Rückblick auf unterschiedliche Gedenken

Tiroler Landtag 1920 – Ein erschütternder Abschied

Am 10. Oktober 1920 war die offizielle Einverleibung des südlichen Tirols einschließlich Welschtirols in den italienischen Staat vollzogen worden. Weder im heutigen Südtirol noch im heutigen Trentino (Welschtirol) war eine Volksabstimmung durchgeführt worden. Offensichtlich hatte man in Rom wohl zu Recht befürchtet, dass eine solche nicht zugunsten Italiens ausgegangen wäre.

Am 16. November 1920 wurden am Innsbrucker Landhaus, dem Sitz des Tiroler Landtages, schwarze Trauerfahnen gehisst. An diesem Tag leitete Landeshauptmann Josef Schraffl (Christlichsoziale Partei) eine Trauersitzung des Tiroler Landtages, auf welcher die Abgeordneten aus dem südlichen Landesteil verabschiedet wurden. Er sprach: „Heute sind noch die Brüder aus dem Süden des Landes hier versammelt. Erschüttert haben wir ihre Abschiedsworte vernommen, das eiserne Muss des Friedensvertrages zwingt uns in kurzer Zeit, uns zu trennen. Schweren Herzens werden wir in den nächsten Tagen die grausame Pflicht erfüllen, aber wir tun es nicht, ohne schon heute feierlich Protest zu erheben, ohne uns gegenseitig zu geloben, dass wir nie und nimmer ruhen und rasten werden, bis auch uns Tirolern, Deutschen und Ladinern; das Recht der Selbstbestimmung, des völkischen Zusammenschlusses zuteil wird.“ (Stenographische Berichte des verfassungsgebenden Tiroler Landtages. 46. (Trauer-)Sitzung am 16. November 1920 um 10 Uhr vormittags)

Die Trauersitzung des Tiroler Landtages am 16. November 1920
Die Trauersitzung des Tiroler Landtages am 16. November 1920

Einhundert Jahre später, am 16. November 2020 widmete die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ der damaligen Trauersitzung des Tiroler Landtages eine ganze Seite mit einem Offenen Brief des langjährigen FPÖ-Nationalrats- und Landtagsabgeordneten Dr. Siegfried Dillersberger an den Nordtiroler Landeshauptmann Günther Platter und die Präsidentin des Nordtiroler Landtages, Sonja Ledl-Rossmann.

In diesem Schreiben berichtete Dr. Siegfried Dillersberger, dass damals sein Großvater Josef Dillersberger als Landtagsabgeordneter Zeuge des traurigen Geschehens war, als sich der Abschied der Südtiroler Mitgleider des Landtages „mit bewegten Worten und Umarmungen, teils unter Tränen“ vollzog.

Dr. Dillersberger erinnert an einen Grundsatzbeschluss des Tiroler Landtages

In dem Brief von Dr. Dillersberger heißt es weiter, der Tiroler Landtag habe am 24. November 1994 „in einer auch von mir initiierten Entschließung festgestellt, dass sich die in der Präambel der Tiroler Landesordnung 1989 genannte geistige und kulturelle Einheit des Landes Tirol auf Nord-, Ost- und Südtirol bezieht. Weiters hat sich der Tiroler Landtag damals auch zum ‚fundamentalen Menschenrecht auf Selbstbestimmung bekannt…“

Chorgesang für die „Europaregion“ und die „weltweit als Vorbild“ dienende Autonomie

Es gab es einen amtlichen Chorgesang für die „Europaregion“. Die ÖVP Tirols veröffentlichte am 9. Oktober 2020 auf ihrer Internetseite eine namentlich nicht gezeichnete Stellungnahme unter dem Titel „Auch wenn die Teilung Tirols immer Unrecht bleiben wird, geht unser Blick nach vorne“.

Darin hieß es: „Die damalige Entscheidung war ein Unrecht und wird immer ein Unrecht bleiben.“ Jedoch diene die Autonomie heute „weltweit als Vorbild“ und die „Euregio führt zusammen und stellt das Gemeinsame vor das Trennende.“ Wie schön!

Dass die Südtiroler Autonomie „weltweit als Vorbild“ diene, ist eine gewagte Aussage angesichts dessen, dass sie international-rechtlich nicht abgesichert ist. LH Platter sei hier empfohlen, sich einmal im Vergleich dazu die Autonomie der Aland-Inseln anzusehen. Dann wird ihm klar werden, wie eine wirkliche Autonomie aussieht.

