Vereintes Tirol als „Europaregion“ – eine Schimäre

Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff „Schimäre“ bezeichnet ein unwirkliches Fabelwesen, das als Trugbild in Erscheinung tritt und den Menschen das Hirn vernebelt.

Nach Auffassung des Historikers und Publizisten Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt handelt es sich bei der „Europaregion Tirol“ um eine solche Schimäre. Darüber hat er dankenswerterweise nachstehenden Beitrag zur Verfügung gestellt:

 (Bilder und Bildtexte beigestellt durch SID)

von Reinhard Olt

Niemand fasste die Malaise in treffendere Worte als der vormalige Landeskommandant der Südtiroler Schützen: Dass er seit nunmehr hundert Jahren zum italienischen Staat gehöre, sei für den südlichen Teil Tirols negativ. Demgegenüber müsse, wer einen ungetrübten Blick auf die Geschichte werfe, das Positive darin erkennen, dass „wir nicht von italienischen Politikern, italienischer Verwaltung und italienischen Gewohnheiten, die wir uns angeeignet haben, abhängig waren, als Tirol noch eins war“. Elmar Thaler nahm die alljährlich im Februar stattfindende Landesgedenkfeier für den Volkshelden Andreas Hofer in Meran seinerzeit zum Anlass, um „überbordende Gesetze, ausufernde Bürokratie, Schikanen gegenüber Betrieben, Beschlagnahme von Autos, nur weil ein ausländisches Kennzeichen drauf ist“, zu kritisieren, denen seine Landsleute unterworfen seien.

Der Schützenkommandant Elmar Thaler hinterfragte kritisch die „Europaregion“
Der Schützenkommandant Elmar Thaler hinterfragte kritisch die „Europaregion“

Nicht allein das – als einige Tage zuvor 30 Zentimeter Neuschnee und einige Lawinen den Verkehr über den Brenner lahmgelegt hatten, sodass zwischen Innsbruck und Trient (vice versa) für nahezu 30 Stunden so gut wie nichts mehr ging, habe „jeder, egal ob in Nord- oder Südtirol, dem anderen die Schuld gegeben“, sagte Thaler. Zurecht fragte der damals ranghöchste Repräsentant des nach wie vor uneingeschränkt für die Tiroler Landeseinheit einstehenden Südtiroler Schützenbundes (SSB), wo denn in der winterlichen Notsituation die angeblichen Segnungen der seit einem Vierteljahrhundert in Sonntagsreden vielbeschworenen „Europaregion Tirol“ ihren Niederschlag gefunden hätten.

Fehlanzeige – dieses Gebilde existiere lediglich auf dem Papier; es sei bei den Politikern, die stets davon sprächen, noch nicht angekommen, und beim Volk schon gar nicht, resümierte Thaler. Und was sich im Zusammenhang mit dem „Flüchtlings‘“-Zustrom sowie soeben mit der Corona-Pandemie zutrug/zuträgt bestätigt den Sachverhalt.

Ein niederschmetternder Befund

Das ist ein niederschmetternder Befund, der von der überwiegenden Mehrheit  aller Tiroler zwischen Kufstein und Salurn sowie aller Welschtiroler (Bewohner des Trentino) zwischen Kronmetz (Mezzocorona) und Borghetto geteilt werden dürfte, sofern diese überhaupt etwas mit diesem Begriff respektive dessen schlagwortartiger Verkürzung „Euregio Tirol“ anzufangen wissen.

Diese Skepsis sieht sich in der Umfrage „Jugend und Politik“ des Südtiroler Statistik-Instituts ASTAT vom August 2017 bestätigt, welche ergab, dass sich lediglich 17,1 Prozent der Personen im Alter bis zum 30. Lebensjahr für die „Euregio-Ebene“ interessier(t)en. Dies wiederum ist Beleg genug dafür, dass besagtes Gebilde ohne inhaltliche Tiefe ist und offenkundig weit unter dem bleibt, wofür es stehen und was es eigentlich erbringen soll(te).

Südtirols Jugendliche - hier auf einem Ferienlager des Südtiroler Schützenbundes - können mit der „Euregio“ nur wenig anfangen
Südtirols Jugendliche – hier auf einem Ferienlager des Südtiroler Schützenbundes – können mit der „Euregio“ nur wenig anfangen

Am 1. Januar 1995 war Österreich der Europäischen Union (EU) beigetreten. Damit eröffneten sich neue Chancen und Möglichkeiten in der Südtirol-Politik. Die Teilhabe am EU-Binnenmarkt sowie der 1997 vollzogene  Beitritt zum Schengener Abkommen beendeten trotz formellen Erhalts der Staatsgrenze zwischen den beiden Tiroler Landesteilen das zuvor gängige Grenzregime, womit die historisch stets als „Schandgrenze“ empfundene Teilungskonsequenz aus der aus dem italienischen Seitenwechsel im Ersten Weltkrieg erlangten Kriegsbeute in ihrer Wirkung erheblich an Trennschärfe verlor. Wenngleich der institutionelle Abbau der Grenze eine erhebliche Erleichterung des Alltagslebens auf beiden Seiten sowie eine Intensivierung des grenzüberschreitenden Verkehrs zur Folge hatte, ist das damit von der Politik beidseits des Brenners wie im Mantra beschworene „Zusammenwachsen“ der Landesteile bisher allenfalls ein frommer Wunsch geblieben.

Zusammenwachsen der Landesteile?

Parallel zu den grundstürzenden Veränderungen, welche nach dem Kollaps des Kommunismus, dem Fall der Mauer in Berlin und der Beseitigung des Drahtverhaus quer durch Europa sowie dem Untergang der Sowjetunion und der Auflösung Jugoslawiens die politische Geographie neu zeichneten, stellte man in den Landtagen Tirols und Vorarlbergs sowie Südtirols und des Trentino Überlegungen an, wie man sich möglichst in institutionalisierter Form zunutze machen könnte, was sich – über die nach dem Pariser Vertrag von 1946 zwischen Österreich und Italien mühsamen errungenen sogenannten Accordino-Vereinbarungen (Anmerkung: Abkommen über Warenaustausch, geltend für Tirol, Süd- und Welschtirol) hinaus – an „regionaler Subsidiarität“ bot, wie sie schon EG-Europa begrenzt zuließ.

Insbesondere der 1992 errichtete Vertrag von Maastricht (aus der EG wurde die EU) schuf mit seinem inkorporierten – aber nie politisch konsequent verwirklichten – Konzept eines „Europas der Regionen“ die Voraussetzungen für das inhaltlich und institutionell nur rudimentär ausgefüllte Projekt der „Euregio Tirol“.

Die Idee dazu war am 21. Mai 1991 im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der Landtage der österreichischen Bundesländer Tirol und Vorarlberg sowie der beiden (seit De Gasperis Verwässerung des Pariser Vertrags von 1946 im 1. Autonomiestatut 1948 in einer Region zwangsvereinigten) italienischen Provinzen Südtirol und Trient geboren worden. Obwohl sich Vorarlberg nach der zweiten gemeinsamen Sitzung am 2. Juni 1993 daraus zurückzog, begannen die entsandten Delegierten, das Konzept sukzessiv weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt stand dabei insbesondere die weitere Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Dies schlug sich im 1996 vorgestellten Statut über die künftige politische Marschroute sowie die institutionelle Ausgestaltung der Europaregion Tirol nieder.

Rom legt sich quer

Um den von Beginn an vorherrschenden römischen Vorwurf der Sezession zu entkräften, bewegte sich die institutionelle Ausgestaltung strikt innerhalb geltender verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen sowie auf dem völkerrechtlichen Grundsatz des am 21. Mai 1980 getroffenen Madrider Rahmenübereinkommens bezüglich grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften.

Zur Vermeidung von Problemen mit der italienischen Regierung nahm man – zunächst – Abstand von der ursprünglichen Idee, die Europaregion als öffentliche Körperschaft mit eigener finanzieller Ausstattung und Völkerrechtssubjektivität einzurichten.

Die Initiatoren erhofften, dass durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik nicht nur die wirtschaftliche Prosperität der Regionen, sondern damit auch eine Stärkung des Autonomie- und Föderalismusprinzips auf nationaler und EU-Ebene einhergehen würde.

Und insbesondere in Innsbruck und Bozen verband man mit der Europaregion die Hoffnung, dass die Kooperation nicht nur dem soziokulturellen „Auseinanderdriften“ der Landesteile Einhalt gebieten würde, sondern sogar das Gefühl der gemeinsamen Identität wiederaufleben ließe. So beriefen sich führende Politiker beider Landesteile verstärkt auf gemeinsame Herkunft sowie Identität und begrüßten zugleich den faktischen Abbau der trennenden „Unrechtsgrenze“ im Rahmen der Europaregion.

„Sezessionismus, Irredentismus, Pangermanismus“

Dies führte sogleich dazu, dass von den damaligen italienischen Regierungsparteien nicht etwa nur die – aus dem neofaschistischen MSI hervorgegangene – Alleanza Nazionale (AN) unter Fini, sondern auch die von Ministerpräsident Silvio Berlusconi geführte Forza Italia (FI)  immer wieder den reflexartigen Vorwurf des Sezessionismus/Irredentismus erhoben.

