Italien im politischen Chaos – Auswirkungen auf Südtirol?
Die Medien sind voll mit Berichten über den Rücktritt des italienischen Ministerpräsidenten Draghi und das – wie auch schon so oft in der Vergangenheit – herrschende politische Chaos in Italien.
Beobachter fürchten bei kommenden Wahlen eine Verstärkung des nationalistischen Flügels in der italienischen Politik und befürchten, dass auch auf Südtirol schwierigere Zeiten zukommen könnten.
Dankenswerter Weise hat Dr. Franz Pahl, Altmandatar der Südtiroler Volkspartei (SVP), einen fachkundigen Beitrag zur aktuellen Situation in Italien zur Verfügung gestellt.
Dr. Franz Arthur Pahl, von Beruf Lehrer, war von 1976 bis 1979 Landesjugendsekretär der Südtiroler Volkspartei (SVP). Von 1983 bis 2008 war er Abgeordneter im Südtiroler Landtag und im Regionalrat Trentino-Südtirol. Er hatte einige Jahre auch die Ämter des Vizepräsidenten der Regionalregierung und des Präsidenten des Regionalrats inne.
Er folgte stets einer klaren volkstumspolitischen Linie, die er auch heute zusammen mit Kollegen des SVP-Klubs der Altmandatare in Stellungnahmen und fachlichen Konzepten öffentlich vertritt.
Sorgenkind Italien
von Dr. Franz Pahl
Journalistischer Übereifer schrieb sich wieder einmal die Finger wund. Der 20. Juli 2022 wird in die politische Geschichte Italiens lediglich als einer der Zähltage von 70 italienischen Regierungskrisen eingehen. Der Senat bestätigte Ministerpräsident Mario Draghi zwar noch mit 95 gegen 39 Stimmen im Amt, doch für eine Parlamentsmehrheit reichte es nicht mehr. Draghi hatte allzu sehr auf sein Prestige gehofft.
Wie üblich verantwortungslos
Doch die „Bewegung der Fünf Sterne“ (Movimento 5 Stelle, M5S) unter dem früheren Ministerpräsidenten Conte war nicht mehr zu einer Koalition zu bewegen. Auch die beiden Rechtsparteien Forza Italia (Berlusconi) und Lega (Salvini) nahmen an der Abstimmung nicht teil mit der Begründung, mit dem unzuverlässigen Conte wolle man keinen „Vertrauenspakt“ mehr bilden.
In Wirklichkeit traten sie wie Conte die Flucht nach vorne an in der Hoffnung, durch Neuwahlen ihre schwindende Zustimmung in den Umfragen aufzufangen und einige Prozente zu gewinnen. Vorerst sieht es nicht danach aus. Außenminister Di Maio brandmarkte die Haltung der Fünf-Sterne-Bewegung. Man habe die Zukunft der Italiener verspielt. Die Folgen würden in die Geschichte eingehen.
Man dramatisiert gerne in Italien und vergisst, dass es auch andere Regierungskrisen gab, die alle durch die Verantwortungslosigkeit gegenüber den Interessen des Staates und Europas herbeigeführt wurden. Bereits am 25. September d.J. werden die Parlamentskammern neu gewählt.
Dreihundert Sitze weniger im Parlament
Aufgrund einer Verfassungsänderung, die die Volksabstimmung im September 2020 bestätigte, werden für die Abgeordnetenkammer statt 630 nur noch 400, für den Senat statt 315 nur noch 200 Vertreter gewählt. Ob die geringere Zahl von Volksvertretern die politische Qualität des Parlaments erhöht, darf man bezweifeln. In Italien entscheiden in der Regel die Parteiführer im engen Kreis über die Kandidatenaufstellung.
Geläuterter Renzi
Die faktische Entmachtung des Senats nach dem Willen des ehemaligen Führers der Demokratischen Partei, Matteo Renzi, hatte das italienische Volk 2016 zu Fall gebracht, indem es die radikal zentralistisch ausgerichtete Verfassungsreform mit Zweidrittelmehrheit ablehnte.
Das Volk will das System vollkommen gleichberechtigter Kammern in jetzt verkleinerter Größe. Renzi hatte das Zentralisierungsprojekt mit seinem Namen verbunden und musste gehen. Heute sitzt er mit einer kleinen Gruppe im Senat, den er zu einer einflusslosen Regionenvertretung ohne Mitbestimmung über den Staatshaushalt und die staatliche Gesetzgebung umgestalten wollte.