Wer sich von der Inhaltsleere der „Euregio“ überzeugen will, kann dies durch einen Besuch der Internetseite tun.

 

Auch der Nordtiroler FPÖ-Obmann und Landtagsabgeordnete Markus Abwerzger forderte in einer Stellungnahme auf der Internetseite seiner Partei zunächst nur: „… die Europaregion muss mit echtem Leben erfüllt werden. Wie schön!

Allerdings lag der FPÖ-Südtirolsprecher im Österreichischen Nationalrat Peter Wurm nicht ganz auf der Linie seines Nordtiroler Parteiobmannes. Er erklärte in einer Pressemitteilung am 10. Oktober 2020 immerhin:

„Für jeden aufrechten Tiroler kann es nur die Wiedervereinigung der Landesteile beim Vaterland Österreich geben.“

Daraufhin erklärte Abwerzger mit einem Monat Verspätung in einem Pressedienst:

„Nach 100 Jahren Unrecht leben wir noch immer in einem zerrissenen Land, mit nur äußerlich verheilten Wunden. Die Autonomie sowie die Europaregion können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tirol im Innersten zerrissen ist und bis heute die Volksseele darunter leidet.“ (Internetportal „unsertirol24“ vom 16. November 2020)

Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) brach in einer Stellungnahme „eine Lanze für die Europaregion“ und erklärte: „Aufbauend auf einer soliden Wertebasis beschreiten wir gemeinsam den europäischen Weg.“ („Dolomiten“ vom 10. Oktober 2020) Wie schön!

Am 19. November 2020 fand dann im Tiroler Landtag in Innsbruck ein Gedenken an die Landesteilung vor 100 Jahren statt, an welchem die „Euregio“-Landeshauptleute Günther Platter (Nordtirol), Arno Kompatscher (Südtirol) sowie Maurizio Fugatti (Trentino) teilnahmen. In der Pressemitteilung der Nordtiroler Landesregierung wurde keineswegs die Wiedervereinigung Tirols als wünschenswertes Ziel dargestellt, sondern stolz die Erklärung des Landeshauptmannes Platter wiedergegeben, dass die drei Länder „im Rahmen der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino und im Geiste eines geeinten Europas“ verstärkt zusammen arbeiten würden.

Dazu erklärte der freiheitliche Landtagsabgeordnete Christofer Ranzmaier in seiner Eigenschaft als Obmann der Freiheitlichen Jugend in einer Presseaussendung:

„Man versucht den Eindruck zu erwecken, man hätte mit dem Papiertiger ‚Europaregion Tirol‘ die Lösung des Problems geschaffen, verkennt dabei jedoch völlig, dass trotz allem am Brenner noch immer eine Unrechtsgrenze existiert, die sich insbesondere in Krisenzeiten auch als solche manifestiert. Eine Unrechtsgrenze die nicht nur unser Land, sondern ganze Familien auseinanderreißt. Eine Unrechtsgrenze, die das Land nicht für immer trennen darf.“

Was ist die „Europaregion“ in Wahrheit?

Sie ist ein weitgehend inhaltsleeres Papierkonstrukt. Bei der sogenannten „Euregio“ – der „Europaregion Tirol“ – handelt es sich um keine öffentliche Körperschaft mit Rechtsstatus, Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen. In einer wissenschaftlichen Arbeit steht dazu treffend und kurz zu lesen: „Die Institutionalisierung der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino scheiterte bereits in den Kindertagen.“ Die Bezeichnung „Europaregion“ sei lediglich der Titel für „eine freiwillige politische Zusammenarbeit, die jederzeit auf gekündigt werden kann.“ (Ivo Eric Graziani in seiner Diplomarbeit „Die Europaregion Tirol-Südtirol/Alto Adige-Trentino“, Universität Wien 2009, S. 121)

Das Verhalten der Medien und der Politiker

In Südtirol sorgte vor allem die Tageszeitung „Dolomiten“ dafür, dass über das Thema der Landesteilung eine breite öffentliche Diskussion stattfand. Die Zeitung selbst gab in mehreren Folgen allen Stimmen aller Richtungen ausreichend Raum.

