Hermine Orians Wunsch nach österreichischer Staatsbürgerschaft bleibt unerfüllt

Bild: Hermine Orian

In diesem „SID“ muss ein äußerst bedrückender Vorgang geschildert werden: die inzwischen im 103. Lebensjahr stehende Frau Hermine Orian, die während der Faschistenzeit in ständiger Gefahr als „Katakomben“-Lehrerin tätig war, wünscht sich nichts sehnlicher, als die österr. Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen.

Ein Bericht von Georg Dattenböck

Frau Orian wurde noch als österr. Staatsbürgerin, am 23. April 1919, als erstes von sechs Kindern in Kurtatsch, geboren.

Im Alter von 13 Jahren begann Hermine Orian im Untergrund gegen die Verbrechen des faschistischen Regimes zu kämpfen und unterrichtete, trotz staatlicher Verbote und Terrors, im Geheimen die Kinder des Dorfes in deren Muttersprache.  Hermine Orian und viele mutige Frauen wie sie es war, verdankt Südtirol den Erhalt der Identität, der Sprache und Kultur.

Südtirol gehörte zur Zeit ihrer Geburt noch staatsrechtlich zu Österreich und es saßen damals noch drei Abgeordnete aus Südtirol im österreichischen Parlament: Dr. Eduard Reut-Nicolussi, Dr. Aemilian Schöpfer und Dr. Leopold Molinari.

Dr. Reut-Nicolussi hielt in einer leidenschaftlichen, vom Schmerz über das Diktat bestimmten Debatte im Nationalrat, eine Aufsehen erregende Rede über das harte Schicksal Südtirols und beschwor die von allen Spitzenpolitikern versprochene geistige Landeseinheit mit Südtirol, das sich mit der Teilung des Landes Tirol und der Fremdherrschaft in Südtirol nie abfinden werde.

Die Familie Orian und alle Südtiroler wurden, gegen ihren erklärten Willen, in den faschistischen Staat einverleibt. Frau Orian ist eindeutig als ein Opfer des Faschismus zu sehen. Bei ihr liegen berechtigte Gründe für die Ablehnung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft, wie: schwere Straftaten, schwere Finanzverbrechen, terroristische Aktivitäten oder Versuche, die österreichische Demokratie zu schädigen, selbstverständlich nicht vor.

Im Gegenteil: sie hatte durch ihre mutige, opfervolle Tätigkeit für ihre Heimat in den Katakomben-Schulen, sehr viele damalige Südtiroler Kindern vor dem staatlich geplanten Ethnozid – der geplanten kulturellen Auslöschung der deutschen und ladinischen Volksgruppe – bewahrt.

Im „Neuen Schenna-Magazin“ 2020 war ein Bericht von Sebastian Marseiler über Frau Orian zu lesen, daraus wird hier folgend in Auszügen zitiert:

„Ihr Heimatort Kurtatsch war, wie ganz Südtirol, italienisch besetzt. Aus der Besetzung wurde Annexion und Italianisierung. Diese bestimmte ihr Leben als Kind und junge Frau. Übermächtig sind die Erinnerungen daran für die rüstige Hundertjährige.

‚Hab mit der Mama immer gesungen beim Rebenbinden‘, sie hat Zugochsen führen müssen, hinunter und hinauf von den Mösern (Feuchtwiesen), wo die Türgg (Mais) Äcker waren. Sie hat noch das Glück, drei Jahre deutschen Kindergarten bei strengen Klosterfrauen zu besuchen. Dann aber kam die italienische Volksschule: ‚Anfangs haben wir gar nichts verstanden!‘

Deutsch zu sprechen ist verboten in der Schule. Die Folge: die Kinder lernen weder das Italienische richtig und Deutsch überhaupt nicht. Ein kleiner Ausweg ist die Katakomben-schule, geheimer Deutschunterricht, den Hermine ‚heimlich, mit zehn Jahren besucht‘.

Angst vor den Carabinieri? ‚Die waren zu bequem, groß auf die Suche zu gehen, die haben den ganzen Tag nur zum Fenster hinausgeschaut‘.

Geheimer „Katakombenunterricht“
Geheimer „Katakombenunterricht“

 Hermine lernt so gut und schnell, dass die Lehrerin sie nach drei Jahren fragt, ob sie nicht selbst unterrichten möchte. So kam es, dass Hermine im stolzen Alter von dreizehn Jahren selbst heimliche Lehrerin wurde. Die Mutter hat dann, während Hermine Unterricht hielt, draußen auf der Straße am Waschtrog die Wäsche gewaschen.

‚Aber die Carabinieri, alle Süditaliener, sind nie gekommen, die waren schlecht zu Fuß‘ – und Frau Hermine lacht. Das Gesicht der Hundertjährigen strahlt, während sie vergilbte Bilder zeigt vom Volkstanz auf der Wiese oben auf dem Fennberg: ‚Ist wunderschön gewesen damals!‘

Dann aber zogen sich dunkle Wolken über Kurtatsch und ganz Südtirol zusammen: im unseligen Abkommen zwischen Hitler und Mussolini mussten die Südtiroler sich entscheiden, entweder die Heimat zu verlassen oder zu bleiben und vollkommen italianisiert zu werden. Ein Riss ging durch die Südtiroler bis hinein in die Familien. Für die schulpflichtigen Kinder der Deutsch-Optanten gab es jetzt Unterricht in deutscher Muttersprache.