Die Partei „Alleanza Nazionale“ (AN) des Außenministers Gianfranco Fini, der auf Wahlplakaten mit dem „Saluto Romano“ - dem faschistischen Gruß - zu sehen war, machte bei jeder Gelegenheit Front gegen die Südtiroler.
Die Partei „Alleanza Nazionale“ (AN) des Außenministers Gianfranco Fini, der auf Wahlplakaten mit dem „Saluto Romano“ – dem faschistischen Gruß – zu sehen war, machte bei jeder Gelegenheit Front gegen die Südtiroler.

Aus anfangs vereinzelten Vorwürfen entwickelte sich ein breiter Proteststurm in Rom, der 1995 in einen handfesten politischen Konflikt mündete. Auslöser war die Absicht der drei Europa-Regionisten, ein gemeinsames Verbindungsbüro in Brüssel einzurichten, um selbständig und überzeugtermaßen effektiver die eigenen regionalen Interessen gegenüber den EU-Institutionen vertreten zu können.

Obwohl Innsbruck ebenso wie Bozen und Trient versicherten, dass man allein föderalistische Absichten verfolge, da das Büro auf ausschließlicher Grundlage von EU-Rechtsbestimmungen geschaffen werde, geriet insbesondere die Südtiroler Landesregierung ins Kreuzfeuer Roms.

Selbst von höchster Ebene wurden offene Vorwürfe oder gar Drohungen gegenüber der Landesregierung geäußert. So etwa von der Generalstaatsanwaltschaft in Trient, die die Südtiroler der „zunehmenden Staatsfeindlichkeit“ bezichtigte. Auch Staatspräsident Luigi Scalfaro drohte Bozen offen an, etwaige Sezessionsabsichten stellten einen evidenten Verstoß gegen die Verfassung dar und zögen schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Im internen Jahresbericht des italienischen Innenministeriums wurde das Verbindungsbüro als „provozierend“ und „subversiv“ eingestuft, und zufolge von Anzeigen mehrerer rechter italienischer Parteien, besonders aus deren Südtiroler Dependancen, wonach mit der Europaregion die „Zerstörung der Einheit Italiens“ oder „die Rückgliederung Südtirols nach Österreich“ angestrebt werde, wies Ministerpräsident Lamberto Dini die Staatsanwaltschaft in Rom an, den Vorwürfen nachzugehen. Wenngleich selbst Büros von SVP-Abgeordneten durchsucht wurden, konnten die ermittelnden Staatsanwälte keine Indizien für den Vorwurf des Sezessionismus finden.

Schließlich musste der italienische Verfassungsgerichtshof anno 1997 die Rechtmäßigkeit des Büros anerkennen.

Wie die Internetseite http://www.alpeuregio.org/index.php/de/was-wir-tun zeigt, handelt es sich bei dem Brüsseler Büro um eine wenig revolutionäre Einrichtung.
Wie die Internetseite http://www.alpeuregio.org/index.php/de/was-wir-tun zeigt, handelt es sich bei dem Brüsseler Büro um eine wenig revolutionäre Einrichtung.

Wien verharrt in Passivität

Trotz dieses zwischen 1995 und 1997 das politische Klima zwischen Rom, Trient, Bozen und Innsbruck vergiftenden Konflikts vermied es die österreichische Regierung, zugunsten der Europaregion Tirol Partei zu ergreifen, sondern verharrte am Ballhausplatz in Passivität. In internen Aktenvermerken der Regierungen Vranitzky/Mock bzw. Vranitzky/Schüssel wurde kritisiert, Bozen und Innsbruck hätten es verabsäumt, Wien in ausreichendem Maße über das Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Außenminister Alois Mock sowie sein Nachfolger Wolfgang Schüssel vermieden es, öffentlich Stellung zu nehmen. Ihre Partei ÖVP befleißigte sich der Zurückhaltung, wohingegen Grüne und Teile der in großer Koalition mit der ÖVP verbundenen Kanzlerpartei SPÖ sogar offen vor angeblichen Gefahren eines Wiedererstarkens des „pangermanistischen Nationalismus“ warnen zu müssen glaubten.

Lediglich die FPÖ sowie die Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols sprachen sich geschlossen und eindeutig zugunsten der Europaregion aus. Die österreichischen Parteien spielten Italien faktisch in die Hände, indem Rom das Projekt mit dem Hinweis darauf, dass FPÖ wie Schützen zuvor offen das Recht auf Selbstbestimmung für Südtirol eingefordert hätten, als „Föderalismusprojekt von Rechtsaußen“ zu stigmatisieren trachtete, das dem „sezessionistischen Pangermanismus“ diene.

„Aufstand gegen Gleichgültigkeit“

Selbstdarstellung der „Euregio“ mit ihren drei damals amtierenden Landeshauptleuten im Internet, wo man sich durch den Besuch der Internetseite http://www.europaregion.info/de auch über die inhaltliche Qualität der „Euregio“ informieren kann.
Selbstdarstellung der „Euregio“ mit ihren drei damals amtierenden Landeshauptleuten im Internet, wo man sich durch den Besuch der Internetseite http://www.europaregion.info/de auch über die inhaltliche Qualität der „Euregio“ informieren kann.

Selbstdarstellung der „Euregio“ mit ihren drei damals amtierenden Landeshauptleuten im Internet, wo man sich durch den Besuch der Internetseite http://www.europaregion.info/de auch über die inhaltliche Qualität der „Euregio“ informieren kann.

Da es seit der Initiierung eher durch Konflikte mit Rom denn durch signifikante politische Erfolge aufgefallen war, erlangte das Projekt erst mit der nomenklatorischen Prägung „Europaregion Tirol Südtirol Trentino” wieder ein wenig Auftrieb, zumal da sich die drei Landesregierungen verstärkt seiner Erweckung aus dem „Dornröschenschlaf” widmeten.

Ziel war die Stärkung der „Achse Innsbruck-Bozen-Trient“ auf kultureller Ebene sowie der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Politik und Wirtschaft. Im Kulturellen erhoffte man sich, den seit Jahrzehnten doch recht weit fortgeschrittenen Entfremdungsprozess südlich und nördlich des Brenners zu stoppen.

Obwohl das postulierte Ziel eines „Aufstands gegen die Gleichgültigkeit“ – am 21. Februar 2009 auf Schloss Tirol begrifflich geprägt vom damaligen Trentiner Landeshauptmann Lorenzo Dellai während einer gemeinsamen Sitzung der Landeshauptleute – an sich nicht neu war, erfuhr es in Bozen eine besondere Ausformung. In Anbetracht des Wählerzulaufs  zum oppositionellen Lager der Selbstbestimmungsbefürworter, welcher sich nicht allein in Wahlerfolgen von Süd-Tiroler Freiheit (STF) und Freiheitlicher Partei Südtirols (FPS) abzeichnete, wollte man mit dem Ausbau der Euregio ein alternatives Modell schaffen und möglichst attraktiv machen. So gaben insbesondere SVP und Nordtiroler ÖVP vor, mit der Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit werde die politische Unabhängigkeit der Landesteile gegenüber Rom, Wien und Brüssel gestärkt, was dazu beitrage, dass die Teilung Tirols im „europäischen Geiste“ überwunden werde.

Außenminister Kurz: „Ewiggestrige“

Das Werben mit der politischen „Nord-Süd-Achse“ postulierten die Regierungsparteien in Bozen (SVP), Innsbruck (ÖVP) und Wien als „einzige realpolitische Alternative“ zur Freistaatslösung, wie sie die oppositionelle FPS vertritt, und zur Wiedervereinigung mit Tirol, mithin der Rückgliederung zu Österreich nach erfolgreicher Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, wie sie die ebenfalls oppositionelle STF auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zugleich erhoben die Regierungsvertreter gegenüber den Selbstbestimmungsparteien und -befürwortern scharfe Kritik. Diese nannte der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) seinerzeit „Ewiggestrige“, die vom „Aufziehen neuer Grenzen“ träumten.

Sebastian Kurz in der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ vom 3./4. Mai 2014.
Sebastian Kurz in der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ vom 3./4. Mai 2014.

Zugleich verstörten er und seine ÖVP mit der faktisch die Aufgabe des Selbstbestimmungsverlangens markierenden (und von der neuen SVP-Führung unter Philipp Achammer sowie Landeshauptmann Arno Kompatscher stillschweigend-freudig gutgeheißenen) Position alle patriotischen Kräfte, wonach mit der Südtirol-Autonomie „eine besondere Form der Selbstbestimmung verwirklicht“ sei.

Hinsichtlich einer besseren funktionellen  Zusammenarbeit in der „Euregio“ vereinbarten nunmehr die drei Landesregierungen, die bis dato als „träge“ geltenden Entscheidungsprozesse, wie sie etwa im Rahmen der Dreierlandtage gang und gäbe waren, durch neue effektivere und stärker institutionalisierte Mechanismen zu ersetzen. Wenngleich die Treffen der Landtage – trotz ihres gemeinsamen Zusammentretens im Zwei-Jahres-Rhythmus – durchaus einen politischen Fortschritt darstellten, war durch das dort geltende Einstimmigkeitsprinzip die Entscheidungsfindung erschwert. Daher vermied man es, im Rahmen dieses Gremiums strikt, politisch heikle Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Dies wiederum führte dazu, dass die realpolitische Bedeutung der gemeinsamen Landtagssitzungen als sehr gering einzuschätzen war und lediglich einen symbolischen Zweck erfüllte. Daher entschieden sich die Landesregierungen am 15. Oktober 2009 zur Einrichtung des sogenannten „Europäischen Verbunds territorialer Zusammenarbeit“ (EVTZ), um die Europaregion mit eigener Rechtspersönlichkeit und damit auch größerer politischer Selbständigkeit auszustatten.

