Skizzen aus dem Passeyrthale vom Jahr 1828
Einleitung von Georg Dattenböck
Am 20. Februar jährte sich der 212. Todestag von Andreas Hofer. Erstaunlicherweise findet sich immer wieder noch Unbekanntes aus damaliger Zeit: Im digitalisierten „Album aus Österreich ob der Enns“ (Linz, 1843), fand ich einen bemerkenswerten Reisebericht: „Skizzen aus dem Passeyrthale“, verfaßt im Herbst 1828 von Carl F. Hock. Wer war dieser heute unbekannte Autor Hock? Das „Biographische Lexikon des Kaiserthums Österreich“ schrieb über Hock:
„Hock, Karl Ferdinand Freiherr von (philosophischer und nationalökonomischer Schriftsteller, geb. zu Prag 18. März 1808). Sohn israelitischer Eltern, der aber selbst zur katholischen Kirche übertrat; besuchte das akademische Gymnasium in Prag, begab sich zur Fortsetzung seiner Studien 1823 nach Wien, wo er die Vorträge an der Universität hörte und 1828 die philosophische Doctorwürde erhielt. 1830, nach beendeten juridischen Studien, trat er in den Staatsdienst, in welchem er mehrere Jahre in Triest und Salzburg zubrachte, dann als Director des Hauptzollamtes nach Wien berufen ward, im Jahre 1847 unter gleichzeitiger Ernennung zum Regierungsrathe bei der Generaldirection der Eisenbahnen in Verwendung kam, und bei derselben im Jahre 1848 zum zweiten Director ernannt ward.
Im Jahre 1849 berief ihn Minister Freiherr von Bruck in’s Handelsministerium; im Jahre 1854 trat Hock mit dem Titel eines Vicepräsidenten an die Spitze der zur entsprechenden Verwirklichung der handelspolitischen Pläne Oesterreichs und der dadurch bedingten inneren Reformen in der Gefällsgesetzgebung niedergesetzten Ministerialcommission, mit welcher er im Jahre 1856 in das Ressort des Finanzministeriums überging. In letzterem bekleidet Hock zur Zeit die Stelle eines Sectionschefs. Die vielseitige Thätigkeit Hocks spaltet sich vornehmlich in die staatsmännisch-administrative und schriftstellerische.“
Karl Ferdinand Hock entwickelte eine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit, die hier nicht abgehandelt werden kann. Er wurde vom Kaiser und von fremden Staatsmännern für seine Verdienste vielfach ausgezeichnet:
„Außer dem Orden der eisernen Krone zweiter Classe und dem Leopold-Orden, welche ihm der Kaiser verlieh, ist Hock Officier der französischen Ehrenlegion, und außerdem haben ihm Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Churhessen und Großherzogthum Hessen, Parma und Este die Commandeurkreuze ihren Civilverdienst- und Haus-Orden verliehen. (…) Karl Ferdinand Hock wurde mittelst kaiserl. Diploms vom 19. Juni 1852 in den erbländischen Ritterstand, und nachdem er in Anerkennung seiner Verdienste um den Handel und die Finanzen Oesterreichs den Orden der eisernen Krone zweiter Classe erhalten hatte, den Statuten dieses Ordens gemäß mit kais. Diplome vom 2. December 1859 in den österreichischen Freiherrnstand erhoben.“
18 Jahre nach Hofer’s Erschießung in Mantua am 20.2.1810, durch Napoleon selbst befohlen, besuchte der Patriot Karl Ferdinand Hock Hofer‘s Frau und Kinder am Sandhof und stieg auch zu Hofer‘s letztem Versteck auf.
Berührend ist Hock‘s Schilderung vom damaligen Passeiertal und dessen herzlicher Bewohner. Im Detail überraschend sind manche Schilderungen von Hock zu Personen aus des Sandwirts letzter Lebenszeit und zum dramatischen Ablauf der letzten Wochen vor Hofer‘s Verhaftung.