Der Senat korrigiert die Kammer
Das italienische Wählervolk erwies sich als weiser als die Parteien und die Journalistentruppe – auch die bundesdeutsche – die die Zentralisierung als Staatsrettung vor allen italienischen Übeln anpries. Die Existenz des Senats sichert im politisch-hysterischen Politikbetrieb, dass die oft recht opportunistisch motivierten Entscheidungen der Abgeordnetenkammer durch den Senat als gleichberechtigte zweite Parlamentskammer wieder etwas zurechtgerückt werden.
Im Senat, lat. dem „Rat der Alten“, sitzen aufgrund einer Verfassungsbestimmung nur Vertreter ab 40 Jahren. Im Normalfall sind Menschen in diesem Alter beruflich arriviert und können die Politik weniger mit Blick auf eigene Interessen betrachten. Die Kammer findet im Senat ihr korrigierendes Pendant.
Italien hat kein konstruktives Misstrauensvotum
Alle Regierungskrisen in Italien finden ihren Hauptgrund darin, dass es kein konstruktives Misstrauen gibt. Eine Regierung kann also gestürzt werden, ohne dass die Opposition zugleich ihren Gegenkandidaten für den Ministerpräsidenten mit eigener neuer Mehrheit vorstellen muss. In diesem Fall gäbe es auch die neue Krise nicht, weil sich die Gegner auf keinen neuen Kandidaten mit eigener Mehrheit hätten einigen können. Der gegenwärtigen Regierungskrise werden also weitere folgen.
Meloni im Aufwind, Fünf Sterne im Sinken
Den Verursachern der Krise scheint vorerst kein Vorteil daraus erwachsen zu sein. Hingegen dürfte dies die strikt rechtskonservative Partei der „Brüder Italiens“ (Fratelli d’Italia, FdI) von Giorgia Meloni begünstigen. Sie fischt seit langem im Lager der nostalgischen Rechtswähler und jener, die sich einen „starken“ Staat wünschen.
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts QUORUM kurz nach dem Sturz Draghis steht sie in der Wählergunst mit 23,8% an erster Stelle, gefolgt von der Demokratischen Partei (PD) des EU-Kommissars Letta mit 22,5%.
Die beiden Parteien kämpfen um die Vorherrschaft im Wahlkampf. Die Lega verlor ein Prozent und steht bei 13,4% und die Fünf-Sterne-Bewegung bei nur noch 9,8%; ein Schatten ihrer selbst im Vergleich zum Wahlergebnis im März 2018 mit 32,68%. Die Lega hatte damals 17,35% erreicht und war unter der Führung Salvinis als damaliger Innenminister in den Umfragen auf über 30% gekommen!
Berlusconis Forza Italia steht bei 14%.
Melonis FdI hatte 2018 nur 4,35% erhalten. Ihr Wahlerfolg im September wird zu Lasten der anderen Rechtsparteien gehen.
Italien besorgt Ukraine
Für den ukrainischen Präsidenten Selensky ist der Rücktritt Draghis wegen dessen positiver Haltung bedenklich. Salvini und Berlusconi haben seit Jahren Putin hofiert. Interessant darum, dass Giorgia Meloni in einer Erklärung versicherte, Italien würde selbstverständlich weiter die Ukraine auch mit Waffen beliefern. Putin sei der Aggressor, der ganz Europa gefährde. Die Ukraine verteidige ganz Europa.
Südtirol verhält sich abwartend
Auf Südtirol wird sich die Neuwahl deutlich auswirken, falls Melonis Partei die meisten Stimmen erringt und ihr damit der Posten des Ministerpräsidenten zusteht.
Allein werden die Rechtsparteien jedoch keine Mehrheit im Parlament erreichen können. Die Demokratische Partei wird entscheidender Mitspieler bleiben, sofern sie nicht selbst den ersten Platz erreicht.
Der Wahlkampf wird erst noch gewichten. Südtirol hat naturgemäß Interesse an einer demokratischen Regierung, in der eine Autonomie-freundliche Partei die politische Linie bestimmt. Berlusconi hat Südtirol in seiner Zeit als viermaliger Regierungschef dennoch fair behandelt. Als er 2005 – wie Renzi 2016 – den Staat zentralistisch umgestalten wollte, räumte er Südtirol eine Sicherheitsklausel durch den Landtag ein, die deutlich besser war als die Garantie Renzis zehn Jahre später. Beide Vorhaben scheiterten in Volksabstimmungen.
