Ehrendes Gedenken an Dr. Wilhelm Steidl
Abschied von einem großen Patrioten und Verteidiger der Menschenrechte
Unter diesem Titel übergaben Roland Lang, Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB) und Univ.-Prof. Dr. Erhard Hartung, Sprecher der „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer“, am 27. September 2018 der Öffentlichkeit einen Nachruf auf den Innsbrucker Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Steidl, in welchem es hieß:
„Mit Trauer erfüllt uns die Nachricht des Ablebens unseren Freundes Dr. Wilhelm Steidl.
Der 1928 in Innsbruck geborene Rechtsanwalt wirkte 18 Jahre lang als Stadtrat und Vertreter des Tiroler Arbeitsbundes (TAB) in Innsbruck für das öffentliche Wohl.
Als Rechtsanwalt verteidigte er Südtiroler Freiheitskämpfer in Prozessen in Österreich. Er hatte maßgebenden Anteil daran, dass diese von österreichischen Geschworenen freigesprochen wurden, weil er argumentierte, dass die Angeklagten in strafausschließendem übergesetzlichen Notstand gehandelt hatten.
In einem Beitrag zu einem zeitgeschichtlichen Werk schrieb Dr. Steidl: „Tirol darf stolz auf diese Männer und auch auf ihre Frauen sein.“
In vielen Fällen verzichtete Dr. Steidl auf jegliches Honorar. Er nahm an öffentlichen Demonstrationen gegen die Verfolgung von Südtiroler Freiheitskämpfern wie Georg Klotz und die „Pusterer Buam“ durch die österreichische Bundesregierung teil. Zusammen mit dem Nordtiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer erwirkte er deren Freilassung.
Gemeinsam mit dem österreichischen Außenminister und Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky verfolgte Dr. Steidl das Anliegen einer Generalamnestie für Südtiroler Freiheitskämpfer. Diese scheiterte jedoch an der Halsstarrigkeit und Unerbittlichkeit der Regierungen in Rom.
Es ist Dr. Steidl zu verdanken, dass in Innsbruck Straßen nach dem Südtiroler Freiheitskämpfer Josef Kerschbaumer sowie nach Dr. Franz Mair benannt wurden, welcher als Widerstandskämpfer 1945 verhindern geholfen hatte, dass fanatische Nationalsozialisten durch eine sinnlose Verteidigung Innsbrucks die Vernichtung der Stadt durch alliierte Bombenangriffe provozierten. Dabei hatte Dr. Mair sein Leben geopfert.
Im Innsbrucker Gemeinderat hatte Dr. Steidl dazu erklärt, dass man „Menschen, die ihr Leben für ihre Gesinnung geopfert haben, gleich in welchem Lager sie standen“, für würdig befinden müsse, „eine Straße nach ihnen zu benennen, damit die Jugend wenigstens weiß, dass es in der Bevölkerung solche Leute gegeben hat.“
In unseren Herzen lebt „unser Willi“ als unvergesslicher Freund und Mitstreiter weiter.“
In der „Tiroler Tageszeitung“ wurde diese Traueranzeige veröffentlicht:
Einige Stationen im Leben von Dr. Wilhelm Steidl
Er war gerichtlich beeideter Gerichts-Dolmetscher und Honorarkonsul der Französischen Republik sowie Ritter der Französischen Ehrenlegion. Er eröffnete 1963 eine eigene Rechtsanwaltskanzlei.
30. August 1963
Innsbruck: Protestdemonstration gegen Freispruch der Foltercarabinieri
Unter dem Druck der internationalen öffentlichen Meinung hatte Italien 1963 widerstrebend einen Prozess nur gegen einige wenige Carabinieri zugelassen, welchen schreckliche Folterungen von Südtiroler Häftlingen zur Last gelegt wurden.
Am 29. August 1963 endete der Prozess gegen die Folterkarabinieri in Trient nach 13-stündiger Beratung völlig überraschend mit acht Freisprüchen und zwei Verfahrenseinstellungen, da die Tat zwischenzeitlich unter Amnestie gefallen war. Das Urteil wurde von den anwesenden Italienern mit Beifall und Jubelrufen wie “Viva l’Arma, viva l’Italia”( „Es lebe die Waffengattung, es lebe Italien!“) aufgenommen.
