909 Herzogin von Hohenberg, in Sarajevo vom 19jährigen Schüler Gavrilo Princip mit Hilfe der Untergrundorganisation „Mlada Bosna“ und der serbischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ mit Pistolenschüssen ermordet.
Auch zu diesem Zeitpunkt kam es zu keinem entschlossenen und eigenverantwortlichen Handeln der dazu unfähigen Regierung in Wien. Zudem hatte sich wegen des Jahrzehnte langen politischen Versagens der maßgeblichen Eliten die „politische Großwetterlage“ bereits gegen das österreichische Kaiserhaus gewandt. Der überforderte alte Kaiser erklärte Serbien den Krieg, die lange aufgestellten Fallen schnappten zu, der 1. Weltkrieg entbrannte.
Die nationalistischen Kräfte des mit Österreich-Ungarn und mit dem deutschen Reich im „Dreibund“ verbündeten Italien hatten auf eine solche Situation gewartet. Nun entbrannte die Kriegstreiber-Propaganda mit voller Wucht, bis es 1915 zum Bündnis-Bruch seitens Rom und zum italienischen Überfall auf den eigenen Verbündeten kam.
Was gemäß Hofzeremoniell als wichtig erschien – während der Staat dem Zerfall entgegen wankte
Die absolute Starrheit und der moralische Verfall des kaiserlichen Hofstaates in Wien hatten sich beim schäbigen Begräbnis des ermordeten designierten kaiserlichen Ehepaares dokumentiert:
„Die Trauerfeiern wurden vom Hof wegen der nicht standesgemäßen Heirat bewusst bescheiden gehalten, die Presse sprach von einem ‚Begräbnis III. Klasse‘. Ein vollständiges Staatsbegräbnis kam für einen Thronfolger ohnehin nicht in Frage, dies stand nur dem Monarchen selbst zu. Für die Herzogin von Hohenberg war eine Bestattung in der Kapuzinergruft nicht möglich, und eine Ausnahmeregelung durch Kaiser Franz Joseph war nicht zu erwarten. Er konnte dem Thronfolger die morganatische Ehe gegen seinen Willen nicht verzeihen.
Da Franz Ferdinand dies gewusst hatte, aber unter allen Umständen an der Seite seiner Gattin begraben werden wollte, hatte er bereits zu Lebzeiten vorgesorgt und in seinem Schloss Artstetten eine Gruft errichten lassen. [Austria-Forum: „Franz Ferdinand von Österreich-Este“].
Der ermordete Thronfolger hatte ein modernes Staats-Konzept vertreten
Der Ermordete hatte als einer der wenigen Mitglieder des Kaiserhauses die vielen Zeichen an der Wand gesehen: Er hatte die Monarchie grundlegend neugestalten und die Völker Österreichs in einer Föderation auf ethnischer Grundlage vereinen wollen. Das war ein modernes Konzept gewesen, welches zu einer Lösung der ethnischen Fragen durch einen Föderalismus ähnlich jenem der Schweiz hätte führen können. Seine Ermordung 1914 und der Tod des greisen Kaisers 1916, sowie die Niederlage von Österreich-Ungarn 1918 waren das tragische Ende eines großen Staates, einst die vielhundertjährige Führungsmacht Deutschlands im Herzen Europas.
Feldmarschall Conrad von Hötzendorf hatte die italienische Gefahr erkannt gehabt
Österreichs Feldmarschall Conrad von Hötzendorf, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 der Chef des Generalstabes für die gesamte bewaffnete Macht Österreich-Ungarns, hatte mehrmals einen Präventivkriege der Monarchie gegen die erkannten Gefährder Italien und Serbien gefordert gehabt. Conrad spielte eine wichtige Rolle in der Julikrise, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Er urteilte über den Irredentismus [“Aus meiner Dienstzeit 1906-1918“, S. 24, Wien-Berlin-Leipzig-München 1921]:
„So gering die Zahl der Italiener in Österreich-Ungarn auch war, so bedeutungsvoll wurde sie durch die hartnäckige Agitation ihrer politischen Führer, die letzten Endes die Vereinigung der von Italienern bewohnten österreichisch-ungarischen Gebiete mit dem Königreich Italien anstrebten. Sie fanden bei Italien die lebhafteste Unterstützung.