Die SVP hatte sich gegen Berlusconis Projekt gestellt, jedoch dem Vorhaben Renzis zugestimmt und aktiv für die Staatszentralisierung geworben, mit der wenig glaubhaften Versicherung, es seien genügend Garantien für Südtirol eingebaut.
Auch die deutschen Medien sangen damals unkritisch das Lob Renzis, bloß weil er eine sozialdemokratische Partei führte. Die italienischen Wähler bewahrten Italien und Südtirol vor diesem zweifelhaften Vorhaben.
Die Südtirolautonomie war nie abgesichert – EU kein Garant für Minderheiten
Doch die eigentliche Dauergefahr für Südtirol besteht unabhängig von allen Regierungskrisen. Als Österreich der Europäischen Union beitrat, legte es keinen Rechtsvorbehalt zugunsten Südtirols ein. Damit unterliegt Südtirol allen EU-Bestimmungen, die im Laufe der Jahre immer weitere Bereiche für alle Länder der EU regeln und oft zentralistische Tendenzen haben.
Traditionell sind die europäischen Minderheiten für die EU kein wirkliches Anliegen oder nur so lange, als es zwischen starken Minderheiten und der staatlichen Zentralgewalt zu Auseinandersetzungen kommt, die der Staat nicht mehr beherrschen kann.
Der Fall Katalonien – von der EU diskreditiert
Das Unabhängigkeitsbestreben Kataloniens ließ Spanien gnadenlos mit Polizeigewalt und politischen Schauprozessen abwürgen. Die EU schaute desinteressiert zu. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich als Vermittler zugunsten der Minderheit einzuschalten und sich gegen die offene Repression zu stellen, statt einer Prinzipien losen „Souveränität“ freie Bahn zu lassen.
Das gedankenlos-verantwortungslose EU-Parlament stimmte sogar der Aufhebung der Immunität der katalanischen EU-Abgeordneten zu und lieferte sie damit potenziell der spanischen Rachejustiz aus, die nur durch belgische Gerichtsentscheidungen in die Schranken gewiesen wurde.
Damit kann man sich leicht ausmalen, was Südtirol bei einem gleichen Bestreben zu erwarten hätte.
Südtirolautonomie nicht abgesichert
Mit Ausnahme einiger von italienischen Christdemokraten und Sozialisten bzw. Sozialdemokraten geführten Regierungen hatte Südtirol nie die Garantie, dass seine Autonomie wohlwollend behandelt werde.
Eine internationale Absicherung des Südtirolpakets besteht nicht. Der Briefwechsel Renzi-Faymann wird ohne glaubhafte juristische Grundlage als eine Art völkerrechtliche Absicherung ausgegeben – ein Wunschdenken gegen besseres Wissen.
Südtirol könnte Österreich bei Streitigkeiten mit Italien um eine Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) ersuchen. Dieser kann aufgrund des IGH-Vertrages, der von beiden Staaten als Paketmaßnahme ratifiziert wurde, über einen Streit zur Auslegung des Pariser Vertrages befinden.
Doch der übertrieben als „Magna Charta“ Südtirols bezeichnete Pariser Vertrag vom 5. September 1946 sichert zwar eine Autonomie zu, die aber letztlich nur sehr allgemein formuliert wurde. Daraus lassen sich juristisch zwingend nicht der Inhalt wesentlicher Autonomie- und Durchführungsbestimmungen ableiten. Das wird in der SVP intern unumwunden zugegeben.
Seit Erlass des zweiten Autonomiestatuts sind fünfzig Jahre vergangen. Trotz der Fülle von Auseinandersetzungen mit Rom und Eingriffen in die Autonomie hat die SVP nie das Begehren an Österreich gestellt, eine Streitfrage vom IGH entscheiden zu lassen.
Notenwechsel von 1992 – Keine Sicherheitsgarantien
Aus dem Notenwechsel zur Streitbeendigungserklärung zum Südtirolpaket ergibt sich ebenfalls keine Sicherheit gegen Autonomieeingriffe.
Der Text der Streitbeendigungserklärung war schon zwischen den Außenministern Moro und Waldheim am 30. November 1969 vereinbart worden. Darin heißt es: „… erklärt die österreichische Bundesregierung, dass sie die zwischen Österreich und Italien bestehende Streitigkeit, welche Gegenstand der erwähnten Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen war und den Status des deutschsprachigen Elements der Provinz Bozen – Durchführung des Pariser Vertrages – betrifft, als beendet betrachtet.“
Der Pariser Vertrag selbst bleibt unberührt bestehen. Am 22. April 1992 notifizierte die italienische Regierung die Durchführung des Paketmaßnahmen an Österreich. Zugleich wurde auch das Autonomiestatut wegen des „sachlichen Zusammenhangs“, mit beigelegt. Daraus leitet Österreich ab, dass Italien seinen widerspenstigen Rechtsstandpunkt aufgegeben habe.
