Die Nibelungenhandschrift I und die mittelalterliche Adelskultur im Vinschgau
Blatt Nr.- 17r der Nibelungenlied-Handschrift I – Die Handschrift war 1797 im Besitz des Karl Graf Mohr. Daß er sie auch gelesen hat, beweisen Einträge, die er ohne Scheu vor dem Wert und der Einzigartigkeit der alten Handschrift dort eigenhändig gemacht hat.
Vorwort des Herausgebers Georg Dattenböck:
Daß wir die hervorstechende Arbeit von Dr. Georg Mühlberger hier abdrucken dürfen, verdanken wir Herrn Hubert Giesriegl, Herausgeber des vierteljährlichen Periodikums „Südtirol in Wort und Bild“ (www.deleatur.com ), wo dieser Beitrag in der Ausgabe Nr. 4/2003 erstmals erschienen ist.
In drei Ausgaben des „Südtirol Informationsdienstes“ konnten wir bereits auf die überragende Bedeutung Südtirols für die Entwicklung der deutschen Sprache und Kultur hinweisen, wo auch das heutige Thema berührt wurde:
- „Die Personennamen Tirols in Beziehung auf deutsche Sage und Literaturgeschichte“ (13.3.2018);
- „Dokumentation: Tirol als Kernland deutscher Kultur“ (8.4.2017) und
- „Kulturhistorische Notizen“ (1.8.2016).
Einer der bekanntesten Südtiroler Kulturhistoriker, Dr. Egon Kühebacher, schrieb in „Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters“ [Vorwort, S. 5, Athesia-Verlag 1979]:
„Tirol gehört zu jenen Gebieten des deutschen Sprachraumes, wo sich die Heldendichtung länger als anderswo der Gunst der literarisch Interessierten erfreute“.
„Die Nibelungenhandschrift I“
von Dr. Georg Mühlberger
Es war vor genau 170 Jahren, im Jahre 1833, als der Benediktinerpater Beda Weber, Professor an der Schule in Meran, wohl in einem der damals noch vorhandenen oberen Stockwerke der Burg Obermontani bei Latsch im Vinschgau in einer Ansammlung von Pergamenten herumstöberte.
Das ganze alte Schriftzeug war dazu bestimmt, als Makulatur an einen Krämer in Latsch verkauft zu werden.
Beda Weber fischte ein paar Schriftbündel heraus und erstand sie um geringes Geld. Was er gefunden hatte, war nicht mehr und nicht weniger als eine wertvolle Handschrift des Nibelungenliedes und eine Handschrift des Jüngeren Titurel.
Es ist anzunehmen, daß der Gelehrte die Bedeutung seines Fundes erkannt hatte, dennoch hat er aus damaliger Sicht die historische Bedeutung des Ereignisses anders eingeschätzt, als wir es heute tun würden.
Er verkaufte die beiden Manuskripte um 200 fl an den Buchhändler Asher in Berlin, von dem sie die königlich-preußische Staatsbibliothek 1837 um angeblich 2000 fl – entspricht einem heutigen Wert von rund Euro 100.000,00 – erwarb.
Seither befindet sich, die hier auf Obermontani aufgefundene literaturhistorische Kostbarkeit, in Berlin unter der Signatur Ms germ. fol. 474. Die Nibelungenhandschrift, die in der Systematik die Bezeichnung mit dem Buchstaben I trägt, besteht aus 68 dicht beschriebenen Blättern im Format von 24 cm Höhe und 18 cm Breite.
Fragezeichen bis heute
Versetzen wir uns zurück in die Zeit um 1200. Es ist die Blütezeit der ritterlich höfischen Dichtung. Literatur wird in der höfischen Gesellschaft ein kulturelles Moment. Die Dichter treten aus ihrer Anonymität heraus, sie nehmen sich auch gegenseitig aufmerksam und kritisch zur Kenntnis. Es gibt eine Vielzahl von Anspielungen und wechselseitigen Bezugnahmen in den Werken der großen höfischen Epiker und Lyriker wie Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach oder Walther von der Vogelweide. Gottfried von Straßburg stellt in seinem Epos Tristan und Isolde alle wichtigen Dichterpersönlichkeiten der Zeit vor.