Die „Euregio“ als „EVTZ“

Darstellung der „EVTZ/Europaregion“ auf der Internetseite http://www.europaregion.info/de

Das Konzept fußt auf der Verordnung 1082/2006 des Europäischen Parlaments und verfolgt dabei Ziel und Zweck, „[…] regionalen und kommunalen Behörden (und auch nationalen Behörden in kleineren oder zentralisierten Ländern) sowie öffentlichen Unternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten die Einrichtung von Verbünden mit eigener Rechtspersönlichkeit zur Lieferung gemeinsamer Leistungen“ im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete am 16. Oktober 2009, dass die Landesregierungen von Nord- und Südtirol sowie des Trentino namens der „Euregio" Maßnahmen wie gemeinsames Nachtfahrverbot, einheitliche Mauttarife etc. beschlossen hatten. Davor musste sich Rom freilich nicht fürchten.
Die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete am 16. Oktober 2009, dass die Landesregierungen von Nord- und Südtirol sowie des Trentino namens der „Euregio“ Maßnahmen wie gemeinsames Nachtfahrverbot, einheitliche Mauttarife etc. beschlossen hatten. Davor musste sich Rom freilich nicht fürchten.

Die Gründung der EVTZ rief zwar neuerlich Einspruch seitens der italienischen Regierung hervor; der Protest fiel jedoch weitaus „gemäßigter“ aus als beim ersten Anlauf (s.o.). So trug Rom jetzt lediglich „formelle Bedenken“ vor und zeigte sich zudem bereit, über das Projekt am Verhandlungstisch zu diskutieren. Bereits nach einigen Konsultationen zog sie ihre anfänglichen Vorbehalte zurück und stimmte schlussendlich zu, sodass der  Eröffnung des EVTZ-Büros in Bozen nichts mehr im Wege stand.

Am 4. Mai 2011 konnte die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ berichten, dass Rom nun seine Erlaubnis für die „Europaregion“ erteilt habe.

Am 15. Juni 2011 konnte die Tageszeitung „Dolomiten“ berichten, dass mit der Unterzeichnung der Gründungsurkunde durch die drei Landeshauptleute die „Europaregion“ nun durchstarte.
Am 15. Juni 2011 konnte die Tageszeitung „Dolomiten“ berichten, dass mit der Unterzeichnung der Gründungsurkunde durch die drei Landeshauptleute die „Europaregion“ nun durchstarte.

Die Aufgabenfelder der Europaregion à la EVTZ sollten nunmehr eine umfassende politische, wirtschaftliche und soziale Bandbreite abdecken. Dies führte allerdings bereits nach kurzer Zeit zu Bedenken. So befürchtete man sogar in den jeweiligen Landesregierungen, man könne sich dabei, wie schon einmal, politisch übernehmen. Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher, sonst eher ein glühender EVTZ-Akteur, befand sogar zu Beginn seiner Amtszeit 2014 nüchtern, dass es der Europaregion – mit Ausnahme des im Bau befindlichen Brenner-Basistunnels – an großen „politischen Leuchtturmprojekten“ fehle und mahnte, die EVTZ dürfe „nicht wieder nur zu einem Schlagwortprojekt“ verkommen. Daher stufte die Südtiroler Landesregierung die EVTZ als „Projekt herausgehobener politischer Priorität” ein und stellte dafür zusätzliche Mittel bereit.

Nationalstaatliche Interessen

Nichtsdestotrotz bleibt abzuwarten, welche Entwicklung die Euregio Tirol-Südtirol-Trentino in Zukunft tatsächlich nimmt, und es muss sich auch erst noch herausstellen, ob damit tatsächlich das Wiederzusammenwachsen der seit hundert Jahren getrennten Landesteile begünstigt werden kann. Skepsis ist angesichts des eingangs (mit Bezug auf das winterlich bedingte Verkehrschaos) geschilderten Zuständigkeitsproblems schon im Kleinen angebracht.

Und wenn es um größere Bedürfnisse geht, welche nationalstaatliche Interessen unmittelbar berühren, bleibt von der hehren Euregio wenig mehr als ein matter Schein.

Das zeigte sich 2016 in aller Deutlichkeit, als Österreich im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise”, die infolge politischen Fehlverhaltens und selbstzerstörerischer Willkommens-Signale in Wahrheit einer Masseninvasion überwiegend junger Männer aus zuvorderst muslimisch geprägten nah- und fernöstlichen sowie afrikanischen Ländern glich, ernstlich erwog, nach der vom damaligen Außenminister Kurz maßgeblich zustande gebrachten Unterbindung des Zustroms über die Balkan-Route auch jenen über die stark frequentierte Italien-Route durch Wiedereinführung von (auch mit militärischen Mitteln unterstützten) Brenner-Kontrollen zu stoppen. Was jedoch unterbleiben konnte, da sich Rom tatsächlich zur Abkehr von zuvor eher laxem „Durchwinke”-Verhalten bequemte. Und mit dem mit der vorgezogenen Parlamentswahl 2018 vollzogenen Machtwechsel hin zu der von der Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord gebildeten Regierung betrieb Rom – eben im nationalen Interesse des vom einstigen königlichen Regierungschef Antonio Salandra 1915 beim Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien geprägten Prinzips des „Sacro egoismo” – neben den Visegrad-Vier Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen die weitaus strengste Flüchtlings(abweisungs)politik im Rahmen der EU. Das ist „Schnee von gestern“ seit Fünf-Sterne und Sozialisten unter Capo Conte die Regierung bilden.

Institutionell funktionierende „Euregios”, jeweils ausgestattet mit politischer Selbstverwaltung, Regionalparlament und -regierung, welche tatsächlich die vielen ursächlich von der ohne Beachtung der historisch-kulturellen Identität und Volkszusammengehörigkeit sowie der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts gezogenen) Grenzen verschwinden ließen und damit auch die dadurch erst entstandenen und bis heute fortwirkenden Probleme nationaler Minderheiten auf einen Schlag beseitigten, würden wohl nur durch Aufhebung des Nationalstaatsprinzips und demzufolge mit der herbeizuführenden Metamorphose der Nationalstaaten zu einer wirklich politischen EUnion möglich.

Deren Parlament müsste sich aus gewählten Abgeordneten aller Europaregionen konstituieren und aus dessen Mitte die EU-Regierung hervorgehen. Derartigen Träumen, wie sie vielleicht in den 1990er Jahren von einigen in der Minderheiten- und Volksgruppenpolitik Engagierten geträumt worden sein mochten, stehen Entwicklung, Zustand und Lage, in der/dem sich EUropa befindet, diametral entgegen. Es dominieren nationalstaatliche Interessen, um nicht zu sagen Egoismen, und es gewinnen auf Loslösung und Eigenstaatlichkeit bedachte Fliehkräfte – just auch innerhalb der Nationalstaaten (beispielsweise in Spanien, Italien, Belgien, Großbritannien) – ebenso an Attraktivität wie politisches Handeln in nationalstaatlicher Fasson.

Landeseinheit durch Euregio – ein Wunschbild

Wider den in der Europa-Frage gleichsam missionarisch  agierenden österreichischen Schriftsteller Menasse rief der türkisch-deutsche Literat Zafer Senocak ernüchternd den „Abschied vom Fetisch eines politisch vereinten Europa” aus und stellte fest, Europas Zukunft könne nur in der wertgebundenen Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten liegen. Wie diese „wertgebundene Zusammenarbeit“ in Bezug auf die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino funktioniert, geht aus dem auf den einleitend erwähnten Meraner Andreas-Hofer-Feierlichkeiten getroffenen Befund hervor.

Andreas Hofer-Gedenken in Mantua. Der österreichische Generalkonsul vermeinte, den Tiroler Freiheitshelden als Vorkämpfer für die „Euregio“ darstellen zu müssen.
Andreas Hofer-Gedenken in Mantua. Der österreichische Generalkonsul vermeinte, den Tiroler Freiheitshelden als Vorkämpfer für die „Euregio“ darstellen zu müssen.

Dem stellte der in Mailand residierende österreichische Generalkonsul Wolfgang Spadinger im Beisein von Schützenformationen aus besagter Euregio auf der Gedenkfeier in Mantua am Denkmal des dort einst füsilierten Tiroler Volkshelden entgegen, Andreas Hofer sei ein „früher Vertreter der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino“ gewesen, die heute gut funktioniere.

Wie dem auch sei – unter dem Aspekt der Aufhebung der Teilung des Landes und des nach wie vor nicht aus den Augen zu verlierenden Ziels des Wiedergewinnens seiner Einheit reicht sie kaum über die Wunschbildkontur einer Schimäre hinaus.

Zur Person des Verfassers:

Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war 27 Jahre politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) und von 1994 bis 2012 deren Korrespondent in Wien für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei.

