Landtagswahlen 2023 – Eine Analyse des Ergebnisses von Cristian Kollmann
Bild Cristian Kollmann: Süd-Tiroler Freiheit; Bildkomposition: SID
Am 28.11.1948 hatte die Südtiroler Volkspartei (SVP) mit 67,6% der Stimmen einen überragenden Erfolg errungen. Mit Recht wurde sie als Sammelpartei der Südtiroler angesehen.
Die Südtiroler Landtagswahlen brachten am 22. Oktober 2023 ein dramatisches Ergebnis. Nach 75 Jahren, am 22.9.2023, endete mit nur mehr 34,5% der Stimmen der bisherige Siegeslauf der SVP innerhalb der Volksgruppe, sie wurde im Vergleich zu 1948 halbiert. Viele Wähler hatten offenbar nicht mehr erkennen können, ob die SVP unter der Führung des Landeshauptmannes Arno Kompatscher (SVP) noch für andere Ziele als die Sicherung gut dotierter Mandate und Posten eintrete.
Der bekannte Südtiroler Toponomastik-Experte und Sprachhistoriker Cristian Kollmann hat über die derzeitige Situation in Südtirol nachstehende Analyse zur Verfügung gestellt. Er zeigt die Varianten der noch möglichen Koalitionen auf, die dem geschlagenen LH Arno Kompatscher (SVP) verbleiben.
Neuer Landtag in Südtirol – Kommt die Wende?
von Cristian Kollmann
Am 22. Oktober 2023 fanden in Südtirol Landtagswahlen statt. 16 Parteien waren angetreten und zwölf haben es in den Landtag geschafft. Nachstehend das Ergebnis für sie im Detail:
Die Sitzverteilung im Landtag grafisch dargestellt:
Das Ergebnis dieser Landtagswahl brachte ein Novum in der Geschichte Südtirols: Die regierende Südtiroler Volkspartei hat zum ersten Mal so viele Stimmen verloren, dass sie zum Regieren einen deutschen Koalitionspartner benötigt.
Dieses Novum war wohl der Hauptgrund dafür, dass über den Ausgang einer Südtiroler Landtagswahl, anders als in der Vergangenheit, in ganz Italien, aber auch in Österreich und Deutschland ausführlich berichtet wurde.
Ganz richtig ist überall davon die Rede, dass schwierige Koalitionsgespräche anstehen. Die potentiellen interethnischen Koalitionspartner (Team K, Grüne) haben nämlich keinen Italiener zu bieten.
Mindestens ein italienisches Regierungsmitglied ist aber erforderlich, weil laut Südtiroler Autonomiestatut die Sprachgruppen in der Landesregierung im selben Verhältnis wie im Landtag vertreten sein müssen.
Die Zahl der italienischen Kandidaten, die es bei dieser Wahl in den Landtag geschafft haben, beläuft sich auf fünf und ist damit vergleichsweise niedrig. Bei der letzten Landtagswahl waren es acht. Fünf Abgeordnete von insgesamt 35 machen in Prozent 14,29 aus. Wenn man davon ausgeht, dass die künftige Südtiroler Landesregierung so wie bisher aus neun Mitgliedern besteht, geht sich bei 14,29 Prozent ein italienischer Abgeordneter aus (mathematisch exakt wären dies 1,29).
Welche Koalitionen sind möglich?
Umgehend nach dem Wahlergebnis wurden medial alle möglichen Koalitionsszenarien durchgespielt. Da der Südtiroler Landtag 35 Abgeordnete stellt, braucht es für eine Regierungsmehrheit mindestens 18 Simmen. Für die Südtiroler Volkspartei hat es nur für 13 Mandate gereicht, zwei weniger als bisher.
Eine einzige italienische Partei als Partner für eine mehrheitsfähige Regierung reicht aber nicht, weil die stärkste italienische Partei, die Fratelli d’Italia, nur zwei Stimmen beisteuern kann.
Mögliche, jedoch wenig realistische Dreierkoalitionen
Zum ersten Mal in der Geschichte Südtirols ist eine Zweierkoalition nicht mehr möglich. Rein technisch möglich wären dagegen folgende Dreierkoalitionen:
- Südtiroler Volkspartei (13), Team K (4), Fratelli d’Italia (2): 19 Simmen;
- Südtiroler Volkspartei (13), Süd-Tiroler Freiheit (4), Fratelli d’Italia (2): 19 Stimmen.