Protestkundgebung unter der Leitung von Dr. Wilhelm Steidl vor dem italienischen Konsulat
Am Abend des 30. August 1963 versammelte sich nach einer Flugzettelaktion vor dem italienischen Generalkonsulat in Innsbruck eine große Menschenmenge von etwa 2.000 Personen, die mit Sprechchören, Transparenten, aber auch mit einigen Steinwürfen gegen das Konsulat, gegen das Urteil von Trient protestierte.
Auf den Transparenten las man Aufschriften wie: „Urteil von Trient – Schande für Europa“, „Carabinieri = Gestapo 1963“ und „Freiheit für Südtirol“.
Nach einem Zug durch die Stadt, wurde eine Delegation der Demonstranten unter Führung von Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Steidl von Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP), seinem Stellvertreter Dr. Gamper (ÖVP), dem Landesrat Zechtl (SPÖ) und dem Abgeordneten Dr. Mader (FPÖ) empfangen.
Dr. Steidl richtete an den Landeshauptmann die Bitte, der Stimme des Tiroler Volkes Gehör zu verschaffen.
Landeshauptmann Wallnöfer erklärte, dass die Tiroler Landesregierung genauso erschüttert sei, wie das ganze Volk im Norden und Süden. Der Landeshauptmann betonte sein Verständnis für die Reaktion der Demonstranten in der Öffentlichkeit.
Protesterklärung
Dann begaben sich Dr. Steidl und die Abordnung der Demonstranten auf den Balkon des Neuen Landhauses, wo ein Sprecher der Landesregierung folgende Erklärung verlas:
„Tief bestürzt erfuhren wir vom Freispruch im Carabinieriprozeß in Trient. Trotz des erdrückenden Beweismaterials, aus dem einwandfrei die Misshandlungen von Südtiroler Häftlingen und die Erpressung von Geständnissen hervorging, unterblieb jeglicher Schuldspruch. Ein italienisches Gericht hat somit die angewandten Foltermethoden durch sein Urteil gedeckt. Versuchte der italienische Innenminister schon bei Bekanntwerden der Gewalttaten, diese mit der Erklärung zu beschönigen, daß die Polizei in der ganzen Welt Schläge austeilt, so bedeutet der erfolgte Freispruch eine Ermunterung für die italienischen Ordnungsorgane, mit ihren Gewaltmethoden fortzufahren… Im faschistischen Italien wäre dieser Prozess unterblieben, im demokratischen Italien wurde er zum Hohn auf jedes Recht. Kein Tiroler wird das, was in Trient geschah, jemals vergessen. Auch in Südtirol wird einmal das Recht wieder siegen.“
Mai bis Oktober 1965 sowie Mai 1967
Verteidigung in Südtirol-Prozessen in Graz und Linz
In einem Prozess vor Schöffen und in einem Prozess vor Geschworenen in Graz sowie in einem Geschworenen-Prozess in Linz verteidigte Dr. Wilhelm Steidl zusammen mit anderen herausragenden Strafverteidigern die Angeklagten und erwirkte deren Freispruch. Die Laienrichter folgten der These der Verteidigung, welche argumentiert hatte:
Wenn das österreichische Strafgesetz gemäß § 2 lit. g ausdrücklich das Leben, die Freiheit und das Vermögen von Einzelnen als notwehrfähige Güter erachtet, so gelte dies umso mehr, wenn das Leben, die Freiheit und das Vermögen einer ganzen Volksgruppe, die ja aus Einzelnen besteht, gefährdet sei.
Am 13. Oktober 1965 hatte Dr. Steidl in seinem Plädoyer zu den Geschworenen gesprochen:
„Ich kann Ihnen sagen, daß wir Verteidiger nicht immer das Glück haben, mit unserem ganzen Herzen bei der Sache zu sein und Sie können es wirklich glauben, in diesem Fall ist uns wirklich ernst. Ich kann Ihnen ehrenwörtlich versichern, und ich glaube, es auch im Namen meiner Kollegen tun zu können, daß, was wir hier sagen, daß wir an das glauben.
Meine Damen und Herren, wir leben in einer sehr satten Zeit In einer Zeit, die es nicht verträgt, daß man mit Idealen konfrontiert wird. Sie aber haben dazu nunmehr die Verpflichtung. Ich habe seinerzeit in dem letzten Prozess gesagt: Es handelt sich hier um eine Elite der österreichischen Jugend. Und ich sage es hier noch einmal, es steht hier eine Elite der österreichischen Jugend vor Gericht, und zwar deshalb, weil jeder Mensch einer Elite angehört, gleich welcher Partei er angehört, der unentgeltlich und kostenlos sich für ein Ideal einsetzt. Das, glaube ich, müssen Sie den Angeklagten zubilligen.