Aus unbekanntem Grund nennt Hock Hofer’s Gattin mit ihrem zweiten Vornamen „Gertrud“. Anna Gertraud Ladurner hieß die Ehefrau von Andreas Hofer, sie wurde als viertes Kind des Tiroler Obst- und Weinbauern Peter Ladurner und dessen Frau Maria Tschölin am 27. Juli 1765 in Algund bei Meran geboren. Am 21. Juli 1789 heiratete die zwei Jahre ältere Anna den 22jährigen Andreas Hofer. Anna Hofer lebte, bis zu ihrem Tod am 6. Dezember 1836, auf dem Sandhof, wo sie viele neugierige Patrioten und Verehrer ihres Mannes besuchten.
In der Zeit der französischen Besatzung Tirols und der schweren Kämpfe, die sehr viele zivile, besonders jedoch viele tausende männliche Opfer forderte, führte Anna Hofer das Gasthaus im Sandhof. Die Lage all jener Frauen, die damals ihre Männer verloren, kann man mit einem Elend ohne Ende bezeichnen. In vielen Fällen war der wirtschaftliche Ruin unausweichlich. Der bekannte Publizist und Tiroler Historiker Michael Forcher berichtete 2008 über diese unglaublichen, gewaltigen Leistungen der Frauen und deren enormen Anteil im Tiroler Freiheitskampf:
„In der Regel war der Anteil der Frauen am Freiheitskampf der, dass sie – soweit sich das Geschehen nahe dem eigenen Dorf abspielte – Verwundete versorgten und Verpflegungsdienste leisteten (…)
Die häufigste Rolle der Frauen war ohnehin das Ersetzen der abwesenden Männer zu Hause, am Bauernhof oder in der Gastwirtschaft, das Ertragen von Plünderungen oder gar Mißhandlungen, von Alleinsein, Angst und Leid.“ („Anno Neun. Der Tiroler Freiheitskampf von 1809 unter Andreas Hofer. Ereignisse, Hintergründe, Nachwirkungen“; S. 78, Innsbruck/Wien. Siehe dazu auch Birgit Treffner: „Der Tiroler Freiheitskampf 1809 mit besonderer Berücksichtigung der Frauen zu dieser Zeit“; Magisterarbeit, Wien 2012).
Die finanzielle Situation von Anna Hofer und ihren Kindern war nach dem Tode ihres Mannes trostlos: es wurde ein Konkursverfahren eröffnet. In ihrer Not, aber mit starkem Mut, reiste Anna nach Wien, um beim Kaiser vorzusprechen. Sie kam am 22.7.1810 in Wien an und wohnte unter ihrem Mädchennamen „Anna Ladurnerin“ bei einem Landsmann in der Josefstadt Nr. 47. Durch das Tragen ihrer Passeirer Tracht erregte sie in Wien großes Aufsehen und stand unter andauernder Polizeibeobachtung durch den Polizeioberkommissar Strobel, der sogar jede Kleinigkeit nach oben meldete.
Die Oberaufsicht über diese scheinbar für „den Staat sehr gefährliche Person“ führte höchstselbst der „Präsident der k. k. Polizeyhofstelle“, Franz Freiherr v. Hager, ein Angehöriger eines der urältesten Adelsgeschlechter von Bayern und Österreich (erstmals wurden die Haga 955 beim Abwehrkampf gegen die Ungarn am Lechfeld erwähnt).
In ihrer Audienz am 2. September 1810 beim Kaiser, der als Franz II. von 1792 bis 1806 letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und, ab 1806, als Franz I. Österreichischer Kaiser war, wurden Anna Hofer 2000 Gulden in Bankozetteln, 800 Gulden in bar und 500 Gulden jährlich, sowie 200 Gulden für jede Tochter zugesprochen. Erst im Jahr 1818, als Napoleon endgültig keine Gefahr mehr war, erhielt sie auch das versprochene Adelsdiplom „Edle von Hofer“.