Zwar nötigte das zwischen Österreich-Ungarn und Italien bestehende Bündnis die offiziellen Kreise Italiens, die Beziehungen zur irredentistischen Bewegung nach außen hin zu verleugnen, nichtsdestoweniger fanden sie italienischerseits vollste Förderung“
„Von den (Im Jahre 1890) 697.000 Italienern Österreich-Ungarns bewohnten 22.000 das Gebiet von Fiume, 16.000 Dalmatien, 294.000 das Küstenland, 362.000 Tirol. Im Küstenland bildeten sie hauptsächlich die Bevölkerung der Städte (Triest, Görz, Pola, Parenzo, Rovigno etc.), während das Land rings um diese von Slawen bewohnt war; in Tirol hatten sie den Süden des Landes inne, davon große Teile, die einst deutsch waren, allmählich aber verwelscht wurden.
Die italienische Landbevölkerung, dann auch der Adel waren zum größten Teile österreich-patriotisch gesinnt, ein Großteil der reicheren Gutsbesitzer (signori) sowie der bürgerlichen Kreise aber war ausgesprochen dem Irredentismus ergeben, der überdies auch im Klerus und selbst in der Beamtenschaft seine Vertreter fand.
Die Tendenzen dieser Partei hatten so sehr die Vereinigung mit Italien zum unverrückbaren Ziele, daß jedes Entgegenkommen, jeder versöhnliche Versuch ein vergebenes Bemühen war, ja jede Konzession die irredentistischen Bestrebungen nur zu fördern vermochte. Trotzdem ging die Regierung, in großer Schwäche, diesen Weg. Italien versäumte es nicht, den Irredentismus wach zu erhalten, ihn auszunützen und dem großen Ziele einer wesentlichen territorialen Erweiterung auf Kosten Österreich-Ungarns dienstbar zu machen.“
Ein österreichischer Offizier berichtet über die italienische geheimdienstliche Wühlarbeit
Ein ehemaliger österreichischer Offizier, der seit 1906 mit Unterbrechungen in „einem Grenzort Südtirols, der eine bekannte Hochburg der Irrendenta war“, seinen Militärdienst im Abwehr- und Nachrichtendienst verrichtete, beschrieb anschaulich das dort von ihm Erlebte [„Kämpfer an vergessenen Fronten“, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Foerstner. S. 558ff, Berlin 1931].
Er berichtete u.a.:
Italienische Offiziere sagen Krieg voraus
„In den meisten Geschäftsauslagen waren Büsten des italienischen Königs oder Garibaldis, niemals aber ein Bild unseres eigenen Herrschers zu sehen. (…) Während meiner mehrjährigen Abwesenheit von Tirol hatten die Italiener so ziemlich alle Grenzübergänge mit Sperrforts versehen, die aber alle in ihrer Anlage den offensiven Charakter erkennen ließen. (…) Von italienischen Offizieren konnte man nach dem Tripoliskrieg
[Anm. Hg.: dieser begann mit der italienischen Kriegserklärung am 29. September 1911 und endete mit dem Frieden von Ouchy am 18. Oktober 1912. In ihm trat das Osmanische Reich Tripolitanien, die Cyrenaika und den Dodekanes an Italien ab.]
vielfach die Äußerung hören, der Tripoliskrieg sei nur als Vorschule für den nun bald kommenden Krieg gegen Österreich, den man zu Erlangung von Trient und Triest führen werde, anzusehen.