Der Staatsanwalt hat gesagt, wir leben nicht mehr im Jahre 1809, wir leben im 20. Jahrhundert. Meine Damen und Herren, für uns Tiroler und auch für Sie Steirer sind die Freiheitsbegriffe des Jahres 1809 dieselben, wie sie heute sind. Und diese Freiheitsbegriffe sind endgültige Werte, die uns kein Schreiberling und niemand sonst zerstören kann, solange wir noch den Sinn für unsere Volkszugehörigkeit haben.
Und wenn ich fortfahren darf, hier sagt unser Landeshauptmann noch: ‚45 Jahre nach der Abtrennung Südtirols von Osterreich und fast 20 Jahre nach dem Abschluß des Pariser Vertrages sind also die Lebensrechte Südtirols noch immer nicht gesichert. Was liegt doch an Leid und Enttäuschungen hinter diesem schwergeprüften Volk! Das soll sich die Welt vor Augen halten, dann wird sie begreifen, daß wir mit unbeirrbarer Festigkeit für das Recht dieses Volkes eintreten müssen.‘
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren.
Sie werden sich jetzt zurückziehen. Sie werden Ihr Urteil fällen in einem der größten Prozesse Österreichs, und wenn Sie im Zimmer sind, werden Sie allein sein mit sich selbst. Sie werden Ihr Herz in Ihre Hände nehmen und werden Ihr Urteil fällen, wie Sie es als österreichische Frauen, Männer und Mütter fällen werden. Sie werden nach Ihrem Gewissen urteilen, und dann werden Sie auch ruhig schlafen.
Ich komme noch zum Schluss. Sie werden hinschreiben zu jeder Frage: Nein, weil Hochverrat gegen Italien vorlag und weil die Angeklagten in strafausschließendem übergesetzlichem Notstand gehandelt haben.
Haben Sie den Mut! Nehmen Sie ihr Herz in die Hände, behaupten Sie sich im Beratungszimmer! Behaupten Sie sich als österreichische Mütter, Männer und Frauen, und denken Sie bei der Urteilsschöpfung an jene Männer, Tiroler, die jetzt schon jahrelang in den Kerkern Italiens sitzen, die ihr Leben gegeben haben, denken Sie an Kerschbaumer, denken Sie an Amplatz, denken Sie an alle die, die ihre Familie und ihre Existenz niedriger gewertet haben als ein hohes Ziel. Denken Sie an den Spruch, der am Grabe von Luis Amplatz steht: ‚Freund, der du die Heimat noch schaust, grüß‘ mir die Heimat, die ich mehr als mein Leben geliebt!“
Fällen Sie als aufrechte Steirer und Grazer ein mutiges Urteil für Tirol!“
Die Geschworenen sprachen alle Angeklagten frei. Die Berufsrichter hoben das Urteil wegen „offensichtlichen Irrtums der Geschworenen“ auf und der Prozess wurde im Mai 1967 in Linz wiederholt. Wiederum folgten die Geschworenen der Argumentation von Dr. Steidl und Kollegen. Sie sprachen alle Angeklagten – diesmal endgültig – frei.
5. März 1966
Demonstration für Klotz – Politiker geben nach
Der nach Österreich geflüchtete Südtiroler Freiheitskämpfer Georg Klotz war von der gegenüber Rom liebedienerisch agierenden Bundesregierung unter Bundeskanzler Dr. Klaus widerrechtlich in Schubhaft genommen worden. Gemäß den Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens von 1957 war eine Auslieferung nämlich in politischen Fällen ausgeschlossen.
Das hatte aber die damalige österreichische Bundesregierung bei der Verhängung ihrer Maßnahme zunächst nicht gestört gehabt.
Nun demonstrierten hunderte von Menschen in Linz und Innsbruck.
Wiederum setzte sich Dr. Steidl zusammen mit dem Landeshauptmann Eduard Wallnöfer für die Freilassung ein. Der Druck aus Tirol hatte Erfolg. Die Bundesregierung gab nach und Georg Klotz wurde freigelassen. Damit war die drohende Gefahr einer rechtswidrigen Auslieferung an Italien abgewendet.