Und dennoch: Unser Heldenepos hat es spätestens im Jahre 1204 bereits gegeben, da Wolfram von Eschenbach in seinem „Parzifal“ darauf anspielt. Das Nibelungenlied, ein „Bestseller“ über Jahrhunderte, hat doch das Geheimnis seiner Entstehung bis heute nicht preisgegeben.
Im Gegenteil: Der seit fast zweihundert Jahren anhaltende Gelehrtenstreit hat bis in die jüngste Zeit durch Funde von Handschriften-Fragmenten mehrfach neue Nahrung bekommen und geht erhitzt weiter.
Mündliche Überlieferungstradition
Als sogenanntes Heldenepos steht das Nibelungenlied in einer mündlichen Überlieferungstradition. Der mündliche Erzähler trat als Sänger auf, nicht als Autor. Er erzählt die Geschichte ohne großen dichterischen Spielraum.
In 39 Abschnitten, Aventiuren genannt, beziehungsweise in insgesamt 2400 Strophen, erzählt das Nibelungenlied in einem ersten Teil die Geschichte von Kriemhild und Siegfried, die mit dessen Ermordung tragisch endet, und in einem zweiten Teil Kriemhilds Rache an den Burgundern.
Drei Sagenkreise sind ineinander verflochten. Das Nibelungenlied ist für den Gesangvortrag bestimmt. Die authentische Melodie ist nicht überliefert. Der mittelalterliche Sänger begleitet sich selbst auf der Harfe.
Handschriften entstehen
Der Literaturbetrieb, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts an weltlichen Fürstenhöfen einsetzt, führt zu einer neuen Entwicklung. Erstmals wird auch die bis dahin mündlich tradierte Heldenepik in schriftliche Form gefasst; dennoch hat die mündliche Literaturüberlieferung, vor allem im Bereich der Heldenepik, noch lange Zeit weitergelebt und zur Entstehung der voneinander abweichenden Fassungen beigetragen. Die Abweichungen sind in den verschiedenen Handschriften zu beobachte. Die Tatsache, daß das Epos ab dem 13. Jahrhundert handschriftlich aufgezeichnet wurde, lässt den Schluss zu, daß seine mündliche Überlieferung erst ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gewährleistet war.
Von Hand zu Hand überliefert
Die Entstehungszeit der in Obermontani aufgefundenen Handschrift dürfte um 1300 anzusetzen sein. Sie zählt zu den vier ältesten, in denen das um 1200 entstandene Nibelungenlied aufgezeichnet worden ist.
Nach dem heutigen Forschungsstand ist die Handschrift I wahrscheinlich in Tirol nach einer alamannischen Vorlage geschrieben worden. Sie fügt sich damit in die guten Produktionsbedingungen für literarische Handschriften, die es im süd- und südwestdeutschen Raum und besonders im südlichen Tirol gegeben zu haben scheint.
Ein Besitzeintrag aus dem 15. Jahrhundert weist sie als dem Anton Annenberger aus dem alten Vinschgauer Adelsgeschlecht gehörende aus.
Die Grafen Mohr beerbten im 17. Jahrhundert die ausgestorbenen Annenberger und verfügten damit auch über die bedeutende Bibliothek auf Schloss Annenberg.
Ein auf der Handschrift vermerkter Kommentar zeigt, daß Karl Graf Mohr noch 1797 in dieser Handschrift der Nibelungen gelesen hat. Er schrieb amüsiert unter anderem:
„Wie Chubnig Gunther von Burgund Erstenacht Brunnhilden von Isenstain am Rheine beslafen wolt und si in hend und füsse band un ihn an ein nagel auf gehankht“ (fol. 16v/17r).
Das Interesse des Grafen, der damals noch Herr auf Obermontani war, rückt den Fundort in den Vordergrund, wirft aber auch ein Licht auf den literarischen Geschmack des Adels. Wenn wir diesen weiter in die Geschichte bis ins Mittelalter zurückverfolgen, stellt sich uns die Frage: Was war das für eine Gesellschaft, die das Publikum für die fahrenden Sänger bildete und welche Bedürfnisse hatte sie?
Glanz und Luxus der höfischen Gesellschaft
Der Dichter, der im Donauraum den Stoff um 1200 zu unserem Nibelungenlied gestaltet hat, bearbeitete einen Stoff, den das Publikum seiner Zeit schon gut kannte. Es ist reizvoll zu beobachten, wie im Nibelungenlied, dessen stoffliche Quellen gut ein halbes Jahrtausend älter sind als die Niederschrift, alte germanisch-heidnische Wertvorstellungen mit der Fassade des höfischen Lebensstils kontrastieren.