Steigerung der Spionagetätigkeit
Tatsächlich war damals in Südtirol auch eine wesentliche Steigerung der italienischen Spionagetätigkeit zu verzeichnen, was immer ein Zeichen ist, daß sich irgendetwas vorbereitet. (…)
Wie es diesbezüglich aussah, lässt wohl am besten die Tatsache erkennen, daß damals in einem Monat in Südtirol vierzig italienische Offiziere zugleich auf Urlaub weilten, die sich in unserem Grenzbereich als Touristen herumtrieben und dabei nicht nur selbst auskundschafteten, sondern auch unsere italienische Grenzbevölkerung verhetzten und zur Spionage verleiteten. (…)
In den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Weltkrieges arbeitete der italienische Nachrichtendienst in Tirol mit Hochdruck und bediente sich dabei mit großem Erfolg jener Bewegung, welche man als Irredenta bezeichnete, und welche sich die Losreißung der von Italienern bewohnten Grenzgebiete der Monarchie zum Ziele gesetzt hatte. (…)
Da wir mit Italien im Dreibundvertrag standen und offiziell das herzlichste Einvernehmen zwischen unseren Staaten herrschte, durfte unser Abwehrdienst nur mit größter Rücksichtnahme vorgehen, um den Nachbar durch ein zu scharfes Vorgehen nicht zu verstimmen, und konnte daher nur in ganz krassen Fällen von Spionage einschreiten. (…)
Die Benutzung irredentistischer Vereinigungen
Der italienische Nachrichtendienst bediente sich zu seinen Zwecken aber auch in sehr geschickter Weise der zahlreichen irredentistischen Vereine auf unserem Gebiet. So konnten wir feststellen, daß der „Klub Alpino Tridentino“ im Auftrage des „Touring Club Italiano“, der vom italienischen Generalstab für Spionagezwecke eine jährliche Subvention von 25.000 Lire bezog, eine genaue Wegekarte des ganzen Grenzgebietes anlegte und alle im Grenzgebiete vorhandenen Hochgebirgswege bis zur Grenze markierte, welche Markierung dann auf italienischer Seite von den Alpinitruppen fortgesetzt wurde. Der Verein baute auch an einigen wichtigen Übergangspunkten des Grenzgebietes eigene Schutzhütten, die immer reichlich mit Lebensmittel versehen waren, so daß sie sehr brauchbare Depots darstellten.
Die in Südtirol bestehenden Sportvereine waren fast ausschließlich irredentistisch und standen ganz unter dem Einfluss der Vereine des benachbarten Königreichs.
[Anmerkung: Unter „Südtirol“ wurde im alten Österreich nicht das heutige Südtirol verstanden, sondern Welschtirol, das heutige „Trentino“.]
Diese Vereine ließen sich im Laufe der Zeit alle eigene Uniformen anfertigen, die selbstverständlich in Schnitt und Farbe ganz der italienischen Uniform nachgebildet waren, so daß jeder, der so einen Verein sah, den Eindruck hatte, daß es ein reichsitalienischer sei. Derartig uniformierte Vereine gab es in Südtirol etwa 75. (…)
Horten von Waffen
Eine von der Abwehrstelle im Frühjahr 1914 durchgeführte Überprüfung der im südlichen Landesteil ausgegebenen Waffenpässe ergab, daß in den drei an Italien grenzenden Bezirken Pässe für 6000 Gewehre und 5000 Revolver und Pistolen ausgestellt worden waren. Diese Menge war hinreichend, um die genannten uniformierten Vereine vollkommen mit Waffen auszurüsten. Italien konnte also damit rechnen, daß es in einem Kriege mit uns in Südtirol gleich ein ganz italienisch uniformiertes und dabei auch noch bewaffnetes Freikorps zur Verfügung haben werde, das einen Aufmarsch unserer Truppen im südlichen Landesteil empfindlich stören, wenn nicht gar verhindern konnte“.
Die italienische Freimaurerei beteiligte sich intensiv an den Kriegsvorbereitungen
Daß auch die italienische Freimaurerei am Kriegseintritt Italiens 1915 nicht unbeteiligt war, erkennt man an den Worten des damaligen Großmeisters der italienischen Logen. Bereits am 14. Juli 1914 sprach er „von der Gefährdung der nationalen Interessen, von der Möglichkeit der Vervollständigung der nationalen Einheit (…) Auf eine Anfrage des Deutschen Großlogenbundes vom 5. November 1914, ob die in den Zeitungen veröffentlichten Mitteilungen über dreibundfeindliche Kundgebungen der italienischen Maurer wahr seien, antworteten diese zunächst vieldeutig (…)
Als am 5. Mai 1915 das Denkmal der tausend Garibaldiner in Quarto eingeweiht wurde – Gabriele d’Annunzio hielt die die Festrede – umrahmten die Fahnen von 400 italienischen Logen den Festplatz. Neun Tage später trat Italien in den Weltkrieg ein. Der Großorient sprach in einer Botschaft von einem lang erwarteten Ereignis, das er begrüßte“ [Lennhof/Posner: Internationales Freimaurerlexikon; unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1932, Spalte 765, Wien-München 1980].