Daneben nahm er Lehraufträge an deutschen, österreichischen und ungarischen Hochschulen wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen (BdV). 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der österreichische Bundespräsident verlieh ihm den Professoren-Titel. 2004 wurde er mit dem Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt und ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 promovierte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.), verbunden mit der Ernennung zum Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

http://effekt-shop.it/shop/buecher/standhaft-im-gegenwind/
http://effekt-shop.it/shop/buecher/standhaft-im-gegenwind/

Im Jahre 2017 erschien das reich bebilderte und spannend zu lesende Dokumentarwerk: Reinhard Olt: „Standhaft im Gegenwind. Der Südtiroler Schützenbund und sein Wirken für Tirol als Ganzes“

Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2017, 364 Seiten, Hardcover, Format 260×235 mm, illustriert, ISBN 978-88-97053-39-2

Zur Bestellseite des Verlags.
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Rückblick auf unterschiedliche Gedenken

Tiroler Landtag 1920 – Ein erschütternder Abschied

Am 10. Oktober 1920 war die offizielle Einverleibung des südlichen Tirols einschließlich Welschtirols in den italienischen Staat vollzogen worden. Weder im heutigen Südtirol noch im heutigen Trentino (Welschtirol) war eine Volksabstimmung durchgeführt worden. Offensichtlich hatte man in Rom wohl zu Recht befürchtet, dass eine solche nicht zugunsten Italiens ausgegangen wäre.

Am 16. November 1920 wurden am Innsbrucker Landhaus, dem Sitz des Tiroler Landtages, schwarze Trauerfahnen gehisst. An diesem Tag leitete Landeshauptmann Josef Schraffl (Christlichsoziale Partei) eine Trauersitzung des Tiroler Landtages, auf welcher die Abgeordneten aus dem südlichen Landesteil verabschiedet wurden. Er sprach: „Heute sind noch die Brüder aus dem Süden des Landes hier versammelt. Erschüttert haben wir ihre Abschiedsworte vernommen, das eiserne Muss des Friedensvertrages zwingt uns in kurzer Zeit, uns zu trennen. Schweren Herzens werden wir in den nächsten Tagen die grausame Pflicht erfüllen, aber wir tun es nicht, ohne schon heute feierlich Protest zu erheben, ohne uns gegenseitig zu geloben, dass wir nie und nimmer ruhen und rasten werden, bis auch uns Tirolern, Deutschen und Ladinern; das Recht der Selbstbestimmung, des völkischen Zusammenschlusses zuteil wird.“ (Stenographische Berichte des verfassungsgebenden Tiroler Landtages. 46. (Trauer-)Sitzung am 16. November 1920 um 10 Uhr vormittags)

Die Trauersitzung des Tiroler Landtages am 16. November 1920
Die Trauersitzung des Tiroler Landtages am 16. November 1920

Einhundert Jahre später, am 16. November 2020 widmete die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ der damaligen Trauersitzung des Tiroler Landtages eine ganze Seite mit einem Offenen Brief des langjährigen FPÖ-Nationalrats- und Landtagsabgeordneten Dr. Siegfried Dillersberger an den Nordtiroler Landeshauptmann Günther Platter und die Präsidentin des Nordtiroler Landtages, Sonja Ledl-Rossmann.

In diesem Schreiben berichtete Dr. Siegfried Dillersberger, dass damals sein Großvater Josef Dillersberger als Landtagsabgeordneter Zeuge des traurigen Geschehens war, als sich der Abschied der Südtiroler Mitgleider des Landtages „mit bewegten Worten und Umarmungen, teils unter Tränen“ vollzog.

Dr. Dillersberger erinnert an einen Grundsatzbeschluss des Tiroler Landtages

In dem Brief von Dr. Dillersberger heißt es weiter, der Tiroler Landtag habe am 24. November 1994 „in einer auch von mir initiierten Entschließung festgestellt, dass sich die in der Präambel der Tiroler Landesordnung 1989 genannte geistige und kulturelle Einheit des Landes Tirol auf Nord-, Ost- und Südtirol bezieht. Weiters hat sich der Tiroler Landtag damals auch zum ‚fundamentalen Menschenrecht auf Selbstbestimmung bekannt…“

Chorgesang für die „Europaregion“ und die „weltweit als Vorbild“ dienende Autonomie

Es gab es einen amtlichen Chorgesang für die „Europaregion“. Die ÖVP Tirols veröffentlichte am 9. Oktober 2020 auf ihrer Internetseite eine namentlich nicht gezeichnete Stellungnahme unter dem Titel „Auch wenn die Teilung Tirols immer Unrecht bleiben wird, geht unser Blick nach vorne“.

Darin hieß es: „Die damalige Entscheidung war ein Unrecht und wird immer ein Unrecht bleiben.“ Jedoch diene die Autonomie heute „weltweit als Vorbild“ und die „Euregio führt zusammen und stellt das Gemeinsame vor das Trennende.“ Wie schön!

Dass die Südtiroler Autonomie „weltweit als Vorbild“ diene, ist eine gewagte Aussage angesichts dessen, dass sie international-rechtlich nicht abgesichert ist. LH Platter sei hier empfohlen, sich einmal im Vergleich dazu die Autonomie der Aland-Inseln anzusehen. Dann wird ihm klar werden, wie eine wirkliche Autonomie aussieht.

Wer sich von der Inhaltsleere der „Euregio“ überzeugen will, kann dies durch einen Besuch der Internetseite tun.

 

Auch der Nordtiroler FPÖ-Obmann und Landtagsabgeordnete Markus Abwerzger forderte in einer Stellungnahme auf der Internetseite seiner Partei zunächst nur: „… die Europaregion muss mit echtem Leben erfüllt werden. Wie schön!

Allerdings lag der FPÖ-Südtirolsprecher im Österreichischen Nationalrat Peter Wurm nicht ganz auf der Linie seines Nordtiroler Parteiobmannes. Er erklärte in einer Pressemitteilung am 10. Oktober 2020 immerhin:

„Für jeden aufrechten Tiroler kann es nur die Wiedervereinigung der Landesteile beim Vaterland Österreich geben.“

Daraufhin erklärte Abwerzger mit einem Monat Verspätung in einem Pressedienst:

„Nach 100 Jahren Unrecht leben wir noch immer in einem zerrissenen Land, mit nur äußerlich verheilten Wunden. Die Autonomie sowie die Europaregion können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tirol im Innersten zerrissen ist und bis heute die Volksseele darunter leidet.“ (Internetportal „unsertirol24“ vom 16. November 2020)

Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) brach in einer Stellungnahme „eine Lanze für die Europaregion“ und erklärte: „Aufbauend auf einer soliden Wertebasis beschreiten wir gemeinsam den europäischen Weg.“ („Dolomiten“ vom 10. Oktober 2020) Wie schön!

Am 19. November 2020 fand dann im Tiroler Landtag in Innsbruck ein Gedenken an die Landesteilung vor 100 Jahren statt, an welchem die „Euregio“-Landeshauptleute Günther Platter (Nordtirol), Arno Kompatscher (Südtirol) sowie Maurizio Fugatti (Trentino) teilnahmen. In der Pressemitteilung der Nordtiroler Landesregierung wurde keineswegs die Wiedervereinigung Tirols als wünschenswertes Ziel dargestellt, sondern stolz die Erklärung des Landeshauptmannes Platter wiedergegeben, dass die drei Länder „im Rahmen der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino und im Geiste eines geeinten Europas“ verstärkt zusammen arbeiten würden.

Dazu erklärte der freiheitliche Landtagsabgeordnete Christofer Ranzmaier in seiner Eigenschaft als Obmann der Freiheitlichen Jugend in einer Presseaussendung:

„Man versucht den Eindruck zu erwecken, man hätte mit dem Papiertiger ‚Europaregion Tirol‘ die Lösung des Problems geschaffen, verkennt dabei jedoch völlig, dass trotz allem am Brenner noch immer eine Unrechtsgrenze existiert, die sich insbesondere in Krisenzeiten auch als solche manifestiert. Eine Unrechtsgrenze die nicht nur unser Land, sondern ganze Familien auseinanderreißt. Eine Unrechtsgrenze, die das Land nicht für immer trennen darf.“

Was ist die „Europaregion“ in Wahrheit?

Sie ist ein weitgehend inhaltsleeres Papierkonstrukt. Bei der sogenannten „Euregio“ – der „Europaregion Tirol“ – handelt es sich um keine öffentliche Körperschaft mit Rechtsstatus, Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen. In einer wissenschaftlichen Arbeit steht dazu treffend und kurz zu lesen: „Die Institutionalisierung der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino scheiterte bereits in den Kindertagen.“ Die Bezeichnung „Europaregion“ sei lediglich der Titel für „eine freiwillige politische Zusammenarbeit, die jederzeit auf gekündigt werden kann.“ (Ivo Eric Graziani in seiner Diplomarbeit „Die Europaregion Tirol-Südtirol/Alto Adige-Trentino“, Universität Wien 2009, S. 121)

Das Verhalten der Medien und der Politiker

In Südtirol sorgte vor allem die Tageszeitung „Dolomiten“ dafür, dass über das Thema der Landesteilung eine breite öffentliche Diskussion stattfand. Die Zeitung selbst gab in mehreren Folgen allen Stimmen aller Richtungen ausreichend Raum.