Eine Vielzahl von Strophen sind der Schilderung von ritterlichen Kämpfen, Jagden Festen gewidmet, die Beschreibung der kostbaren Gewänder und der äußeren Schönheit will oft kein Ende nehmen. Umso tragischer wirkt der Absturz in die Tragödie.
Dieser Glanz der ritterlich-höfischen Gesellschaft, der ein Stück gestaltete, wenn auch alltagsferne Selbstdarstellung ist, wirkt nach, tief hinein ins 13. und ins 14. Jahrhundert, in eine Zeit, die durch Naturkatastrophen, durch politische und religiöse Verunsicherung und durch Erscheinungen eines allgemeinen Niedergangs einschneidende Veränderung des Lebensgefühls mit sich gebracht hat.
Höfische Selbstdarstellung in den Fresken von Lichtenberg
Um dieses Lebensgefühl an einem räumlich naheliegenden Beispiel zu betrachten, werfen wir einen Blick auf die Burg Lichtenberg, deren Fresken – heute im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck – ein besonders eindrucksvolles und seltenes Beispiel profaner Malerei darstellen.
Die Fresken verraten einen hohen Stand der Malkunst. Die Inhalte und Motive dieser Malerei weisen auf eine anspruchsvolle und souveräne Sicht der ritterlichen Kultur hin. Der rote Faden, der von der Erschaffung der Welt und des Menschen über die Vertreibung aus dem Paradies in die Welt und die Bilder des höfischen Lebens, des höfischen Epos und auch der Heldensage führt, scheint die Sehnsucht nach dem Glanz einer zu Ende gehenden Epoche auszudrücken; nach der Welt des Rittertums und ihren Mythen.
Die Sage von König Laurin und seinem Rosengarten ist eine räumlich gleichsam vor Ort festgemachte Szenerie für ritterliches Kämpfen und Handeln. Mit dem Auftritt Dietrichs von Bern, der auf den Fresken mit „der perner“ bezeichnet ist und der gegen den Zwergenkönig Laurin kämpft, schließt sich der Bogen zu großen Welt der Dietrichsage, zur Geschichte der Völkerwanderungszeit und zu jener Gestalt, die – als Inbegriff ritterlichen Edelmuts – am Ende des Nibelungenliedes tragisch und unfreiwillig in das blutige Rachegeschehen am Hunnenhof involviert wird.
Die in der Malerei wiedergegebenen Details, zum Beispiel bei Rüstungs- und Waffendarstellungen, bei der Darstellung der Kleidung mit ihren modischen Accessoires (Quasten, Schellen, Fransen, Schnabelschuhe…), der Prunk der Turniere, das Lanzenstechen, Jagdszenen haben ihr Gegenstück in der Ausführlichkeit, mit der solche Dinge im Nibelungenlied beschrieben sind.
Auch die Fresken auf Schloss Runkelstein bei Bozen spiegeln diese Vorliebe wider. Die Nähe des landesfürstlichen Hofes in Meran hat das Selbstverständnis und den Kunstsinn der adeligen Gesellschaft im Vinschgau sicher nicht unwesentlich beeinflusst. Doch scheint sich diese gesellschaftliche Welt in einer Flucht nach rückwärts zu befinden, in der nochmals festgehalten werden soll, was verloren zu gehen droht.
Die alte Bibliothek auf Schloss Annenberg
Der schon erwähnte Besitzeintrag auf der Nibelungenhandschrift, der diese dem Anton von Annenberg zuschreibt, lenkt unseren Blick auf die der Ruine Obermontani gegenüberliegende Talseite, auf Schloss Annenberg.
Einige noch erhaltene Kunstgegenstände, wie der Annenberger Altar und der Annenberger Chorstuhl – beide im Museum Ferdinandeum Innsbruck – oder der gotische Waschkasten – im Museum für angewandte Kunst in Wien – zeugen von der gehobenen Lebenskultur auf Annenberg. Nach der Überlieferungslage war die Bibliothek der Annenberger im 15. Jahrhundert die bedeutendste in privatem, weltlichem Besitz im Vinschgau, wenn nicht überhaupt in Tirol.