Immer wieder hatte Italien behauptet, Südtirol sei im Zusammenhang mit seiner Autonomieregelung eine Angelegenheit Italiens. Trotzdem führte Italien Autonomieverhandlungen – unter dem Druck der UN-Resolutionen von 1960/61 und der Attentatsserie gegen italienische Militäreinrichtungen ab der „Feuernacht“ im Juni 1961. Die Übergabe des Textes des Autonomiestatuts stellte nun eine Abweichung von diesem Strandpunkt dar, auch wenn Italien dies nie offiziell einräumte.
Österreichische Antwort
Wien antwortete mit seiner Verbalnote vom 22. Juni 1992 und stellte darin seine Sicht der Autonomie und der künftigen Rechte Österreichs im Falle von Streitigkeiten dar. Um sich offiziell eine Tür offen zu halten, stellt Österreich in der Note auch fest:
„Die österreichische Regierung geht unter Beibehaltung ihrer Verantwortung als Unterzeichner des Pariser Abkommens davon aus, dass die von der Italienischen Regierung im Interesse der Volksgruppen Südtirols durchgeführten Maßnahmen und somit das Autonomiestatut 1972 mit seinen Durchführungsbestimmungen, ordentlichen Gesetzen und Verwaltungsakten, wie aus dem Anhang zur Note vom 22. April 1992 hervorgeht, nicht einseitig abgeändert werden, sondern, wie der italienische Ministerpräsident (Anm. Andreotti) in seinen Parlamentserklärungen vom 30. Jänner 1992, welche der österreichischen Seite mit der genannten Note vom 22. April übermittelt wurden, festgestellt hat, nur im Rahmen der gemeinsamen Verantwortung und des bereits bisher zwischen der Zentralgewalt und den betroffenen Volksgruppen erreichten politischen Konsenses, welche auch für den Fall fort dauern müssen, dass normative Änderungen erforderlich sein sollten.“
Politische Erwartungshaltung ist keine Garantie
Dieser gedrechselten Sprache ist zu entnehmen: Österreich erwartet sich, dass einschneidende Änderungen nur gemeinsam mit Italien erfolgen. Es ist eine politische Forderung und Erwartungshaltung, die kein juristisches Junktim darstellen.
In der Praxis erfolgen nach staatlichen Eingriffen in die Autonomie, sofern es nicht Urteile des Verfassungsgerichtshofes sind, die eine Regierungsmaßnahme abstützen, stets Verhandlungen Südtirols mit der römischen Regierung und erst im Notfall auch eine Einschaltung Österreichs. Das hat aber Beschränkungen der Autonomie nicht verhindert.
Auf die Einschaltung des IGH verzichtet man aus Furcht vor Niederlagen.
Auf die Mängel des Pariser Vertrages, der für Bruno Kreisky als ein Dokument „österreichischer Schwäche“ und nicht als „Magna Charta“ anzusehen ist, hat der österreichische Historiker Helmut Golowitsch in seinem Werk „Kapitulation in Paris – Ursachen und Hintergründe des Pariser Vertrags 1946“ deutlich hingewiesen.
Die gegenwärtige Regierungskrise mit ihren egoistischen Machtspielen von drei Parteiführern – Conte, Salvini, Berlusconi – schadet Italien selbst am meisten. Europäische Finanzmittel warten immer noch auf Programme zur Durchführung. Auf Monate hin wird es keine italienischen Waffenlieferungen mehr an die Ukraine geben.
Brüssel verliert den für die EU berechenbaren, verlässlichen Draghi als Partner.
Südtirol muss ebenfalls auf die Wartebank, bis sich nach den Wahlen entscheidet, mit welcher Regierung man danach zu rechnen hat.
Doch die Autonomie als Ganzes war nie vor Beschränkungen sicher und hat dies oft genug erfahren. Das muss auch die gegenwärtige Landespolitik hinnehmen.
Nach Meinung Vieler verfolgt sie gegenüber Rom einen anpassenden Kurs. Das wirft Fragen nach den Langzeitfolgen auf. Der Fremdstaat war nie Freund Südtirols.