März 1968
„Pusterer Buam“ in Wien freigesprochen
Am 6. März 1968 standen die beiden Südtiroler Freiheitskämpfer Heinrich Oberlechner und Josef Forer von der Gruppe der „Pusterer Buam“ vor einem Wiener Geschworenengericht. Die jungen Burschen schilderten in schlichten Worten die Verhältnisse in ihrer Heimat.
Heinrich Oberlechner sagte:
„Unser Ziel ist das Selbstbestimmungsrecht für Südtirol. Die Italiener werden sonst ihr teuflisches Werk, Südtirol zu unterwandern und zu italianisieren, nie aufgeben.“
Die Worte der jungen Südtiroler waren den Wiener Geschworenen unter die Haut gegangen. Einigen von ihnen liefen Tränen über die Wangen hinab.
In seinem Schlusswort vor Gericht hatte Forer betont, dass er – obschon er mehr als ein Jahr unschuldig in Untersuchungshaft hatte verbringen müssen – am Tage der Selbstbestimmung Südtirols für einen Anschluss Südtirols an Österreich stimmen werde.
Am 12. März 1968 folgten die Geschworenen der Argumentation der Verteidiger Dr. Wilhelm Steidl, Dr. Robert Amhof, Dr. Eberhard Molling und Dr. Michael Stern, wonach in Südtirol ein strafausschließender Notstand geherrscht habe. Sie fällten einen Freispruch.
Weil die österreichische Regierung unter Bundeskanzler Dr. Klaus jedoch Italien gefällig sein wollte, wurden die Freigesprochenen sofort in rechtswidrige „Auslieferungshaft“ genommen und wieder in ihre Zellen abgeführt.
In Feldkirch kam es zu einer Demonstration für die inhaftierten Südtiroler. In Innsbruck wurde eine solche durch das Innenministerium verboten.
Wiederum setzten sich Dr. Wilhelm Steidl und Landeshauptmann Eduard Wallnöfer gegenüber Wien für die „Pusterer Buam“ ein. Sie erreichten ein Ablehnung des italienischen Auslieferungsbegehrens. Die beiden „Pusterer“ wurden jedoch erst nach 2 Jahren ungerechtfertigter Haft am 6. Juli 1969 gegen den Willen Wiens auf Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch auf freien Fuß gesetzt.
Frühjahr 1973
Dr. Steidl setzt sich zusammen mit Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky für eine Generalamnestie für die Südtiroler Freiheitskämpfer ein
Zu Beginn des Jahres 1973 hielten sich einige österreichische Südtirol-Freiheitskämpfer wie Dr. Erhard Hartung in der Bundesrepublik Deutschland auf, weil in Österreich immer noch Haftbefehle gegen sie liefen.
Nach Österreich geflüchtete Südtiroler konnten nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren, weil sie dort umgehend inhaftiert worden wären.
Wiederum wurde Dr. Wilhelm Steidl aktiv. In einem Brief an die Mutter von Dr. Hartung, Frau Dr. Gerda Foltin, berichtete er darüber.
Leider waren die Bemühungen von Dr. Steidl und Dr. Kreisky nur in Österreich erfolgreich. In Italien scheiterten sie an der starren und unerbittlichen Haltung der italienischen Regierung.
Dokumentation
Wie Dr. Wilhelm Steidl über die Südtiroler Freiheitskämpfer dachte
In der von Dr. Otto Scrinzi herausgegebenen Dokumentation „Chronik Südtirol 1959–1969 Von der Kolonie Alto Adige zur Autonomen Provinz Bozen“ (Stocker Verlag Graz 1996) veröffentlichte Dr. Wilhelm Steidl nachstehenden Beitrag:
„Ihnen zur Ehre, uns zur Besinnung – ein Gedenken
Als Verteidiger in den österreichischen Südtirolprozessen waren meine Kollegen und ich als Beobachtende, nicht unmittelbar Betroffene, oft mit der tragischen Seite des Geschehens konfrontiert: Mit Flucht, Not, Verbannung, Haft, Heimweh – und dem Tod.
Mein verehrter Anwaltskollege und väterlicher Freund Michael Stern bekam mehr als einmal unerwarteten Besuch in seiner Wiener Kanzlei. Da stand dann ein Flüchtling vor der Tür, ein heimatlos Gewordener, einer, der Not litt. Der Rechtsanwalt Michael Stern kaufte ihm Schuhe, besorgte ihm Kleidung, gab ihm zu essen und sorgte für ein Dach über seinem Kopf. Auch das konnte damals zur Tätigkeit eines Verteidigers von Südtirolaktivisten gehören. Wir Anwälte lernten damals viel Not, aber auch viel Seelengröße kennen. Teils aus persönlichem Erleben, teils aus den Schilderungen, die wir von unseren Schutzbefohlenen über ihre Mitstreiter und Freunde hörten.