Allerdings sind beide Koalitionsvarianten wenig realistisch. Zu groß sind nämlich die ideologischen Differenzen zwischen den faschistischen Fratelli d’Italia und dem Team K bzw. der Süd-Tiroler Freiheit. Andererseits stünde diese Koalition zahlenmäßig auf einigermaßen stabilen Beinen, denn die Regierungsparteien hätten immerhin um zwei Stimmen die Mehrheit.
Viererkoalition unumgänglich
Um eine stabile Mehrheit zu bekommen, ist eine Viererkoalition unumgänglich. Die Konstellationen, aus denen sich eine Viererkoalition ergeben könnte, sind, rein technisch betrachtet, vielfältig und folglich politisch komplizierter. Jedem der Koalitionspartner müsste die Südtiroler Volkspartei mindestens einen Landesregierungssitz zugestehen, was letztlich für die Volkspartei selbst weniger Sitze bedeuten würde. Nachstehend werden vier Szenarien einer Viererkoalition durchgespielt.
Viererkoalition, Szenario 1: Südtiroler Volkspartei, Grüne, Partito Democratico, La Civica
Grundsätzlich muss sich die Südtiroler Volkspartei entscheiden, ob sie eine Koalition nach links oder nach rechts will. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Landeshauptmann Arno Kompatscher immer schon mit den Grünen sympathisierte. Doch um mit den Grünen zumindest hauchdünn regieren zu können, werden zwei weitere Sitze benötigt, die nur die beiden linken Parteien Partito Democratico und La Civica beisteuern können, demnach: Südtiroler Volkspartei (13), Grüne (3), Partito Democratico (1), La Civica (1).
Gemeinsam hätte man dann eine hauchdünne Regierungsmehrheit von 18 Stimmen. Von den neun Sitzen in der Landesregierung würden dann aller Wahrscheinlichkeit zwei die Grünen und je einen die beiden italienischen Parteien für sich reklamieren. Für die Südtiroler Volkspartei blieben dann nur noch fünf Regierungssitze übrig, während es in der bisherigen Koalition mit der Lega, die zwei Landesräte stellte, noch sieben waren.
Viererkoalition, Szenario 2: Südtiroler Volkspartei, Team K, Partito Democratico, La Civica
Eine stabilere Mitte-links-Regierung ergäbe sich, wenn die Südtiroler Volkspartei statt den Grünen das um einen Sitz stärkere Team K ins Boot holen würde, weil sich dann mit 19 Stimmen eine Regierungsmehrheit ergäbe.
Demnach: Südtiroler Volkspartei (13), Team K (4), Partito Democratico (1), La Civica (1)
Viererkoalition, Szenario 3: Südtiroler Volkspartei, Fratelli d’Italia, die Freiheitlichen, Lega
So sehr sich Arno Kompatscher eine Mitte-links-gerichtete Landesregierung wünschen würde, so sehr beschäftigt ihn gewiss auch der Gedanke, dass eine solche Regierung mit jener in Rom nicht kompatibel wäre.
Wenn Arno Kompatscher eines ist, dann romgefällig – egal, wer gerade dort am Ruder ist.
Und das ist aktuell nun einmal ganz klar eine Rechtsregierung. Gerade die in Rom regierenden und nach wie vor faschismusaffinen Fratelli d’Italia haben sich im Landtagswahl besonders interessiert an einer Koalition mit der Südtiroler Volkspartei gezeigt.
Auch die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ publizierte noch am Tag vor der Landtagswahl ein Propagandainterview mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Kritische Fragen – etwa warum sie im Jahr 2014 den Südtirolern nahelegte, sie mögen doch nach Österreich auswandern, wenn sie sich mit der italienischen Trikolore nicht identifizieren wollen – bekam die Ministerpräsidentin freilich nicht gestellt.
Mittlerweile ist Frau Meloni ja angeblich staatstragend und gemäßigt. Dieses Bild wollen zumindest die etablierten Medien vermitteln. Ob dies das Südtiroler Volk und vor allem die Wähler der Südtiroler Volkspartei tatsächlich auch so sehen, ist fraglich. Und genau das bringt Arno Kompatscher in die Zwickmühle. Um seine neuen römischen „Freunde“ in Rom nicht vor den Kopf zu stoßen, täte er aus seiner Sicht gut daran, die Fratelli d’Italia in die Südtiroler Landesregierung zu holen.
Doch um eine Regierungsmehrheit zu erreichen, benötigt er weitere rechte Partner, von denen auf deutscher Seite die Freiheitlichen (die mit zwei Sitzen konstant geblieben sind) und auf italienischer Seite sowohl die Fratelli d’Italia (die von einem Sitz auf zwei Sitze zugelegt haben) als auch die Lega (die von vier Sitzen auf einen Sitz geschrumpft ist) die meisten Synergien hätten.