Aus der Titelseite der „Dolomiten“ vom 10. Oktober

Im Innenteil widmeten die „Dolomiten“ dem tragischen Geschehen von 1920 eine ausführliche Berichterstattung
Im Innenteil widmeten die „Dolomiten“ dem tragischen Geschehen von 1920 eine ausführliche Berichterstattung

In Österreich sah es leider anders aus, wie die „Dolomiten“ am 17. Oktober 2020 kritisch berichten mussten. „100 Jahre Annexion Südtirols durch Italien waren im Bundesland Tirol kaum ein Thema“, lautete die Schlagzeile, unter der dann aus der Feder des bekannten Tiroler Journalisten, Historikers und Alpinisten Uwe Schwinghammer zu lesen war: „Während man in Südtirol in den Medien ausführlich des 100. Jahrestages der Annexion Südtirols gedachte, herrschte im Bundesland Tirol weitgehend Schweigen im Blätterwald und bei den Rundfunksendern. Auch in der Politik war das kaum Thema.“

(Wer weiß, wie die Medien Österreichs an dem finanziellen Tropf der hohen Politik – Presseförderung, Inserate – hängen, den wundert dies nicht.)

Der ehemalige Nordtiroler Landeshauptmann Wendelin Weingartner (ÖVP) hielt einen kritischen Rückblick auf die Gedenkveranstaltungen des 10. Oktober, welcher in der Südtiroler Sonntagszeitung „Z – Die Zeitung am Sonntag“ am 18. Oktober 2020 veröffentlicht wurde:

Bekenntnisse zur Landeseinheit

„Dolomiten“ Chefredakteur Dr. Toni Ebner zu dem Thema Selbstbestimmung

Am 10. Oktober 2020 erklärte Dr. Toni Ebner, Chefredakteur der Tageszeitung „Dolomiten“, in der ORF-Dokumentarsendung „100 Jahre Südtirol – Zerrissen zwischen den Mächten“: „Die klassische Frage ‚Selbstbestimmung für Südtirol – wollt ihr zurück zu Österreich‘, hängt von den Umständen ab. Wenn die Umstände so sind, dass die italienische Regierung die Südtiroler drangsaliert, das hat es ja immer wieder gegeben, und Probleme schafft, dann glaube ich, dass eine Mehrheit in Südtirol für eine Rückkehr nach Österreich zustande kommt.

Südtiroler Schützenbund: Rote Leuchtfeuer und Dornenkrone an der Grenze

Am 10. Oktober 2020 wurden in allen sieben Bezirken Feuerschriften mit der Zahl 100 entzündet. Zahlreiche rote Feuer von den Bergeshöhen erinnerten an das Leid, welches Südtirol bislang hatte erdulden müssen.

Am Timmelsjoch hatte der Südtiroler Schützenbund, in Anwesenheit aller drei Landeskommandanten Tirols, eine Dornenkrone errichtet. Sie sollte an das Leiden erinnern, das die Südtiroler im Laufe der Geschichte miterlebt haben.

Der Südtiroler Landeskommandant Wirth Anderlan fand klare Worte
Der Südtiroler Landeskommandant Wirth Anderlan fand klare Worte

Der Südtiroler Landeskommandant Jürgen Wirth Anderlan erklärte dazu, dass für die Zukunft weiterhin die Worte des ehrwürdigen Altlandeshauptmann von Tirol, Eduard Wallnöfer, das Fundament für das Tun und Handeln der Schützen sein werden:

„Wir wissen, dass wir die staatliche Unrechtsgrenze nicht mit Gewalt ändern können. Aber keiner kann von uns erwarten, dass wir jemals dieses Unrecht Recht heißen und das wir jemals aufhören werden, leidenschaftlich unsere ganze Kraft einzusetzen für das Recht in Nord-, Süd-, Ost- und Welschtirol.“

Die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete ausführlich über die Gedenkveranstaltungen und die Leuchtfeuer des Südtiroler Schützenbundes

Südtiroler Schützenbund: Einweihung eines Gedenksteins in der Mitte Tirols

Am 10. Oktober 2020 wurde der durch den Schützenbezirk Brixen und die Schützenkompanie Latzfons errichtete Markstein in der Mitte Tirols nahe der Wallfahrtskirche Latzfonser Kreuz feierlich eingeweiht und gesegnet. Er soll „die Verbundenheit unseres Heimatlandes aufzeigen“, heißt es in einer Mitteilung der Schützen. Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete darüber am 12. Oktober 2020.

Süd-Tiroler Freiheit: Plakataktion

Die im Südtiroler Landtag vertretene Partei „Süd-Tiroler Freiheit“ sorgte mit einer Plakataktion in Nord-, Süd- und Osttirol für Aufsehen. Sie sollte, hieß es in einer Presseaussendung, die Bevölkerung dafür sensibilisieren, dass Tirol nicht am Brenner aufhört und dass die Teilung unseres Landes überwunden werden kann.

Denn „schöne Sonntagsreden von einer vermeintlichen Europaregion Tirol“ seien nicht genug, erklärte der Landtagsabgeordnete Sven Knoll dann auf einer Pressekonferenz. Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete darüber am 13. Oktober 2020.

Südtiroler Heimatbund (SHB): Plakataktion in Tirol und ganz Österreich

Der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) wurde von ehemaligen Freiheitskämpfern und politischen Häftlingen gegründet, um die Forderung nach Selbstbestimmung und Landeseinheit öffentlich zu vertreten. Der heutige Obmann Roland Lang ist in allen seinen Handlungen und Äußerungen dieser Linie treu geblieben. In Nord-, Süd- und Welschtirol sowie in mehreren österreichischen Städten einschließlich Wien verwiesen Plakate auf den 10. Oktober 1920 und die verweigerte Selbstbestimmung.

Das SHB-Plakat bei einer Bushaltestelle in Bozen. Im Hintergrund sieht man das faschistische „Siegesdenkmal“

Andreas Hofer-Bund (AHB) in Trient: Kundgebung für ein vereintes Tirol

Am 100. Jahrestag der Annexion Südtirols fand auch auf dem Domplatz von Trient eine Kundgebung des „Andreas Hofer-Bundes“ für die Tiroler Landeseinheit statt.

Unter den Augen der Carabiniere waren zahlreiche Tiroler und österreichische Fahnen zu sehen, die Musikkapelle intonierte die Tiroler Landeshymne und die alte österreichische Kaiserhymne. Für den 100. Jahrestag wurde eigens eine Dornenkrone aus Edelstahl angefertigt – als Symbol der Trauer und des Schmerzes, als Symbol der römischen Fremdherrschaft!

Der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) wurde durch dessen Obmannstellvertreter Meinrad Berger vertreten.

Der Obmann Alois Wechselberger vom „Andreas Hofer-Bund Tirol“ sagte unter anderem: „..das alte kaiserliche Österreich gibt es nicht mehr, aber es gibt uns Tiroler deutscher, walscher und ladinischer Zunge. Wir sind gemeinsam Tirol … Ich glaube an Euch, helft uns unserer Heimat zu vereinen und gemeinsam aufzubauen.“

Meinrad Berger bei seiner Ansprache und Kundgebungsteilnehmer in Trient mit der österreichischen Staatsflagge
Meinrad Berger bei seiner Ansprache und Kundgebungsteilnehmer in Trient mit der österreichischen Staatsflagge

Das diesjährige Gedenken an die Landesteilung vor 100 Jahren hat öffentlich gemacht, dass für die derzeitigen Landeshauptleute Nord- und Südtirols das Thema Selbstbestimmung unangenehm ist. Sie wollen sich hier in keine Pflicht nehmen lassen und flüchten sich in leeres Geschwätz über die ebenso leere „Europaregion Tirol“, die dann auch „Euregio“ genannt wird, weil das bedeutungsschwerer klingt.

Zahlreiche Landsleute sehen die Sache aber anders und äußern sich klar und eindeutig. In Südtirol haben die Tageszeitung „Dolomiten“ und die Sonntagszeitung „Z“ in demokratischer Weise der öffentlichen Erörterung sowohl in der Berichterstattung wie auch auf den Leserbriefseiten den von der Bevölkerung gewünschten Raum gegeben.

Zahlreiche österreichische und insbesondere Nordtiroler Medien sollten sich an diesem Verhalten ein Beispiel nehmen. Demokratie zeichnet sich nicht durch ständige mediale Belehrung der Bevölkerung von oben her aus, sondern durch freie öffentliche Diskussion innerhalb des gesetzlichen Rahmens.




Die unglaubliche Leidensgeschichte einer Südtiroler Familie

Der sozial engagierte Südtiroler Historiker Günther Rauch war langjähriger Vorsitzender des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes in Südtirol und verfasste zahlreiche Forschungsarbeiten und Aufsätze über die Südtiroler Sozial- und Arbeiterbewegung. Als Historiker vermittelt er neue Zugänge zur Zeitgeschichte Südtirols durch Erforschung neuer historischer Quellen.

Damit bereichert er die Geschichtsschreibung um neue Fakten und Einblicke. Die kommentierende politische Belehrung der Leser von oben herab – das ist nicht seine Sache. Er lässt Tatsachen sprechen.