Ich will hier mit ein paar Zeilen kurz einiger Männer gedenken, die mit ihrer Geisteshaltung und Seelengröße stellvertretend für viele ungenannt Bleibende stehen.
Kurt Welser war ohne Zweifel eine der Lichtgestalten unter den Südtirolkämpfern. Er war einer der Angeklagten in den Grazer und Linzer Südtirolprozessen. Seine ruhige, aber entschlossene Art und die Lauterkeit seiner Verantwortung vor Gericht machten tiefen Eindruck auf die Geschworenen.
Kurt Welser war ein Kind der Berge. Es wird wenige Gipfel in Tirol geben, von denen aus er nicht in das Land geblickt hat, das ihm Heimat war und das er geliebt hat. Als er am 15. August 1965 am Zinalrothorn in der Schweiz 30 Meter tief in das Seil fiel, an einen Felsen prallte und dann in den Armen seines Freundes Heinrich Klier verschied, war es für viele seiner Freunde ein schrecklicher Verlust. Als wir ihn auf dem Wiltener Friedhof begruben, stand das Land Tirol trauernd an seinem Grab. Die Witwe von Luis Amplatz und der älteste Sohn von Sepp Kerschbaumer waren gekommen. Die politischen Häftlinge in Trient hatten einen Kranz geschickt, auf dessen Schleife die Worte standen: ‚Der Herrgott lohne Dir Deinen Einsatz für Tirol‘. Auf der Schleife des Kranzes, den die Witwe Amplatz mitgebracht hatte, standen aber die Worte: ‚Grüß mir meinen Luis!‘
Das Geschehen jener Jahre war durch Persönlichkeiten geprägt, die nicht vergessen werden sollten. Sepp Kerschbaumer, der Kaufmann aus Frangart, ist sicherlich eine der bekanntesten.
Vor den Schranken des Gerichtes in Mailand wuchs dieser Mann über sich hinaus, als er sein Volk, seine Landsleute, seine Heimat in einer Weise verteidigte, die selbst seinen Gegnern höchsten Respekt abnötigte und sogar die heftigsten nationalistischen Schleier beschämt verstummen ließ. Die großartige geistige Leistung, die dieser Mann erbrachte, hat dazu beigetragen, daß die italienischen Medien umzudenken begannen und die italienische Öffentlichkeit die Anliegen der Südtiroler mit anderen Augen zu sehen begann. Als Sepp Kerschbaumer begraben wurde, folgten seinem Sarg mehr als 20.000 Menschen.
Neben den großen und bekanntesten Namen jener Jahre zeigt uns ein Blick auf die Lebensgeschichten einiger weniger bekannter Protagonisten, aus welchem Holz diese Tiroler geschnitzt und wie ihre Charaktere beschaffen waren.
Franz Muther aus Laas im Vintschgau kehrte 1945 aus dem Krieg heim und stellte seine ganze Kraft für den Wiederaufbau seiner Heimat zur Verfügung: Bei der Gründung der Ortsgruppe der Südtiroler Volkspartei, bei der Neugründung der Feuerwehr und der Schützen, bei dem Südtiroler Alpenverein und einer Reihe von sozialen Einrichtungen.
Franz Muther erlebte nach seiner Verhaftung im Jahre 1961 Schreckliches und kehrte erst 1967 nach 6 Jahren Haft in den Gefängnissen von Bozen, Trient und Reggio Calabria mit zerbrochener Gesundheit heim. Im Gefängnis war er der gewesen, der seine Kameraden getröstet und aufgerichtet hatte. Wieder in Freiheit, kümmerte er sich um die Familien jener, denen es noch schlechter ging als ihm. Im Jahre 1986 starb er viel zu früh.
Der Kaufmann Martin Koch in Bozen war einer der bedeutendsten Alpinisten Südtirols und hatte sich um die Errichtung des Bergrettungswesens verdient gemacht. Auch hier fällt auf, daß dieser Mann für das Gemeinwohl tätig gewesen war.
