Ein Gewerkschafter und Arbeiterkammerfunktionär als bedeutender Zeithistoriker
Es ist nicht alltäglich, dass ein ehemaliger Gewerkschafter und Arbeiterkammerfunktionär als Zeithistoriker bedeutende wissenschaftliche Wegmarkierungen setzt. Der aus einer Bozner Arbeiterfamilie stammende Günther Rauch tut dies mit seinen Forschungsergebnissen.
Bereits 2018 war seine Dokumentation „Italiens vergessenes Konzentrationslager Campo d’Isarco“ erschienen, 1919 gefolgt von der Dokumentation „KZ Campo d’Isarco: Tagebuch eines Wachsoldaten“. (Herausgeber „Südtiroler Heimatbund“ und „Verein Südtiroler Geschichte“. 2020 erschien sein Werk „Lautlose Opfer“. In diesen Dokumentationen schilderte Rauch, wie gnadenlos Faschismus und Nationalsozialismus mit ihren Opfern umgegangen waren.
Ebenfalls 2020 veröffentlichte er zusammen mit Josef Perkmann das Werk „Vergessene Geschichte – Die Zerschlagung der Südtiroler Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg“.
Nun ist aus der Feder von Günther Rauch ein herausragendes Heimatbuch über Bozen erschienen, welches auf über 600 Seiten tiefe Einblicke in die Kulturgeschichte und in die politische Geschichte Südtirols vermittelt.
Günther Rauch:
Bozner Obstplatz
Historisches und Alltägliches
Verlagsanstalt Athesia Bozen 2021
ISBN 978-88-8266-877-8
www.athesia.com
buchverlag@athesia.it
Dieses sichtlich von Heimatliebe getragene Werk führt uns zunächst zurück in das mittelalterliche Bozen und zeigt uns Schätze an Dokumenten und Bebilderung einschließlich alter Fresken aus historischen Gebäuden.
Günther Rauch führt uns dann durch die Jahrhunderte, indem er die Entwicklung der Kultur, des wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Lebens vor uns ausbreitet.
Die Dokumente und Bilder, die er uns zeigt, stammen nicht nur aus dem alten Bozen, sondern teilweise auch aus anderen Orten Tirols. Dieses Werk ist somit über den Rahmen Bozens hinaus ein Tiroler Geschichtsbuch.
Wir sehen die Handelsmessen und Bauernmärkte, erleben reiches Brauchtum und lernen die Badekultur und Gesundheitspflege ebenso wie die Buschenschenken und Wirtshäuser kennen.
Wir begegnen in der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Stadt Bozen nicht nur begüterten Adeligen und umtriebigen Kaufleuten aus dem deutschen Norden und dem italienischen Süden, sondern auch Kulturschaffenden wie Mozart, Goethe und Herder. Im Zuge des politischen Geschehens erfahren wir, dass Andreas Hofer zeitweise sein Quartier im Gasthaus „Zur Sonne“ auf dem Obstplatz aufschlug.
Rauch schildert auch die jüngere Zeitgeschichte anhand bislang wenig bekannter Vorkommnisse zu Ende des Ersten Weltkrieges und in der Zeit des beginnenden Faschismus.
Es kam zu Gewalttaten, Aufrufen zum Boykott deutscher Geschäfte und zu allerlei Schikanen gegen deutsche Gewerbetreibende.
Sehr ergreifend schildert Rauch den faschistischen Überfall auf einen Trachtenumzug anlässlich der Bozner Messe am 21. April 1921 und die Ermordung des Südtiroler Lehrers Franz Innerhofer, der einen kleinen Buben vor der Gewalt der Faschisten retten wollte. Anhand sorgsam ausgewerteter Quellen gibt uns Rauch hier eine ebenso spannende wie bedrückende Schilderung des Geschehens, wie sie in einer derart gründlichen Form bislang noch nicht vorgelegen hat.
Der Autor Rauch dokumentiert auch die folgenden Jahre der faschistischen Gewaltherrschaft mit ihrer staatlich geförderten Entnationalisierung der Südtiroler und lässt uns den unter großen Gefahren abgehaltenen deutschen Geheimunterricht mitten in Bozen erleben.
Dieser geheime Unterricht fand in dem Haus der Familie Kinsele statt. Dort wurden an die sechzig bis siebzig Kinder in deutscher Muttersprache unterrichtet. Günther Rauch berichtet:
„Fanny Kinsele hatte mehrere Wohnzimmer für den Unterricht eigens adaptiert. Mit wenigen Mitteln und unter schwierigsten Bedingungen brachten die angehenden Hilfslehrerinnen jeden Donnerstag und Sonntag den in kleinen Gruppen aufgeteilten Kindern durch gezielte Sprach- und Leseübungen die Muttersprache bei. Der gesamte Unterricht wurde von Fanny Kinsele geleitet.“
Am Ende dieses Geschichtswerkes führt uns Rauch in die Gegenwart des heutigen Bozen.
Er schließt mit den Worten: „Was anderswo kopiert wird, ist in Bozen in einer mehr als 700-jährigen Geschichte mit Freud und Leid gewachsen.“
Dieses Buch lässt uns die Heimatgeschichte Bozens und ganz Südtirols in einer wunderschönen Weise erleben. Dem Autor sei herzlicher Dank gesagt!