Bereits 2018 war seine Dokumentation „Italiens vergessenes Konzentrationslager Campo d’Isarco“ erschienen, 1919 gefolgt von der Dokumentation „KZ Campo d’Isarco: Tagebuch eines Wachsoldaten“. (Herausgeber „Südtiroler Heimatbund“ und „Verein Südtiroler Geschichte“, info@suedtiroler-freiheitskampf.net)

Nun liegt sein neuestes Werk vor, welches gleichzeitig fesselt und erschüttert.

Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete darüber am 22. September 2020:

Am 23. Oktober 2020 wurde das Buch im Kultursaal St. Michael/Eppan vorgestellt. Aus Österreich war der ehemalige Bundeskanzler Dr. Alfred Gusenbauer erschienen, welcher als alter Freund des Verfassers ein Vorwort zu dem Buch geschrieben hatte und nun Begrüßungsworte sprach. Auch der Südtiroler Altlandeshauptmann Dr. Luis Durnwalder war zur Buchvorstellung gekommen.

Links: Altbundeskanzler Dr. Gusenbauer bei seiner Begrüßungsansprache. Rechts: Der Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB), Roland Lang (Bildmitte), sprach nach der Veranstaltung mit dem Altlandeshauptmann Dr. Durnwalder (links) und dem Altbundeskanzler Dr. Gusenbauer (rechts) und übergab Begrüßungsgeschenke.

In seinem jüngsten Werk gibt Günther Rauch neben einer wissenschaftlich tiefgreifenden historischen Darstellung anhand bislang kaum bekannter Dokumente und Briefe einer betroffenen und vielfach verfolgten Familie einen unmittelbaren Einblick in das tragische Geschehen in Südtirol seit der Landesteilung von 1920. Der Leser, welchem die Geschichte bisher eher abstrakt bekannt gewesen war, sieht sich nun unmittelbar mit einem dramatischen Geschehen konfrontiert, so als ob er dieses selbst miterlebe.

Das Internetportal „Unser Tirol24“ berichtete dazu am 21. September 2020:

„Rauch zeichnet anhand des ungleichen und erschütternden Lebensweges der Geschwister Valentinotti aus Bozen die schweren Wunden nach, welche zwei Weltkriege und Diktaturen im südlichen Alpenland aufgerissen haben. Zwei der sechs Geschwister Valentinotti ist Schreckliches widerfahren. Davon erfuhren der älteste und jüngste Bruder Karl und Fritz Valentinotti.

Karl, ein hochdekorierter Kaiserjäger, wurde seit 1923 von der italienischen Geheimpolizei als „subversiver Pangermanist“ verfolgt. Fritz war Betriebsmanager einer großen Lodenfabrik in Innsbruck. In einen dramatischen Brief an seine Cousine Mariele Walcher-Dibiasi in Bozen schreibt Fritz: ‚Wie Gott will, wir müssen alles ertragen und aushalten … Jetzt heißt es, die ganzen Kräfte zusammenzuhalten, damit wir die Sache durchstehen. Die Nerven sind halt alle sehr angegriffen.‘

Ihr Bruder Stefan, ein Russland-Spätheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg und viele Jahre Steuerbeamter in Eppan, überzeugter Mussolini- und Hitlergegner und leidenschaftlicher Befürworter eines „Freistaates Südtirol“ wurde er 1944 vom NS-Volksgerichtshof in Potsdam zum Tode verurteilt und in Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil hingerichtet. Wenige Tage vor seiner Hinrichtung hatte er erfahren, dass seine Schwester Maria in Sappada (Plodn in Friaul-Julisch Venetien) von italienischen, stalinistisch-kommunistisch gesinnten Partisanen misshandelt und ermordet worden war.“

Der Athesia-Verlag, in welchem das Buch erschienen ist, schreibt über das Werk:

Lautlose Opfer – Eine Familie im Kreuzfeuer faschistischer und nationalsozialistischer Willkür.

Die unglaubliche Leidensgeschichte der Geschwister Valentinotti (1918–1945)

Vieles, was zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg an historischen Fakten und Entsetzlichem geschehen ist, wurde in den letzten Jahren durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen allgemein und dauerhaft zugänglich gemacht. Dennoch blieb und bleibt noch vieles im Verborgenen. Viele dunkle und schmerzliche Kapitel der Zerreißung Tirols, die Hatz gegen alles Österreichische, die seit 1918 geplante Ausrottung der Südtiroler Volkskultur, Option und Aussiedlung der Südtiroler und andere faschistische und hakenkreuzlerische, aber auch rotgardistische Verbrechen hat man verklärt oder ausgeblendet.

Günther Rauch, einer der besten Kenner der schwarzen und braunen Jahre in Südtirol, zeichnet anhand des ungleichen und erschütternden Lebensweges der Geschwister Valentinotti aus Bozen die schweren Wunden nach, welche zwei Weltkriege und Diktaturen im südlichen Alpenland aufgerissen haben. Vier der sechs Geschwister Valentinotti ist Schreckliches widerfahren. Davon erfuhr auch der jüngste Bruder Fritz Valentinotti, Betriebsmanager einer großen Lodenfabrik in Innsbruck. In einen dramatischen Brief an seine Cousine Mariele Walcher-Dibiasi in Bozen schreibt er: ‚Wie Gott will, wir müssen alles ertragen und aushalten … Jetzt heiß es, die ganzen Kräfte zusammenzuhalten, damit wir die Sache durchstehen. Die Nerven sind halt alle sehr angegriffen.‘

Karl Valentinotti, Kaiserjäger und ältester Bruder, wurde als Handelsagent von den Schwarzhemden seit 1923 in einer Proskriptionsliste von rund 500 „subversiven pangermanistischen Elementen“ festgehalten und von den italienischen Geheimdiensten ständig beschattet. Maria und Stefan Valentinotti wurden 1944 wegen ihres Südtirolerseins von unterschiedlich kolorierter Mörderhand gequält und ermordet. Midi wurde von stalinistisch-kommunistischen Partisanen geschändet und auf einem Kartoffelacker in Zopodn (Cima Sappada) unter dem Gesang „Bandiera Rossa“ erschossen. Ihr Bruder Stefan, ein Rußland-Spätheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, überzeugter Hitler- und Mussolinigegner und leidenschaftlicher Befürworter eines ‚Freistaates Südtirol‘, erfuhr davon im faschistischen Zuchthaus von Brandenburg-Görden in einem Schreiben seiner Ehefrau wenige Tage vor seiner Hinrichtung mit dem Fallbeil durch die Nationalsozialisten. Seine letzten Worte vor seinem Tod waren: ‚… ich hoffe, dass unser Tun und Schaffen durch so viele Jahre hindurch in unserer Heimat, für das Deutschtum nicht umsonst gewesen ist.‘

Das auf jahrelangen Recherchen und wahren Begebenheiten beruhende Buch gibt auch einen einmaligen und lebensnahen Einblick in die Tragödien, die sich in Tirol und Europa von 1914 bis 1945 vollzogen haben. Die Folgen zeigen sich noch heute.“

ISBN: 978-88-6839-509-4
Seiten: 368, fester Einband, Format: 150 x 225 mm
Preis: 29,90 Euro

Das fesselnde Buch ist erhältlich im Athesia-Verlag

 




100 Jahren geteiltes Tirol: Einheitsfreude und Trennungsschmerz

Einen besonderen Beitrag zu diesem Gedenken hat der Historiker und Publizist Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

Anno 2020 erinnert an die Wiedervereinigung Deutschlands 1990, das Trianon-Trauma Ungarns, den Erhalt der Landeseinheit  Kärntens sowie die Annexion des südlichen Tirol durch Italien

 von Reinhard Olt

Der Oktober 2020 zwingt zur Vergewisserung bedeutender Ereignisse, die auf das engste miteinander korrespondieren. Wenngleich nicht auf den ersten Blick zu erkennen, so besteht zwischen der Erinnerung an 30 Jahre Vereinigung der beiden deutschen Rumpfstaaten BRD und DDR, an 100 Jahre Kelsen-Verfassung für Österreich, an 100 Jahre Volksabstimmung in Kärnten, an die territoriale Kastration Ungarns sowie an die formelle Annexion des südlichen Teils des einstigen Kronlandes Tirol durch Italien eine – wenn auch kontrastive, so doch – innere Verbindung.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war die glückliche Antwort auf die seit 1945 stets im politischen Raum stehende „Deutsche Frage“. Möglich wurde die deutsche Einheit durch  Erosion und Auflösung des Ostblocks zufolge der Implosion des sowjetkommunistisch-moskowitischen sowie des titoistisch-balkankommunistischen Herrschaftssystems und der zwischen Usedom (Mecklenburg-Vorpommern) und Eichsfeld (Thüringen) raumgreifenden „Abstimmung mit den Füßen“.

Die von dem bedeutenden Völker- und Staatsrechtler Hans Kelsen entworfene  Bundesverfassung, auf die Österreich(er) zurecht stolz ist (sind), manifestierte die Ablösung des über Jahrhunderte bestimmenden monarchischen Herrschaftsprinzips durch den republikanisch-demokratischen Rechtsstaat. Sie markiert(e) damit aber auch die Reduktion des einstigen Staatsgebiets infolge der für die Verlierer des Ersten Weltkriegs in den 1919/1920 unterzeichneten Pariser „Vorortverträgen“ von den Siegermächten, insbesondere von Frankreich, „friedensvertraglich“ diktierten territorialen und materiellen Verluste.