Die Annenberger hatten sich als Dienstleute der Grafen von Tirol seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem einflussreichen Geschlecht entwickelt und waren im Beitz mehrerer Burgen im mittleren Vinschgau.
Die Blütezeit der Bibliothek auf Schloss Annenberg geht zurück auf Anton von Annnenberg (1420-1480), der sich nach Studium in Burgund und am Rhein auf seinem Schloss offensichtlich mit Hingabe seinen gelehrten Interessen widmete. Der Bestand der Annenberger Bibliothek, der einen reichen Bestand an Handschriften und Inkunabeln umfasste, lässt auf einen gehobenen Bildungsstand im Vinschgauer Adel schließen, der wohl auch aus Anton von Annenbergs Sammlertätigkeit Vorteile gezogen hat.
Es fällt auf, daß er mit besonderem Interesse deutsche Übersetzungen und überhaupt für die deutsche Literatur gesammelt hat, wofür die erst in späterer Zeit aufgespürten Handschriften bedeutender Werke mittelalterlicher Literatur beredtes Zeugnis geben.
Es ist wohl kein Zufall, daß sich im 15. Jahrhundert unter den Nachfahren Antons ein Mann mit Namen Parzival findet.
Daß in einem solchen Ambiente Kostbarkeiten wie die Handschrift I und auch andere ihren Platz hatten, versteht sich wohl von selbst. Ein glücklicher Zufall hat die Nibelungenhandschrift im 19. Jahrhundert gleichsam an Land gespült. Auch wenn sie unserem Land nicht erhalten geblieben ist, darf sie doch als geistiger Besitz mit diesen Ausführungen in Erinnerung gerufen werden.
Liebe, Betrug und Rache
Der Handlungsverlauf des Nibelungenliedes lässt sich, sehr verkürzt, etwa so zusammenfassen: Der strahlende Held Siegfried, der den Drachen getötet und den Schatz der Nibelungen, eines Zwergengeschlechtes, errungen hat, zieht nach Worms und wirbt um Kriemhild, die Schwester Burgunderkönigs Gunther.
Dieser will seinerseits die Königin Brünhilde vom Isenstein zur Frau gewinnen. Wer um sie wirbt, muss sie, die übermenschliche Körperkraft besitz, im Speerwerfen und Springen besiegen. Wer daran scheitert ist des Todes. Siegfried, der sich, dank seiner Tarnkappe, unsichtbar machen kann, verhilft Gunther im Zweikampf zum Sieg, muss Gunther allerdings in der zweiten Hochzeitsnacht noch ein weiteres Mal helfen, die Kraft Brünhilds zu brechen.
Siegfried, der für seine Dienste Kriemhild zur Frau bekommen hat, erzählt dieser vom Betrug.
Zehn Jahre später lädt Gunther die beiden anlässlich großer Festlichkeiten nach Worms. Kriemhild und Brünhilde geraten in Streit über die Vorzüge ihrer Gatten. Die erzürnte Kriemhild verrät, auf welche Weise seinerzeit Brünhilde überwunden worden war.
Brünhild sinnt auf Rache, zieht Hagen von Tronje ins Vertrauen und verlangt den Tod Siegfrieds. Widerwillig muss auch Gunther zustimmen. Hagen ermordet Siegfried auf einem Jagdausflug.
Mit Siegfrieds Tod scheint auch Kriemhilds Leben abgeschlossen. Aber sie sinnt auf Rache, und als, nach dreizehn Jahren, der Hunnenkönig Attila um ihre Hand anhält willigt sie ein. Als Attila nach weiteren dreizehn Jahren die Burgunderkönige zu einem großen Fest an seinen Hof lädt, treten diese trotz der Warnungen Hagens mit großem Gefolge die Fahrt an, von der sie nicht mehr zurückkehren sollten.
Auch die Warnungen Dietrichs von Bern, der sich mit seinem Waffenmeister Hildebrand am Hof des Hunnenkönigs aufhält, kommen zu spät. Kriemhild nimmt grausame Rache an ihren Verwandten. Schließlich ist nur noch Hagen am Leben, in Fesseln gelegt von Dietrich von Bern. Kriemhild verlangt vergebens, daß er ihr die Stelle am Rhein verrate, wo der Nibelungenschatz versenkt ist. Hagen fällt durch Kriemhilds Hand und nimmt das Geheimnis mit in den Tod.
Hildebrand tötet Kriemhild und beendet die blutige Tragödie.