Karl Ferdinand Hock war 1828 nicht der Erste, der Anna Hofer am Sandhof besuchte: bereits im November 1810, nur acht Monate nach Hofers Tod, besuchte der bayrische Kronprinz Ludwig I. v. Wittelsbach (seit 1825 König) Anna Hofer. Er war der Sohn des unter Napoleon regierenden Maximilian I. Für die Rolle, die König Maximilian I. als williger Vasall Napoleons bei der brutalen Niederwerfung Tirols spielte, kann sein Sohn nicht verantwortlich gemacht werden. Im Hinblick auf Ludwigs Wesen muss man wohl von seiner tiefen Einsicht über das Tirol zugefügte Unrecht ausgehen. Als König ließ Ludwig I. von 1830 bis 1842 die „Walhalla“ bei Regensburg errichten, in dieser wird mit Büsten und Tafeln vieler berühmter Persönlichkeiten aus dem deutschen Sprachraum gedacht (für Andreas Hofer fand sich kein Platz).
Das „Haus der Bayerischen Geschichte“ berichtet über König Ludwig I.:
„Ein Dorn im Auge war ihm die frankreichfreundliche Politik des bayerischen Ministers Maximilian Joseph von Montgelas. Ludwig machte aus seiner Abneigung gegen Napoleon und Frankreich kein Hehl, und demonstrierte bewußt und in aller Öffentlichkeit seine deutsch-nationale Einstellung, die er selbst als „Teutschtum“ bezeichnete. So war es nur folgerichtig, wenn Ludwig den Bündniswechsel Bayerns im Jahr 1813 befürwortete und aktiv auf die Absetzung Montgelas’ im Jahr 1817 hinarbeitete.“
Es folgt nun der ungekürzte Bericht von Karl Ferdinand Hock, der 14 Jahre nach Hofers Erschießung aus dem Passeiertal berichtete.
Carl F. Hock:
Skizzen aus dem Passeyrthale. (Im Herbste 1828).
„Vierzehn Jahre sind vorübergegangen, seitdem diese Skizzen niedergeschrieben wurden; vielleicht aber dürfte gerade der Umstand, daß so Vieles sich geändert, und namentlich Hofer‘s Gattin und Töchter, die hier als lebend geschildert werden, in wenigen Jahren ein Raub des Todes geworden, dieser Darstellung einen eigentümlichen Reiz gewähren. Auch die Darstellung von Hofer‘s Gefangennehmung, wie sie hier gegeben wird, dürfte einigen Antheil verdienen, da sie in wesentlichen Punkten von den Berichten abweicht, die in den Lebensbeschreibungen enthalten sind.
Hinter der Pfarrkirche des Schlosses Tyrol führt der Weg nach Passeyer hinein, dem Thale voll edler Herzen und starker Arme. Er zieht munter dahin, über kleine Hügel hinan und hinab. Weinlauben wölben sich über den Weg, und große, dunkelblaue Trauben drängen sich keck hervor, oder sind scheu unter riesigen Blättern versteckt. Dort breiten wieder Nußbäume ihre schattigen Wipfel aus, und erfüllen die Lüfte mit ihrem Arom. Kastanien erheben sich mitten in üppigen Wiesen, Häuser und Höfe zeigen sich rechts und links an den Abhängen, und dazwischen wird das untere Etschthal sichtbar, die Gebirge von Schenna mit dem stattlichen Schloße, die Orte hoch oben an den Kuppen, wo der Sommer nur sechs Wochen währt.
In der blauen, durchsichtigen Ferne glaubt man Botzen zu entdecken, und wohin auch das Auge schweift, es ermüdet nicht, überall ist Bewegung, Wechsel, Leben. An dem Hügel, auf dem wir standen, liegt Kains mit seinem Kirchlein, schon 768 von einem Heiligen zum Andenken eines Heiligen (vom heil. Vital zu Ehren des heil. Korbinian) erbaut, auch durch Riffian mußten wir. Aber in den Dörfern herrschte eine sonntägliche Stille, während draußen die Fluren vom Gejauchze erschallten. Alles war mit der reichen Ernte des Jahres beschäftigt, und wie wir wanderten, kamen uns Winzer und Winzerinnen, reich beladen und singend entgegen, und boten uns freundlich von ihren Früchten.