Postkarte aus dem Jahre 1920

Kärnten, wo die Siegermächte auf amerikanischen Druck hin am 10. Oktober 1920 eine Volksabstimmung erlaubt hatten, entging – maßgeblich zufolge des mehrheitlichen Votums der slowenischen Minderheit Südkärntens für Verbleib bei Österreich – der vom jugoslawischen SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) verlangten Landesteilung. Ohne Volksabstimmung wurden hingegen per Vertrag von Saint-Germain-en-Laye (1919) das Mießtal dem SHS-Staat sowie das Kanaltal Italien übereignet.

Die Teilung Tirols

Von dem, was nach kriegsbedingter Auflösung des vormaligen österreichisch-ungarischen Imperiums durch die Herausbildung neuer Nationalstaaten an territorialer Substanz für die zunächst an ihrer Existenzfähigkeit zweifelnde Republik (Deutsch-)Österreich verblieb, war die erzwungene Abtretung Südtirols (mitsamt Welschtirol/Trentino) an Italien zweifellos das für das kollektive Bewusstsein der ohnedies notleidenden Bevölkerung einschneidendste Ereignis.

Das Zerreißen Tirols, die formelle Annexion des südlichen Landesteils am 10. Oktober 1920, kontrapunktorisch und deklarativ just am Tag der Kärntner Volksabstimmung vollzogen, ist und bleibt, wie der in nämlichem Jahr am 4. Juni im Friedensdiktat von Trianon bestimmte Verlust Ungarns von zwei Dritteln (sic!) des Territoriums, eine Wunde, die nicht verheilen kann – denn damit sind nicht nur Menschen- und Selbstbestimmungsrechte verletzt worden, sondern Völker und Seelen.

„Bella Italia“, das von alters her die Sehnsüchte sonnenhungriger nördlicher Hemisphärenbewohner beflügelnde „Land, wo die Zitronen blühen“ (Goethe), muss sich all seinen heutigen beschönigenden und begütigenden politischen Parolen zum Trotz gefallen lassen, nicht allein von historisch bewussten Betrachtern der „Südtirol-Causa“ als hinterhältiger, sich verstellender politischer Akteur eingestuft zu werden. Schon Bismarck ließ mit seiner Bemerkung nach der quasi parallel vollzogenen Einigung Italiens, die ja erst mit der „Presa di Roma“, der Einnahme der Ewigen Stadt 1870, vollendet war, und der maßgeblich von ihm herbeigeführten Reichsgründung 1870/71 aufhorchen, im Gegensatz zum „satten“ (saturierten) preußisch-deutschen Kaiserreich sei das sardinisch-toskanisch-sizilianische Königreich Italien ein „hungriger“ Staat. „Italien hat einen großen Appetit, aber sehr schlechte Zähne“, bemerkte der Reichskanzler über seinen damaligen Verbündeten.

„Großer Appetit, schlechte Zähne“

Vielfach lieferte Italien hernach Beweise für Bismarcks abfälliges Diktum. Um seinen nationalromantisch verbrämten, quasi der Idee des „Imperium Romanum“ verschriebenen und von „sacro egoismo“ („heiligem Eigennutz“) getriebenen „Hunger“ nach territorialer Ausweitung am adriatischen Gegenufer, in Nord(ost)afrika sowie nicht zuletzt entlang der alpinen Wasserscheide zu stillen und stets zielgerichtet auf „Siegesspur“ und Sieger-Seite zu sein, wechselte es nach Belieben die Fronten.

Südtirol war das kontinentale „Tortenstück“ dieses dem Macht- und Landhunger geschuldeten Seitenwechsels von 1915. Das Gebiet zwischen dem heutigen Salurn und dem Brenner-Pass rundete das Risorgimento-Begehr Welschtirol / Trentino, zuvor Bestandteil Gesamttirols, nach Norden hin bis zur stets von den italienischen Nationalisten eingeforderten Grenzziehung an der Wasserscheide ab. Dafür hatte die Königlich Geographische Gesellschaft, der auch jener Deutschenhasser Ettore Tolomei angehörte, der mit der von faschistischen Gewalttaten auch in Bozen begleiteten Machtübernahme ab 1922 Mussolini als Entnationalisierungsfanatiker im südlichen Tirol (kultur)geschichtsfälschend dienstbar war,  das geophysikalische Rüstzeug geliefert.

Der Deutschenhasser und Faschist Ettore Tolomei war der Erfinder der meisten italienischen Namen für deutsche und ladinische Orte in Südtirol. Hier sehen wir seinen faschistischen Parteiausweis.

Nichts von dem, was der einstige Ministerpräsident Luigi Luzzatti nach der Unterzeichnung des Friedensdiktats von St.Germain (10. September 1919) im römischen Parlament sagte – „Es muß eine Ehrenpflicht für die Regierung und für das Parlament sein, den Deutschen, die nur wegen der absoluten Notwendigkeit,  unsere Grenzen verteidigen zu können, angegliedert wurden, ihre autonomen Einrichtungen zu bewilligen“ – wurde zugestanden. Im Gegenteil: selbst die trientinischen (Welsch-)Tiroler Reichsratsabgeordneten Enrico Conci und Alcide DeGasperi – er sollte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als den Südtirolern wiederum die Selbstbestimmung verweigert wurde, abermals eine verhängnisvolle Rolle spielen – schlugen Töne an, welche sich nicht im geringsten von jenen der Schwarzhemden unterschieden. So schrieb DeGasperi in einem Artikel unter dem Titel „Tirolo addio“, der am 4.12.1918 in der von ihm herausgegebenen Zeitung „Il Nuovo Trentino“ erschien: „Tiroler, euer Leben war unser Tod, nun wird unser Leben euer Tod sein.“

 Der faschistische Furor

 Mit dem ersten von faschistischen Schlägertrupps am 24. April 1921 in Bozen Getöteten, dem Marlinger Lehrer Franz Innerhofer, nahm die Knechtschaft  der Südtiroler ihren Lauf.

Der von Faschisten getötete Lehrer Franz Innerhofer und eine Gedenktafel in Innsbruck
Der von Faschisten getötete Lehrer Franz Innerhofer und eine Gedenktafel in Innsbruck

Benachteiligung, Erniedrigung, Drohungen, Gewalt, Folter, Mord waren sozusagen an der Tagesordnung. Geschichtsfälschungen und die Italianisierung von Vor- und Familiennamen (bis hin zu jenen auf Grabsteinen) sowie von Orts- und Flurnamen, Verbot öffentlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, verbunden mit der massenhaften Ansiedlung von ethnischen Italienern in den eigens aus dem Boden gestampften Industrie- und Gewerbezonen, mit der Zerschlagung von Vereinen und Verbänden mittels Verbots sowie der Installation rein italienischer Strukturen, dem Ersatz gewählter Ortsvorsteher durch faschistische Amtsbürgermeister, dem Austausch des für Sicherheit und Ordnung zuständigen Personals sowie der Kujonierung von Medien und Kultureinrichtungen, schließlich der Errichtung des unsäglichen „Siegesdenkmals“ und vielem mehr hatten zum Ziel, den südlichen Teil Tirols in eine rein italienische Provinz zu verwandeln.

Die feierliche Einweihung des „Siegesdenkmals“ in Bozen, dessen Säulen als faschistische Liktorenbündel gestaltet sind, im Jahre 1928.

Am rigorosesten wütete der faschistische Umerziehungsfuror an den Schulen. In einer höchst ansprechenden, sachkundigen Dokumentation, die der Verein Südtiroler Geschichte zusammenstellte und soeben im effekt!-Verlag (Neumarkt/Etsch) erschien (http://effekt-shop.it/shop/buecher/die-deutschen-brauchen-keine-schulen/ ) ist luzide veranschaulicht, was unter der bereits ein Jahr nach der Einverleibung Südtirols in den italienischen Staatsverband vom damaligen italienischen Vizepräfekten der Provinz Bozen, Giuseppe Bolis, getätigten Aussage zu verstehen gewesenen Richtlinie des faschistischen Erziehungswesens gemeint war: „Die Deutschen brauchen keine Schulen, und wir brauchen auch keine Deutschen“.

Als sich alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“, gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, als fruchtlos erwiesen, zwangen die „Achsenpartner“ Mussolini und Hitler die Südtiroler in einem perfiden Optionsabkommen, sich entweder für das Deutsche Reich zu entscheiden und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen Italianità anheim zu fallen. Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung. 1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab, woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft zugunsten der Südtiroler verständigten, die Bestandteil des Friedensvertrags mit Italien wurde.