Aus der Titelseite der „Dolomiten“ vom 10. Oktober

Im Innenteil widmeten die „Dolomiten“ dem tragischen Geschehen von 1920 eine ausführliche Berichterstattung
Im Innenteil widmeten die „Dolomiten“ dem tragischen Geschehen von 1920 eine ausführliche Berichterstattung

In Österreich sah es leider anders aus, wie die „Dolomiten“ am 17. Oktober 2020 kritisch berichten mussten. „100 Jahre Annexion Südtirols durch Italien waren im Bundesland Tirol kaum ein Thema“, lautete die Schlagzeile, unter der dann aus der Feder des bekannten Tiroler Journalisten, Historikers und Alpinisten Uwe Schwinghammer zu lesen war: „Während man in Südtirol in den Medien ausführlich des 100. Jahrestages der Annexion Südtirols gedachte, herrschte im Bundesland Tirol weitgehend Schweigen im Blätterwald und bei den Rundfunksendern. Auch in der Politik war das kaum Thema.“

(Wer weiß, wie die Medien Österreichs an dem finanziellen Tropf der hohen Politik – Presseförderung, Inserate – hängen, den wundert dies nicht.)

Der ehemalige Nordtiroler Landeshauptmann Wendelin Weingartner (ÖVP) hielt einen kritischen Rückblick auf die Gedenkveranstaltungen des 10. Oktober, welcher in der Südtiroler Sonntagszeitung „Z – Die Zeitung am Sonntag“ am 18. Oktober 2020 veröffentlicht wurde:

Bekenntnisse zur Landeseinheit

„Dolomiten“ Chefredakteur Dr. Toni Ebner zu dem Thema Selbstbestimmung

Am 10. Oktober 2020 erklärte Dr. Toni Ebner, Chefredakteur der Tageszeitung „Dolomiten“, in der ORF-Dokumentarsendung „100 Jahre Südtirol – Zerrissen zwischen den Mächten“: „Die klassische Frage ‚Selbstbestimmung für Südtirol – wollt ihr zurück zu Österreich‘, hängt von den Umständen ab. Wenn die Umstände so sind, dass die italienische Regierung die Südtiroler drangsaliert, das hat es ja immer wieder gegeben, und Probleme schafft, dann glaube ich, dass eine Mehrheit in Südtirol für eine Rückkehr nach Österreich zustande kommt.

Südtiroler Schützenbund: Rote Leuchtfeuer und Dornenkrone an der Grenze

Am 10. Oktober 2020 wurden in allen sieben Bezirken Feuerschriften mit der Zahl 100 entzündet. Zahlreiche rote Feuer von den Bergeshöhen erinnerten an das Leid, welches Südtirol bislang hatte erdulden müssen.

Am Timmelsjoch hatte der Südtiroler Schützenbund, in Anwesenheit aller drei Landeskommandanten Tirols, eine Dornenkrone errichtet. Sie sollte an das Leiden erinnern, das die Südtiroler im Laufe der Geschichte miterlebt haben.

Der Südtiroler Landeskommandant Wirth Anderlan fand klare Worte
Der Südtiroler Landeskommandant Wirth Anderlan fand klare Worte

Der Südtiroler Landeskommandant Jürgen Wirth Anderlan erklärte dazu, dass für die Zukunft weiterhin die Worte des ehrwürdigen Altlandeshauptmann von Tirol, Eduard Wallnöfer, das Fundament für das Tun und Handeln der Schützen sein werden:

„Wir wissen, dass wir die staatliche Unrechtsgrenze nicht mit Gewalt ändern können. Aber keiner kann von uns erwarten, dass wir jemals dieses Unrecht Recht heißen und das wir jemals aufhören werden, leidenschaftlich unsere ganze Kraft einzusetzen für das Recht in Nord-, Süd-, Ost- und Welschtirol.“

Die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete ausführlich über die Gedenkveranstaltungen und die Leuchtfeuer des Südtiroler Schützenbundes

Südtiroler Schützenbund: Einweihung eines Gedenksteins in der Mitte Tirols

Am 10. Oktober 2020 wurde der durch den Schützenbezirk Brixen und die Schützenkompanie Latzfons errichtete Markstein in der Mitte Tirols nahe der Wallfahrtskirche Latzfonser Kreuz feierlich eingeweiht und gesegnet. Er soll „die Verbundenheit unseres Heimatlandes aufzeigen“, heißt es in einer Mitteilung der Schützen. Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete darüber am 12. Oktober 2020.