Plötzlich senkte sich der Pfad rasch abwärts, eine Kastanienreihe durch, und in einigen Sekunden standen wir in dem Thale, an jenem Punkte, wo die Landgerichte Meran und St Leonhard sich scheiden. Eine plötzlichere Veränderung könnte nicht einmal Jener gewahren, der von der Donau oder dem Rhein mit einem Schlage in die Wüste der Brandenburger Mark versetzt würde. Statt der weiten lieblichen Fläche, die wir vorher übersahen, waren wir in einem schmalen Kessel eingeschlossen und die düsteren Berge waren mit Nadelholz bedeckt, aus dem nur hie und da ein kleiner Grasplatz, eine niedere Hütte hervorschaute. Der üppige Rasen hatte einem Sandlager Platz gemacht, das durch das ganze Thal bis an die Berge hinan reichte. Ein gelblicher, einförmiger Bach, ohne feste Ufer, wälzte sich traurig in der Tiefe. Dieser Bach war die Passer und diese Wüste ihr Werk. Noch im Sommer war die ganze Strecke fruchtbares Wiesenland, wenn auch jedes Jahr vom verheerenden Wildstrom versandet und geschmälert, vom fleißigen Bebauer dem Wasser entrissen, umgewendet, neu bestellt. Doch die Überschwemmung im Juni jenes Jahres vernichtete in einem Stoße die Mühe und Hoffnung vieler Jahre.
Wir waren seit unserem Auszuge von Meran (Nachmittag 2 Uhr) sechs Stunden im Marsche, die Sonne in dieser Schlucht früher als gewöhnlich untergegangen, und nur langsam konnten wir den schwach ausgetretenen, vielfach gekrümmten Weg im Sande verfolgen. So oft wir die Passer überschritten – und ich glaube, es geschah mehr, als zehnmal – fanden wir eine neugezimmerte Brücke; so oft ein Hügel sich erhob, hatte sich vor ihm ein zweiter aus Sand gebildet, und zertrümmerte Baumstöcke, einzelne Grasplätze, die sich wie Oasen and dem Sande erhoben, waren ebenso sprechende, als traurige Zeugen der Verwüstung. Nach acht Uhr kamen wir an eine Stelle, wo jede Spur eines Weges verloren schien; ein Sandberg schien hier ein ganzes Seitenthal ausgefüllt und sich in dichten Strömen dem Bache zugewälzt zu haben. Noch hörte man ein dumpfes Gerolle, als wenn Felsen von ihren Banden sich lösten, in eine unermessene Tiefe hinabstürzten, und wie das lose Gestein langsam und durch lange Zeit nachrollte. Dieß war die Kellerlahn. Ich sah sie später noch einmal von der Höhe aus in ihrer ganzen furchtbaren Gestalt.
Spät in der Nacht erreichten wir St Martin, nach St Leonhard das größte Dorf in Passeyr; aber wir mochten nicht dort bleiben, und welcher Reisende folgt nicht unserem Beispiele, wenn er das „Wirthshaus am Sand“, wo er die Familie Hofer‘s begrüßen darf, in der Nähe weiß.