Eine derartige Mitte-rechts-gerichtete Regierung hätte dann die denkbar knappste Mehrheit von 18 Stimmen, demnach:
Südtiroler Volkspartei (13), Fratelli d’Italia (2), Freiheitliche (2), Lega (1).
Wie eine Regierung mit den Grünen wäre auch diese Regierung auf Grund der Mehrheit von lediglich einer Stimme höchst instabil.
Daher ist es fraglich, ob Arno Kompatscher dieses Risiko eingehen möchte. Und zudem: Wie groß wäre der Rückhalt in der Bevölkerung für eine Südtiroler Landesregierung, in der, genau nach 100 Jahren seit der Machtergreifung der Faschisten, ausgerechnet deren ideologische Enkel sitzen?
Viererkoalition, Szenario 4: Südtiroler Volkspartei, Süd-Tiroler Freiheit, die Freiheitlichen, Lega
Man kann es drehen und wenden, wie man will: eine tragfähige Regierung in Südtirol scheint außer Reichweite – so zumindest für Arno Kompatscher. Doch bei genauerem Hinschauen stellt man fest, dass das eigentliche Problem nicht beim Wahlergebnis liegt, sondern woanders: bei Kompatscher selbst. Wenn er weniger romgefällig wäre und dafür aber mehr Patriotismus für (Süd-)Tirol empfinden würde, sähe Kompatscher auch die naheliegendste Lösung: eine Koalition seiner Partei mit der Süd-Tiroler Freiheit, den Freiheitlichen und der Lega, demnach:
Südtiroler Volkspartei (13), Süd-Tiroler Freiheit (4), Freiheitliche (2), Lega (1).
Mit insgesamt 20 Stimmen hätte diese Regierung eine Mehrheit um sogar 2 Stimmen, wobei allein schon die deutschen Parteien, da mit 19 Stimmen ausgestattet, bereits von sich aus eine Mehrheit ausmachen würden und de facto auf die Stimme des laut Autonomiestatut zwingend vorgesehenen italienischen Landesrats gar nicht angewiesen wären.
Kompatscher könnte argumentieren: Mit der Lega als italienischen Partner bliebe sein direkter Draht zur italienischen Regierung aufrecht. Vor seinen Wählern würde er glaubwürdig erscheinen, weil er die nach wie vor faschistischen Fratelli d’Italia außen vor lässt. Zentrale Anliegen der Regierung könnten dann sein:
- die Rückholung und der Ausbau der Autonomie;
- die Forderung an Rom nach der Zuständigkeit für die Einwanderung;
- umfassende Maßnahmen zum Heimatschutz, d.h. der deutschen und ladinischen Sprache, der muttersprachlichen Schulen, der historisch fundierten Ortsnamen;
- die Forderung an Wien nach der doppelten Staatsbürgerschaft für die Südtiroler;
- Maßnahmen für den Umweltschutz auf der Grundlage des gesunden Menschenverstandes.
Auf der Agenda des Regierungsprogramms mit dem unpatriotischen Team K und den antipatriotischen Grünen als Regierungspartner wären die genannten Programmpunkte wohl nicht zu finden, stattdessen regelrecht die gegenteiligen, die da wären:
- weitere Aushöhlung der Autonomie durch Abschaffung des ethnischen Proporzes;
- die Fortsetzung einer unkontrollierten Einwanderung und der Nicht-Abschiebung von kriminellen Ausländern;
- die Ausweitung von gemischtsprachigen Schulen und damit langfristig die Abschaffung der muttersprachlichen Schulen;
- die schnelle Vergabe der italienischen Staatsbürgerschaft an Ausländer (wofür allerdings der Staat zuständig wäre), aber die Verweigerung der doppelten Staatsbürgerschaft für die Südtiroler;
- Maßnahmen gegen den Klimawandel, die zwar nicht effizient sind, dafür aber zu einer noch drastischeren Bevormundung, Verarmung und Überwachung der Bürger führen – siehe Beispiel Deutschland.
Bei einer Viererkoalition mit der Süd-Tiroler Freiheit als größter Juniorpartner läge der Fokus eindeutig auf den patriotischen Themen und somit auf der Stärkung der Identität der Südtiroler.
Doch kann dies im Sinne der Lega sein? Zustimmung wäre sicher zu erwarten, wenn es darum geht, das Migrationsproblem und die damit einhergehende hohe Kriminalitätsrate in den Griff zu kriegen.