Nach Folter und Haft wurde auch er im Jahre 1975 viel zu früh in die Ewigkeit abberufen. Der Chefredakteur der „Dolomiten“, sein Bergkamerad Josef Rampold, hielt ihm die Grabrede. Er sagte: ‚Denken wir auf jedem Gipfel daran, denken wir immer auf jeder hohen Warte und in jedem stillen Tal, denken wir an unsern Marti, der sein ein und alles gegeben hat, der dafür gelebt hat, daß wir in diesem Lande leben können und leben dürfen und daß dieses Land unser Land geblieben ist.‘
Abschließend will ich – auch stellvertretend für viele andere – des Frangarters Otto Petermair gedenken. Nach jahrelanger Haft kam Petermair wieder in seine Heimat zurück und stellte seine ihm verbliebene Kraft in den Dienst seiner Mitmenschen.
Am 26. April 1975 stand der Feuerwehrkommandant Otto Petermair auf dem Abhang von Matschatsch im Einsatz gegen einen lodernden Waldbrand, der menschliche Siedlungen zu bedrohen begann. Petermair wurde von den Flammen eingeschlossen und stürzte zu seinem Unglück noch in einen flammenumloderten Felsenspalt. Die Kameraden hörten ihn rufen. Er rief aber nicht: ‚Helft mir!‘, sondern er rief: ‚Rettet euch!‘ Das war Otto Petermair, und so wie er waren viele.
Das Gedenken an diese Menschen ist auch im Rückblick von Wehmut überschattet, auch wenn sie ein stolzes Werk der Freiheit vollbracht haben. Uns geziemt ehrendes Gedenken, auf daß sie in der Geschichte Tirols nicht vergessen werden.
Wenn wir auch mit Trauer der Toten gedenken, so dürfen wir uns doch darüber freuen, daß noch viele prächtige Menschen, die damals Schweres erlebt haben, unter uns weilen und ihre Kraft mit frischem Mut wiederum in den Dienst ihrer Mitmenschen und ihres Landes gestellt haben.
Stellvertretend für sie alle will ich Schicksal und Leistung eines Mannes aufzeigen.
Der 27jährige Maler und Anstreicher Josef Fontana stand im Jahre 1964 vor seinen Mailänder Richtern, die ihn mit lebenslanger Haftstrafe bedrohten. Fontana hatte einen Sprengstoffanschlag auf das zu einem Museum und zu einer faschistischen Wallfahrtsstätte umgewandelte ehemalige Wohnhaus des faschistischen Senators Ettore Tolomei verübt.
Die Gerichtsverhandlung bot Fontana nun die Gelegenheit, dem Gericht und der Weltpresse zu erzählen, wer dieser Ettore Tolomei, der Erfinder der italienischen Ortsnamen Südtirols und der faschistischen Unterdrückungsgesetze, eigentlich gewesen war. Die Einvernahme des einfachen Handwerkers aus Neumarkt wurde zu einer beeindruckenden Anklage gegen eine staatliche Politik, welche die Entnationalisierungspolitik des Faschismus fortgeführt hatte. Josef Fontana erkrankte in Haft an Tbc, überwand die Krankheit mit eisernem Willen und legte im Gefängnis die Externistenmatura ab. Nach mehrjähriger Haft ging er nach Innsbruck an die Universität, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie und promovierte zum Doktor der Philosophie. Seit 1977 ist er am Südtiroler Kulturinstitut tätig und hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über die politische Geschichte und Kulturgeschichte Tirols verfasst. Seine herausragende Leistung ist die Schriftleitung des vierbändigen Werkes ‚Die Geschichte des Landes Tirol‘, dessen dritten Band, ‚Die Zeit von 1848 bis 1918‘, er selbst verfasst hat. Auch als Wissenschafter bekennt sich Dr. Josef Fontana zu seiner Herkunft, zu seinen geistigen Wurzeln, zu seinem Land und zu dessen Leuten.
So wie er wirken zahlreiche andere ehemalige Häftlinge für das Gemeinwohl, jeder an seinem Platz und nach seinem besten Vermögen. Tirol darf stolz auf diese Männer und auch auf ihre Frauen sein, die in schwerer Zeit treu zu ihnen gehalten haben.“
Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen.
In das Gedenken an diese aufrechten Menschen soll auch die dankbare Erinnerung an den großen Patrioten und Verteidiger der Menschenrechte, Dr. Wilhelm Steidl, eingeschlossen sein!