Und wenn ich sie nur recht treu und kräftig schildern könnte, die gute Frau Gertrud und Hofer‘s Töchter. Gutmüthigkeit und Treuherzigkeit sind auf allen Gesichtern der Grundcharakter. Auf der Stirne der Wittwe haben Gram und Angst tiefe Furchen gezogen, und doch zeigt ein feiner Zug um die Lippen, daß dieß Gemüth nicht zum Trübsinn geschaffen, sondern zur Freude und Heiterkeit geboren war. Sie ist einige sechzig Jahre alt, aber noch wirkt sie kräftig und umsichtig im Hause; Alles will sie selber selber sehen, hören, thun. Dagegen sitzt sie gern am Abende auf der Ofenbank, und erzählt einfach ihre Geschicke. Die älteste Tochter, Marie, ist in Schwermuth versunken; wenn Andere lachen und schäckern, ist‘s bei ihr nur, als ob ein leiser Hauch einen Augenblick den Schleier lüfte, der sie verhüllt. Sie hat die Leiden ihres Hauses am bittersten mit- und nachempfunden. Die zweite Tochter Rosa (Röseli), ist ein harmloses und rundes Mädchen; sie lacht uns aus ihren braunen Augen so freundlich und unschuldig an, daß man ihr unmöglich gram werden könnte. Wir genossen auch das Glück, die dritte Tochter, Anna (Anneli), hier in Passeyr zu sehen. Sie hat in Brünn, in der Nähe ihrer Tante (Chorfrau bei den Elisabetherinnen daselbst), eine städtische Erziehung genossen und ihr reicher Geist das Empfangene wohl zu benützen gewußt. Ein hoher schwärmerischer Ernst thront auf ihrer Stirne, Mund und Kinn zeigen ganz die Herzlichkeit und Entschlossenheit ihres Vaters, dem sie überhaupt unter allen seinen Kindern am ähnlichsten ist und am nächsten steht. Die vierte Tochter endlich, Gertrud, (Gerdeli) ist so schüchtern, daß ich sie erst bei unserem Abschiede erblickte, wo auch sie uns freundlich die Hand reichte und das landesübliche: „Laßt Euch Zeit!“ lispelte.
Vom Wirtshause am Sand verfolgt man eine halbe Viertelstunde am linken Ufer den Lauf der Passer, und steigt dann auf in‘s Gebirg. Erst auf einer solchen Wanderung läßt sich begreifen, wie das Landgericht St Leonhard 1200 Menschen zählen kann.
Jede paar Minuten findet man Bauernhöfe; sie ziehen sich in der größten Höhe bis an den Kamm des Gebirges hinauf. Tannengehölze wechseln mit den schönsten Futterwiesen, sorgfältig bewässert durch Leitungen, die oft eine Stunde weit und noch länger reichen. Jedes Haus hat sein Wasserrad, das, wenn es nichts anders treibt, wenigstens der Hausfrau die Butter rührt. Nirgend sieht man eine müßige Hand; der Eine mäht, der Andere schnitzt, der Dritte führt die Schafe auf die Alm. Lauter große, schlanke Gestalten. Eine braune Jacke von Loden, ein grüner Hosenträger, ein breiter, schwarzer, ausgelegter Gürtel, eine schwarzlederne, über das Knie festgebundene Hose, graue Strümpfe und schwer beschlagene Schuhe sind die Kleidung des Mannes; die Pseyerin trägt eine schwarze, weiß durchnähte, runde Wollmütze, schwarze Jacke (Spenser) und einen weiten, schwarzen, viel gefalteten Rock.
Nach drei Stunden stand ich auf einer Alpenwiese nächst der Kellerlahn, wo über das Wartleis der Paß in‘s Ahrenthal hinüber führt. Sie bildet ein kleines Plateau, mondförmig von höhern Bergen umgeben. Vor sich sieht man die Gebirge Passeyr’s, weit hinein bis zum Hintersee; rechts scheint der Jauffen herüber, und an einigen Spitzen sieht man auf die Jauffenburg nieder, eine der Hauptburgen des Landes.