Die Leidtragenden dieses Problems sind ja nicht ausschließlich die Südtiroler, sondern alle redlichen Bürger, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Und was ist mit der Rückholung der verloren gegangenen autonomen Kompetenzen bzw. dem Ausbau der Autonomie? Wäre dafür die Lega zu gewinnen? Es sei daran erinnert, dass die Lega ursprünglich den Föderalismus hochhielt und sich sogar für die Selbstbestimmung der Völker aussprach. Das ist lange her, und die Lega ist zu einer gewöhnlichen zentralistischen und mitunter auch nationalistischen Partei geworden.
Andererseits behaupten, wenn es um Südtirol geht, nicht nur die Lega, sondern auch die Fratelli d’Italia autonomiefreundlich zu sein. Was konkret damit gemeint ist, könnte die Lega in einer Regierung, wo sie von den deutschen Parteien jederzeit überstimmt werden könnte, unter Beweis stellen. Dasselbe gilt für die patriotischen Kernthemen der Süd-Tiroler Freiheit. Als zweitstärkster Koalitionspartner könnte sie klare Forderungen stellen, und es wäre interessant zu sehen, wie weit die Lega, damit sie mitregieren kann, zu einem Entgegenkommen bereit wäre.
Sven Knoll, die Gallionsfigur der Süd-Tiroler Freiheit, der als Landeshauptmann-Kandidat angetreten war, hat von allen Kandidaten südtirolweit am drittmeisten Vorzugsstimmen erhalten (25.290, zum Vergleich zu 2018: 9.118) – nach Arno Kompatscher (58.771; zum Vergleich 2018: 68.210) und dem neuen Kandidaten der Südtiroler Volkspartei, Hubert Messner (30.605).
Auf Grund nicht nur des sehr guten Wahlergebnisses für die Süd-Tiroler Freiheit (die von 2 Sitzen auf 4 Sitzen zugelegt hat), sondern auch auf Grund des sehr guten Wahlergebnisses für Sven Knoll persönlich, würde ihm, demokratiepolitisch betrachtet, das Amt eines Landesrates eindeutig zustehen. Doch spielen demokratiepolitische Faktoren gerade bei der Ernennung von Koalitionspartnern und der Zuweisung von Regierungsämtern bekanntlich sehr selten eine Rolle.
Fünferkoalition, nur zum Machterhalt?
So wird auch Arno Kompatscher sich von strategischen Überlegungen leiten lassen. Aus seiner Sicht mag es auch verständlich sein, dass er möglichst wenig von seiner Macht abgeben und sich in Rom bloß keine Feinde schaffen will. Genau genommen kann er dies nur dadurch erreichen, indem er sowohl die Fratelli d’Italia als auch die Lega ins Boot holt.
Von deutscher Seite könnte er die Freiheitlichen hinzuziehen, und damit seine Regierung auf eine Mehrheit von 19 Stimmen kommt, zusätzlich von italienischer Seite La Civica, demnach:
Südtiroler Volkspartei (13), Fratelli d’Italia (2), die Freiheitlichen (2), Lega (1), La Civica (1).
Neben den Freiheitlichen müssten dann natürlich auch alle drei italienischen Partner in der Landesregierung mit einem Posten versorgt werden, obwohl es für die Landesregierung nur einen Italiener benötigen würde. Für die Südtiroler Volkspartei blieben dann um so weniger Posten übrig, und die Italiener wären in der Landesregierung überproportional zum Landtag vertreten. Eine Fünferkoalition ist zudem freilich noch schwerer regierbar als eine Dreierkoalition, und die überproportionale Vertretung der Italiener könnte viele Südtiroler vor den Kopf stoßen.
Alles ist möglich, sicher ist nur eines
Zum jetzigen Zeitpunkt scheint noch alles möglich zu sein. Egal, welche Regierung Südtirol bekommen wird, sicher ist nur eines: Die Südtiroler Volkspartei muss zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf die anderen deutschen Parteien zugehen.
Das ist schon einmal ein Anfang der Wende. Wenn Arno Kompatscher stattdessen es vorzieht, die deutschen Parteien hintanzustellen und sich noch mehr als bisher mit seinen italienischen „Freunden“ anzubiedern, dann wird seine Partei noch weiter abstürzen und die Süd-Tiroler Freiheit wird noch weiter zulegen.
Aus dem Anfang vom Ende der Südtiroler Volkspartei würde dann die Fortsetzung. Und aus dem Anfang der Wende für die patriotischen Kräfte würde dann ebenso die Fortsetzung.