Wie lebendig das damalige, von Hass und Vernichtungswillen geprägte Gedankengut der Irredentisten auch heute noch ist, erkennt man im Gedenken an das Leben und Sterben des Irredentisten Cesare Battisti: Seine Gedenktafel in Rom, seine Büsten im „Siegesdenkmal“ in Bozen und in Verona, die Gedenkplatte an seinem Geburtshaus in Trient und sein Grabmal im Battisti-Mausoleum in Trient dokumentieren die ungebrochene Verehrung des am 11. Juli 1916 in Trient gehängten sozialistischen Irredentisten.
Battisti hatte – im Gegensatz zum Faschisten Ettore Tolomei – nicht den Alpenhauptkamm als Italiens Grenze gefordert, sondern eine Grenzziehung entlang der realen Sprachgrenze.
Dieser Forderung von Battisti können sich heute noch alle am Frieden und guter Nachbarschaft interessierten Österreicher und Italiener anschließen.
Im Ersten Weltkrieg hatte der österreichische Staatsbürger Battisti als Offizier im italienischen Heer gegen Österreich-Ungarn gekämpft und war von den Östereichern gefangen genommen worden.
Es war eine menschliche Tragödie und politische Kurzsichtigkeit, dass dieser Mann nach seiner Gefangennahme als österreichischer Deserteur hingerichtet und nicht begnadigt wurde. Diese Engstirnigkeit der österreichischen Militärjustiz und der österreichischen Staatsführung wirkt in tragischer Weise bis heute nach. Ausgerechnet das Gedenken an einen Mann, der keine Unterdrückung anderer Nationalitäten anstrebte, wird heute von italienischen Nationalisten und Faschisten dazu missbraucht, die „Heiligkeit“ der Brennergrenze zu behaupten.
Benito Mussolini hatte 1935 auf dem Doss Trento ein Denkmal für Cesare Battisti errichten lassen und damit das Andenken an diesen Mann für faschistisch-nationalistische Zwecke missbraucht.
Unbekannte Welschtiroler schrieben in einer Nacht folgenden Text auf das Denkmal:
„O kleiner Cesare, du bist umsonst gestorben, weil das Trentino nie italienisch war und nie italienisch sein wird.“
In der Folge wurde der Text auch als Flugblatt verbreitet.
Welschtiroler Schützen verteidigten Tirol
Welschtiroler Schützenkompanien verteidigten im 19. und im 20 Jahrhundert mehrmals heldenhaft ihre Heimat gegen italienische Einfälle.
Bis heute in Welschtirol und in Südtirol keine Volksabstimmung!
In Italien wird immer stolz betont, dass die Einigung des Stiefel-Staates durch Volksabstimmungen in den jeweils dazu gewonnenen Gebieten legitimiert wurde.
Dabei ist Folgendes interessant:
Es gab nach dem Ersten Weltkrieg in Südtirol und in Welschtirol keine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Italien.
Ganz offenbar befürchtete man nach dem Ersten Weltkrieg in Rom, dass in Welschtirol vor allem die Landbevölkerung mit ladinischen und deutschen Wurzeln mehrheitlich gegen einen Anschluss an das Königreich Italien stimmen würde.
Die Stimmen italienisch-nationalistisch gesonnener städtischer Intellektueller und Gewerbetreibender wären nicht ausreichend für einen römischen Sieg in einem Plebiszit gewesen.
Rom zog also die Vorsicht vor – bis heute!!!
Denn in Welschtirol erwacht wieder eine Rückbesinnung auf ladinische und deutsche Wurzeln.
Die Rückbesinnung auf die alten Wurzeln
Um diese Rückbesinnung verstehen zu können, ist ein Blick auf die Geschichte der Bevölkerungsentwicklung notwendig.