Hermine wächst nun ganz offiziell in die Rolle als Lehrerin hinein. Und sie tut noch mehr: sie gibt den jungen Burschen, die zur Wehrmacht einrücken müssen, elementaren Rechtschreib-unterricht, damit sie von der Front wenigstens einigermaßen verständlich nach Hause schreiben können. (…)

Aus so einem Kontakt entstand die ‚Briefliebe‘ zu ihrem Alfons, ihrem späteren Mann, der erst anderthalb Jahre nach Kriegsende heimkommt. Überall in der Verwaltung fehlen Fachkräfte, Alfons besucht mit Erfolg einen Schnellkursus für den Posten als Gemeindesekretär. Mehrere Stellen stehen zur Auswahl, Alfons entscheidet sich für Schenna. Hermine folgt ihm.

‚Die Wohnverhältnisse waren anfangs katastrophal!‘, erinnert sich Hermine, Schenna war ein Bauerndorf, ‚und die Leute schon a pissl, ja, komisch halt‘. Heimweh gehabt nach Kurtatsch? ‚A pissl Heimweh hat man immer!‘

Ort und Schloss Schenna (Historische Postkarte)
Ort und Schloss Schenna (Historische Postkarte)

Unter großen Anstrengungen bauen sie sich ihr Häuschen an der Hauptstraße, vermieten ein paar Betten. Wie einen Schatz hütet Hermine die Gästebücher mit den begeisterten Eintragungen, Zeichnungen sind darunter und Unterschriften honoriger Gäste.

Hermine gibt den Lehrberuf auf, um sich der Erziehung der Kinder und später der Betreuung der Gäste zu widmen. Ist ihr sicher nicht leichtgefallen, der Abschied von der Schule: ‚Kinder hab ich immer gern gehabt‘. Ein großer Schicksalsschlag ist der frühe Tod eines ihrer Söhne, der an einer verschleppten Verletzung durch das Fallschirmspringen stirbt. Nicht minder schwer trifft sie der Herztod ihres geliebten Alfons. „Eigentlich habe ich genug gelebt und ich habe nur einen Wunsch: Schnell zu sterben!“ Aber wenn sie wieder aufwacht am Morgen, „danke ich Gott für den Tag. Und bin glücklich, dass ich bei mir daheim bin!‘“

Der vergebliche Antrag der Hermine Orian

Zu Beginn des Jahres 2011 wurden mehr als 21.000 Unterschriften durch eine „Bürgerinitiative zur Erlangung der doppelten Staatsbürgerschaft“ im österreichischen Parlament eingereicht.

Ein Teil der Sammelmappen mit den Unterschriften
Ein Teil der Sammelmappen mit den Unterschriften

Eine Antragstellerin war die Katakomben-Lehrerin Hermine Orian aus Schenna, damals bereits 92 Jahre alt. Sie möchte ihre österr. Staatsbürgerschaft wieder zurück.

Ihr Ansuchen ging auch an den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler Österreichs.

Nachdem die Gutachten einzelner österreichischer Ministerien bestätigten, dass die doppelte Staatsbürgerschaft ohne weiteres möglich sei und auch ein Rechtsgutachten von Dr. Günther Obwexer von der Universität Innsbruck zum selben Schluss kam, war die Umsetzung für jene Südtiroler, die diese Staatsbürgerschaft wollen, nur mehr eine Frage des politischen Anstandes. Der fehlte bisher allen Verantwortlichen in Österreich.

Frau Orian steht für alle Südtiroler und deren Nachkommen, die gegen ihren Willen die österr. Staatsbürgerschaft verloren haben und diese nun zurück möchten.

Sehr späte Gerechtigkeit gegenüber NS-Opfern – nicht jedoch gegenüber Südtirolern

Seit 2020 haben direkte Nachkommen von NS-Opfern, gleich welcher ethnischen Herkunft, ein gesetzliche Recht auf die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.

Dieses Gesetz berücksichtigt auch jene, die in Italien, Ungarn, Serbien, Kroatien und Slowenien geboren wurden. Nach dem neuen Gesetz sind auch die Nachkommen von weiblichen Holocaust-Überlebenden berechtigt, die Staatsbürgerschaft zu erlangen.

Vielen NS-Opfern zwischen 1933 und 1945 wurde bedauerlicher Weise zunächst nach dem Krieg die Staatsbürgerschaft verweigert oder sie wurden gezwungen, ihre österreichische Staatsbürgerschaft, nach der Einwanderung in ein anderes Land, aufzugeben.

Ihren Nachkommen wurde in der Frage der Staatsbürgerschaft nun sehr späte Gerechtigkeit zuteil, die den Südtirolern jedoch weiterhin verweigert wird.