Schon am Anfange Septembers fällt hier Schnee, und weicht nicht von der Mitte Oktobers bis zum Anfang Mai’s; hier saust ein ewiger Wind, von jeder Seite gleich unverwehrt, und gleich gewaltig. Auf dieser Wiese stehen zwei Hütten, Verschläge könnte man sagen, nach der Weise jener Gegend durch einige Balken in eine obere und untere Abtheilung gebracht; beide zusammen kaum sechs Fuß hoch. Und auf dieser Wiese, in der zweiten dieser Hütten, die hart am Rande der Waldung am meisten südlich steht, und vor der ein Ahorn halb zerstört seine Äste breitet, lag Andreas Hofer vom 23. November bis 20. Jänner (1809-1810) mit Frau, Sohn, den zwei mittlern seiner Töchter und seinem Schreiber verborgen; den Tag über in kauernder Stellung auf der Erde gelehnt, oft Hunger, stets Kälte erduldend. Blos bei Nacht durfte er einige Gänge auf dem dicht beschneiten Gebirge wagen. Keine Spur, keine Inschrift, erinnert an die Martertage des Helden. Selbst die Fremden, die seine Familie besuchen, klimmen nicht herauf auf diesen öden, aber doch so merkwürdigen Platz.
Ich war seit vier Jahren, wo der Landrichter Strolz mit einigen Andern ihn besuchte, der einzige Auswärtige, der ihn beschritt. Für den Historiker, für Hofer‘s Biographen, wäre es unerläßlich, hieher zu kommen. Von da aus sieht man sein geliebtes Passeyr, hier die Hütte seines Pflegers in der Noth, des Pfaundler, hier die, wo sein Verräther, Raffel, wohnte. Hier erkennt man deutlich die Fügung Gottes, die den Menschen errettet und untergehen läßt, und seine Wege bestimmt, wie es recht und gut und im Plane des Herrn ist. Nur eine Minute früher hätte Hofer erwachen sollen – und er war gerettet. In der finsteren Nacht, wo der Paß in‘s Ahrnthal so nahe (kaum eine Viertelstunde entfernt) ist, wer hätte ihn verfolgen, erreichen können?
Eine Viertelstunde südlich von der Hütte erreicht man den höchsten Punkt der Kellerlahn. Man er-blickt einen ungeheuern Bergkessel aus Sandstein. Auf vielen Seiten ist der Berg untergraben, mächtige Blöcke liegen ganz lose auf dürrem Sand, und gräßlich starrt das obere, lose Ende in die Leere hinaus. In der Tiefe haben sich neue Sandhügel gebildet, mit jedem Momente sich vergrößernd und die Gestalt wechselnd, denn unaufhörlich rollen die Sandströme hinab. Bei jedem Regenschauer bewegt sich die lose Masse, wie ein aus seinen Angeln gerissener Berg, mit Wasser untermengt in‘s Hauptthal hinab.
Am Abend saßen wir beisammen bei Mutter Gertrud, und sprachen über die großen Ereignisse ihres Lebens; über Hofer‘s Leben und Tod. Neu war mir ihre Darstellung von Hofer‘s Gefangennehmung. Ich gebe sie hier treulich wieder; nur daß ich die nöthigen Ergänzungen aus der Zeitgeschichte beifügte.
Der Friede von Preßburg war geschlossen, und die Kunde davon durch sichere Boten an die treuen Tyroler gelangt; auch war dem Lande durch das Proclam Eugen‘s (25. October), die Decrete Baierns und das Wort seines Obercommandanten, Grafen d‘Erlon, völlige Amnestie gesichert. – Da fand Hofer jeden ferneren Kampf nutzlos und verderblich und forderte das Volk, wie er es zum Streite gerufen, jetzt zur Ruhe auf: „Wir wollen uns nun durch Ergebung in den göttlichen Willen, durch brüderliche Liebe und geforderte Unterwerfung der Großmuth Napoleon‘s würdig machen.“ (Sterzing, 8. November 1809). Die Schützen zerstreuten sich und auch Hofer kehrte zu den Seinen zurück.