Welschtirol war in den ländlichen Gebieten vorwiegend ladinisch undvor allem in den Rodungsgebieten der Seitentäler seit dem 12. und 13. Jahrhundert auch deutsch geprägt. Lediglich in größeren Orten und Städten setzte sich ein vergleichsweise kleiner aus dem Süden zugewandeter italienischer Bevölkerungsanteil fest: Intellektuelle, Kaufleute und Handwerker.
Sprachenkarte
Eine Sprachenkarte Gesamttirols mit der Darstellung der Situation um 1500 verdeutlicht dies:
Die Namen der Trentiner Bischöfe
Auch ein Blick in das Namensregister der Bischöfe von Trient ist interessant:
Um 800 nach Christi Geburt finden wir einen Hiltigard, um 827 einen Heimpert, um 850 einen Udalschalk, um 880 einen Adelgis. Dann folgen die Bischöfe Fridebert, Gisulf, Bertald, Konrad.
Weitere Bischofsnamen absolut nicht italienischer Herkunft: Lantram, Arnald, Rainoard, Udalrich, Hatto, Heinrich, Bernward, Gebhard, Adelpret, Altmann, Eberhard und so fort und so weiter. Bis in das 19. Jahrhundert finden wir zahlreiche solche deutschen Namen. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts folgen ausschließlich italienische Namen.
Bis heute hat sich auch in einigen Sprachinseln ein alter bajuwarischer Dialekt, das sogenannte „Zimbrische“ erhalten:
Sprachliche Italianisierung durch italienischen Klerus
Das ladinische und deutsche Siedlungsgebiet reichte einst auch weit über das südliche Tirol hinaus in den oberitalienischen Raum hinein. Es erstreckte sich bis zum alten Berne (Verona). Germanische Einwanderungswellen der Langobarden, Franken und Bajuwaren prägten diesen Kulturkreis bis über das Mittelalter hinaus. In der Folge wurden immer wieder neue Einwanderer aus dem Norden zur Rodung weiter Waldgebiete und zur Schaffung einer bäuerlichen und städtischen Kulturlandschaft ins Land gerufen.
Eine hervorragende Darstellung hat dazu Bernhard Wurzer in seinem Standardwerk „Die deutschen Sprachinseln in Oberitalien“ (Athesia-Verlag Bozen, 5. Auflage 1983) geliefert.
Wenn in früheren Zeiten Priestermangel herrschte, so rief man vor allem deutsche Priester aus dem Norden ins Land, welche die Sprache der deutschen Einwohner sprachen. Das änderte sich radikal, als im deutschen Norden der Protestantismus um sich griff.
Nun zogen die Bischöfe von Triernt es vor, Priester aus dem italienischen Süden ins Land zu holen, die nicht von dem von Martin Luther verbreiteten Bazillus angesteckt waren.
Diese Priester sprachen Italienisch, predigten Italienisch, tauften die Kinder auf italienische Vornamen und italianisierten in den Tauf- und Sterberegistern auch die Familiennamen.
So wurde beispielsweise aus dem in Welschtirol weit verbreiteten Familiennamen „Nikolaus“ der Familienname „Nicolussi“. Seitenlinien dieser „Nicolussi“ behielten bis heute vielfach deutsche Zusatznamen bei: Reut-Nicolussi, Nicolussi-Leck.
Auch der von Grundschulunterricht wurde in italienischer Sprache gehalten.
Im 19. Jahrhundert mögen auf der Seite dieser Priester auch noch nationalistische Antriebe die sprachlichen Italianisierungsmaßnahmen verstärkt haben.
Heute erstarkt das Bewußtsein eigener Identität
Der Welschtiroler Schützenbund gründet neue Kompanien oder nimmt Wiedergründungen ehemaliger Kompanien vor. Das Tirol-Bewußtsein südlich der Salurner Klause erstarkt deutlich.
In zahlreichen Internet-Portalen betonen immer mehr Welschtiroler, dass sie sich als Tiroler und Österreich zugehörig fühlen:
„Tirol ist nicht Italien“, verkündet diese Darstellung im Internet. Und: „93 Jahre löschen nicht 8 Jahrhunderte aus“