Süd-Tiroler Freiheit: Plakataktion

Die im Südtiroler Landtag vertretene Partei „Süd-Tiroler Freiheit“ sorgte mit einer Plakataktion in Nord-, Süd- und Osttirol für Aufsehen. Sie sollte, hieß es in einer Presseaussendung, die Bevölkerung dafür sensibilisieren, dass Tirol nicht am Brenner aufhört und dass die Teilung unseres Landes überwunden werden kann.

Denn „schöne Sonntagsreden von einer vermeintlichen Europaregion Tirol“ seien nicht genug, erklärte der Landtagsabgeordnete Sven Knoll dann auf einer Pressekonferenz. Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete darüber am 13. Oktober 2020.

Südtiroler Heimatbund (SHB): Plakataktion in Tirol und ganz Österreich

Der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) wurde von ehemaligen Freiheitskämpfern und politischen Häftlingen gegründet, um die Forderung nach Selbstbestimmung und Landeseinheit öffentlich zu vertreten. Der heutige Obmann Roland Lang ist in allen seinen Handlungen und Äußerungen dieser Linie treu geblieben. In Nord-, Süd- und Welschtirol sowie in mehreren österreichischen Städten einschließlich Wien verwiesen Plakate auf den 10. Oktober 1920 und die verweigerte Selbstbestimmung.

Das SHB-Plakat bei einer Bushaltestelle in Bozen. Im Hintergrund sieht man das faschistische „Siegesdenkmal“

Andreas Hofer-Bund (AHB) in Trient: Kundgebung für ein vereintes Tirol

Am 100. Jahrestag der Annexion Südtirols fand auch auf dem Domplatz von Trient eine Kundgebung des „Andreas Hofer-Bundes“ für die Tiroler Landeseinheit statt.

Unter den Augen der Carabiniere waren zahlreiche Tiroler und österreichische Fahnen zu sehen, die Musikkapelle intonierte die Tiroler Landeshymne und die alte österreichische Kaiserhymne. Für den 100. Jahrestag wurde eigens eine Dornenkrone aus Edelstahl angefertigt – als Symbol der Trauer und des Schmerzes, als Symbol der römischen Fremdherrschaft!

Der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) wurde durch dessen Obmannstellvertreter Meinrad Berger vertreten.

Der Obmann Alois Wechselberger vom „Andreas Hofer-Bund Tirol“ sagte unter anderem: „..das alte kaiserliche Österreich gibt es nicht mehr, aber es gibt uns Tiroler deutscher, walscher und ladinischer Zunge. Wir sind gemeinsam Tirol … Ich glaube an Euch, helft uns unserer Heimat zu vereinen und gemeinsam aufzubauen.“

Meinrad Berger bei seiner Ansprache und Kundgebungsteilnehmer in Trient mit der österreichischen Staatsflagge
Meinrad Berger bei seiner Ansprache und Kundgebungsteilnehmer in Trient mit der österreichischen Staatsflagge

Das diesjährige Gedenken an die Landesteilung vor 100 Jahren hat öffentlich gemacht, dass für die derzeitigen Landeshauptleute Nord- und Südtirols das Thema Selbstbestimmung unangenehm ist. Sie wollen sich hier in keine Pflicht nehmen lassen und flüchten sich in leeres Geschwätz über die ebenso leere „Europaregion Tirol“, die dann auch „Euregio“ genannt wird, weil das bedeutungsschwerer klingt.

Zahlreiche Landsleute sehen die Sache aber anders und äußern sich klar und eindeutig. In Südtirol haben die Tageszeitung „Dolomiten“ und die Sonntagszeitung „Z“ in demokratischer Weise der öffentlichen Erörterung sowohl in der Berichterstattung wie auch auf den Leserbriefseiten den von der Bevölkerung gewünschten Raum gegeben.

Zahlreiche österreichische und insbesondere Nordtiroler Medien sollten sich an diesem Verhalten ein Beispiel nehmen. Demokratie zeichnet sich nicht durch ständige mediale Belehrung der Bevölkerung von oben her aus, sondern durch freie öffentliche Diskussion innerhalb des gesetzlichen Rahmens.