Das Land schien beruhigt, und nur einzelne Schaaren französischer Truppen durchzogen die Thäler, um alle Keime fernerer Unruhen zu entfernen oder unschädlich zu machen. Am 14. November rückten die Generäle Rusca und Barbou an den zwei entgegengesetzten Enden über Meran und über den Jauffen nach Passeyr; aber Torggler, die beiden Thalguter und andere Brauseköpfe regten die Landleute von Neuem auf.
Am Jauffen und in den Engpässen von St Martin wurde siegreich gekämpft und vorzüglich litt die Schaar, die über den Jauffen herabgezogen. Bei 600 Franzosen blieben, und an 1700 zogen sich auf den Kirchhof von St Leonhart, von allen Seiten angegriffen, bloßgestellt, der Erschöpfung, dem Hunger, dem Verderben Preis gegeben. Der wilde Haufe der Bauern sprach von Niedermetzeln: man habe nicht Zeit und nicht Leute genug, so viel Gefangene zu bewahren.
Schon früher hatte sich die tolle Schaar zu Hofer gedrängt, ihn mit Gewalt aus dem Hause gerissen: Ihr Andrä müsse wieder ihr Commandant werden! Doch er warnte, drohte und widerstand. Da kamen nun die Angesehensten des Thales, die Gutgesinnten, und flehten, er möchte sich doch zum Anführer erklären; er allein könne die Wuth des Haufens beschwichtigen, das Leben der Franzosen retten, das Thal vor einer schrecklichen Wiedervergeltung bewahren.
Dieß bestimmte ihn; und man drang ihm alsogleich folgende Ordre ab, die später – traurig genug – sein Todesurtheil begründete:
… „Ich sehe mich gezwungen, nachdem Jung und Alt die Waffen zu ergreifen sich nicht abhalten lassen, an euch, geliebte Mitbrüder, zu melden, daß Alles in ganz Passeyr auf ist, und den Feind als gestern den 14. November nach Herzenslust schlug. Streitet daher brüderlich nach dem Beispiele der übrigen Orte, glaubet Niemanden was, außer ihr habt meine Unterschrift und dann will ich mit euch brüderlich streiten und nicht vergessen euer Vater zu seyn. – Dieses sehe ich mich verpflichtet, euch in Kürze zu melden, wenn ich mich nicht selbst als Opfer meiner eignen Leute Preis geben will.“ (Passeyr am Sand, den 15 November 1809.)
Die Franzosen waren gerettet; sie ergaben sich, und wurden gut gepflegt und versorgt; aber die offene Ordre Hofer‘s ward im Vintschgau, im Innthal bis in‘s Zillerthal, verbreitet und das Volk erhob sich von Neuem; doch wurde der Aufstand ebenso schnell unterdrückt, und auf den Höhen von Jenesiern blieb Thalguter mit den kühnsten seiner Schützen. Die vormaligen Anführer flohen alle aus dem Lande: Pater Haspinger nach Graubündten, Speckbacher mit unsäglicher Gefahr nach Österreich. Holzknechtt erhielt einen Paß von Baraguay d‘ Hilliers, der auch Hofern einen anbot, aber dieser bat sich drei Tage Bedenkzeit aus und – verschwand mit einem Male. Er hatte sich in die Hütte an der Kellerlahn geflüchtet, mit seinem Sohn und Schreiber. Seine Vertrauten, Pfaundler, Strobel, Laner, Illmer, Raffel, brachten ihm abwechselnd Speise, Trank, Botschaft. Den meisten Pseyrern war sein Aufenthalt bekannt, aber Jeder hätte lieber sein Leben, als seine Treue geopfert. In seine Einöde drang die Nachricht von der entsetzlichen Zersplitterung des Landes unter Baiern, Italien und Illyrien und schlug ihn tief darnieder, – ein solches Ende hatte sein redliches, patriotisches Streben nicht verdient. Es kamen auch geheime Abgesandte von Wien, und boten ihm die Hand zur Rettung; aber er war unschlüssig, seine Kraft und sein Muth gelähmt. Mit aller Heftigkeit erwachte die Liebe zu seinem heimischen Boden, zu seinen alten Freunden, dem gastlichen Hause seiner Urältern. Bald schützte er vor, er könne Weib und Kinder nicht verlassen, bald wollte er sich den Bart nicht abnehmen lassen; er wurde krank und schwach, immer düsterer, immer unschlüssiger im Gemüthe. – Zu Anfang des neuen Jahres (1810) rief er Frau und Töchter, die in der Gegend von Ridaun verborgen waren, zu sich über das Gebirg. Schmerzlich war ihr Wiedersehen und ach, wie kurz sollte es währen, wie traurig enden. –
Die Hütte hatte nicht Platz für die Familie, und die älteste mit der jüngsten Tochter ward hinüber gesandt ins Gebirg auf dem andern Ufer der Passer. Unablässig lag ihm Frau Gertrud an: er möchte sich mit ihr über das Wartleis retten, – der Eifer seiner Leute erkalte nach und nach, – Raffel habe bedeutende Worte, Drohungen fallen lassen. Sie brachte es endlich dahin daß er am 21. des Morgens zu fliehen beschloß; aber die fluchwürdigen Verräther kamen ihm zuvor. Joseph Donay, von Schlanders gebürtig, Student, dann Jäger, endlich Capuziner, früher Hofers Vertrauter, von ihm als Deputirter zu Eugen gesendet, und seit der Zeit im Gefolge der französischen Generäle, war der Versucher und Raffel der Ischariot (was Donay s Schicksal geworden ist mir unbekannt. Raffel, in München angestellt, in Blutschande mit der eigenen Tochter lebend, wurde heuer (1828) von seinem Weibe erschlagen, sie selbst hingerichtet).
Baraguay d‘ Hilliers, damals in Meran, beorderte 1500 Mann, 30 Gensd‘armes, 70 Jäger zu Pferde unter Capitän Renouard zur Überwältigung des Einzelnen, Verlassenen. In der Nacht vom 18. zum 20. zogen sie ins Passerthal, bei St Martin wandten sie sich hinauf in‘s Gebirg durch Schnee und Eis in tiefem, von keinem Monde, keinem Sterne erhellten Dunkel. Schon dämmerte es, als sie die Holzung verließen und im Angesicht der Hütte waren; da glaubten sie sich getäuscht, banden Raffel an einen Baum fest, und wäre Hofer nicht in der Hütte gewesen, Jener wäre ein Opfer ihrer betrogenen Erwartung geworden. Sie umringten in dichten Reihen die Hütte, die Wiese, den Paß. Renouard trat vor und rief Hofer. Der Arme genoß eben eines kurzen, erquickenden Schlummers; er schritt (oder kroch vielmehr, so niedrig ist der Eingang jener Hütte) hervor, und sagte mit fester Stimme seinen Namen.
Schnell ward er gefesselt, auch sein Sohn und Schreiber hatten gleiches Schicksal. Ersterem ward nicht einmal gegönnt, Schuhe und Strümpfe anzulegen; nur die Frau und die Töchter, halb ohnmächtig vor Schreck, wurden glimpflicher behandelt. Hofer wurden die Hände auf den Rücken gebunden; er fiel oft auf dem gefährlichen, schlüpfrigen Wege und ward jedesmal mit Gewalt aufgerissen und fortgestoßen; aber er murrte und seufzte nicht.
Der zweimonatliche Aufenthalt in jener Schneewelt, schlechte Nahrung, Kälte, Kummer und Gram hatten ihn stark angegriffen, seine Wangen waren eingefallen, sein Kopf ergraut; aber er ging gleich einem Märtyrer (wie sein Beichtvater von ihm in der Stunde der Hinrichtung sagte) ruhig und ungebeugt den schweren Gang voll innerer Ergebung, der Gnade seines Erlösers gewiß. – Bei St Martin an der Passer, wo die Kellerlahn sich mündet, haben ihn seine Pseyrer das letzte Mal gesehen.“