Das Gruber-DeGasperi-Abkommen vom 5. September 1946 sah die politische Selbstverwaltung vor, und im Kulturellen wurden muttersprachlicher Unterricht sowie die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens garantiert. In Südtirol selbst taten italienische Partisanen und Insurgenten alles, um das Gebiet, das nach der Absetzung Mussolinis 1943 als faktisch unter der Suprematie des Obersten Kommissars der „Operationszone Alpenvorland“ und Gauleiter von Vorarlberg-Tirol Franz Hofer stand, quasi der „Riconquista italiana“ den Weg zu bereiten. Der Publizist Helmut Golowitsch hat soeben minutiös dokumentiert, wie diese Insurgenten im Zusammenwirken mit weiterbestehenden Behörden und Carabinieri der Repubblica di Salò, dem verbliebenen Refugium Mussolinis unter militärischer Protektion von Wehrmacht und SS, alles daransetzten, die Südtirol-Frage auf ihre Art und Weise ein für allemal zugunsten des Umfallers und Kriegsgewinnlers Italien zu lösen. Viele der Übergriffe geschahen unter der Verschwiegenheit der neuen politischen Oberschicht Südtirols sowie der Alliierten. (Helmut Golowitsch: „Repression. Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde“, Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2020, ISBN-9788897053682, http://repression.effekt.tirol/)

Lieferbar ab November 2020
Lieferbar ab November 2020

Der Trick des Trientiners DeGasperi

 Zwar erließ Rom dann 1948 das vorgesehene Autonomie-Statut und deklarierte es – wie zwischen Vertragspartnern und Siegermächten verabredet – zum Bestandteil der italienischen Verfassung. Allerdings wurde die Provinz Bozen-Südtirol mit der Nachbarprovinz Trient in einer Region („Trentino – Alto Adige“) zusammengefasst. Dieser Trick des verschlagenen Trientiners DeGasperi führte die Majorisierung der deutschen und der ladinischen Volksgruppe durch die italienische herbei, die im Trentino absolut dominant war.

In der Öffentlichkeit präsentierte sich DeGasperi gerne als frommer betender Christ.
In der Öffentlichkeit präsentierte sich DeGasperi gerne als frommer betender Christ.

Dagegen und gegen die vom „demokratischen Italien“ ungebrochen fortgeführte Ansiedlung weiterer Italiener in ihrer Heimat protestierten die Südtiroler 1957 unter der Parole „Los von Trient“. Mit Anschlägen auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen machte der „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) die Welt auf die verweigerte Selbstbestimmung und die uneingelösten vertraglichen Zusicherungen Roms aufmerksam. 1960 trug der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky den Konflikt vor die Vereinten Nationen, und da Italien trotz zweier UN-Resolutionen nicht einlenkte, erreichten die Anschläge im Sommer 1961 ihren Höhepunkt. Rom verlegte 22.000 Soldaten sowie Carabinieri in den Norden und stellte das Land unter Ausnahmerecht mit all den damit verbundenen rigorosen Gewaltmaßnahmen gegen die Bevölkerung, insbesondere das Foltern von inhaftierten BAS-Aktivisten.

Die Anschläge - vor allem gegen Hochspannungsmasten - erregten internationales Aufsehen und erzwangen eine Verhandlungsbereitschaft Italiens, die zu dem heute geltenden Autonomiestatut führte.
Die Anschläge – vor allem gegen Hochspannungsmasten – erregten internationales Aufsehen und erzwangen eine Verhandlungsbereitschaft Italiens, die zu dem heute geltenden Autonomiestatut führte.

Südtirol rückte infolgedessen auch international in den Mittelpunkt des Weltgeschehens, woran sich heute außer der Erlebnisgeneration und Historikern kaum noch jemand erinnert.

„Paket“ und zweites Autonomiestatut

Nach unzähligen zähen Verhandlungsrunden zwischen Wien und Rom im Beisein von Vertretern beider Tirol einigte man sich auf die Entschärfung des Konflikts, indem man 137 Einzelmaßnahmen an einen „Operationskalender“ band – also an eine zeitliche Vorgabe für die Umsetzung – und in einer sogenannten „Paket-Lösung“ verschnürte. Bevor diese am 20. Januar 1972 als „Zweites Autonomiestatut“ in Kraft treten konnte, musste ihm die Südtiroler Volkspartei (SVP), die seit 1945 maßgebliche politische Kraft im Bozner Landhaus, zustimmen. Auf der SVP-„Landesversammlung“ in der Kurstadt Meran kam 1969  eine knappe Mehrheit dafür zustande.

Es sollte weitere zwanzig Jahre und ungezählte Verhandlungen im Reigen stets wechselnder italienischer Regierungen in Anspruch nehmen, die wesentlichen Bestimmungen über die Selbstverwaltung umzusetzen sowie die annähernde Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache im öffentlichen Leben sowie die Stellenbesetzung gemäß ethnischem Proporz zu verwirklichen. Erst 1992 konnte das „Paket“ für erfüllt und am 11. Juni der Südtirol-Konflikt durch Abgabe der „Streitbeilegungserklärung“ vor den Vereinten Nationen formell für beendet erklärt werden. Zuvor hatte der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti im römischen Parlament sowie mittels eines Briefes nach Wien die Zusicherung gegeben, dass Änderungen daran nur mit Zustimmung der Südtiroler vorgenommen werden dürften.

Ohne Perspektive

Letzteres ist seitdem vielfach nicht eingehalten oder im Sinne der von Rom in Anspruch genommenen zentralstaatlichen „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) stark verwässert worden. Die SVP fand sich immer öfter bereit, von Rom dekretierte Änderungen an Substanz und Charakter des Statuts letztlich in „kompromisslerische“ Reduktionsforme(l)n zu kleiden. Sie nahm diese Änderungen  hin, um den Anschein von „Convivenza/Zusammenleben“ aufrecht zu erhalten sowie die von ihr ebenso wie von den jeweils in Rom Regierenden verabsolutierte, angeblich „beste Autonomie der Welt“ nach innen wie außen als „modellhaft“ anzupreisen. Und nicht zuletzt auch, um möglichst die  ihr insbesondere seit den 1980er Jahren zugewachsene politisch-ökonomische  Macht zu erhalten, von deren  ökonomisch-finanziellen wie sozialen Pfründen das Gros ihrer in Gemeinden,  Provinz und Region wirkenden Funktionsträger profitiert.

Von der „Autonomie-Partei“ SVP, deren geduldiger, langwieriger, mitunter bis zur Selbstverleugnung reichendes politisches Wirken für ein erträgliche(re)s Dasein der Südtiroler, zuvorderst für eine prosperierende Wirtschaft und eine geordnete Verwaltung, die den Zuständen in Italien hohnspricht, nicht gering geschätzt werden soll, ist daher insbesondere unter ihrer gegenwärtigen Führung nicht zu erwarten, dass sie je an eine Änderung des Status quo auch nur denkt oder gar einen „Plan B“ in die Schublade legte, um für Eventualitäten gerüstet zu sein. Demgegenüber  weisen alle austro-patriotischen Kräfte beidseits des Alpenhauptkamms und von Vorarlberg bis ins Burgenland völlig zurecht darauf hin, dass in sämtlichen Befunden aus mehreren demoskopischen Erhebungen der letzten Jahre – sowohl in Südtirol, als auch in Österreich selbst – klar zutage tritt, dass sich die weit überwiegende Mehrheit der Befragten stets für die Beseitigung bzw. Überwindung des Teilungszustands ausgesprochen hat.

Dr. Toni Ebner, Chefredakteur der Tageszeitung „Dolomiten“, nahm am 10. Oktober 2020 zu diesem Thema im ORF Stellung und sagte: „Die klassische Frage ‚Selbstbestimmung für Südtirol – wollt ihr zurück zu Österreich‘, hängt von den Umständen ab. Wenn die Umstände so sind, dass die italienische Regierung die Südtiroler drangsaliert, das hat es ja immer wieder gegeben, und Probleme schafft, dann glaube ich, dass eine Mehrheit in Südtirol für eine Rückkehr nach Österreich zustande kommt.“

(Dr. Toni Ebner in der ORF-Dokumentarsendung „100 Jahre Südtirol – Zerrissen zwischen den Mächten“ von Brigit Mosser-Schuöcker)

„100 Jahre Unrecht machen keinen Tag Recht“

Es kann daher nicht verwundern, dass sich Tiroler im Zusammenhang mit dem deutschen Staatsfeiertag  (3. Oktober) zur Erinnerung an die Wiedervereinigung 1990 die Frage stellen, was „das Bundesland Tirol, die Autonome Provinz Bozen-Südtirol und die Republik Österreich zur Vereinigung Süd-, Ost- und Nordtirols unternehmen“. Dabei wissen die derart Fragenden von vornherein, was sie, wenn überhaupt, aus Wien, Innsbruck und Bozen gegebenenfalls zur Antwort erhalten, nämlich dass „die einst trennenden Grenzen seit dem EU-Beitritt Österreichs nicht mehr wahrnehmbar, ja sogar überwunden“ seien und sich die „Landeseinheit durch EUropäisierung verwirklichen“ lasse, was institutionell bereits in der „Euregio Tirol Südtirol Trentino“ bzw. dem „Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit“ (EVTZ) seinen Ausdruck finde. Kollektiverfahrungen im Zusammenhang mit Grenzschließungen wegen der Abwehr des Flüchtlingszustroms respektive mit Grenzkontrollen aufgrund der Corona-Pandemie strafen derartige politische Beschönigungen ebenso Lügen wie der Blick auf die unverkennbare Renationalisierung der Staatengemeinschaft EU, deren Monstrosität, Entscheidungsschwäche  und Kraftlosigkeit als internationaler Akteur.

Vereinigungen wie Schützen (SSB), Heimatbund (SHB) und deutschtiroler Landtagsopposition halten indes daran fest, immer wieder – und in diesem Gedenk-Herbst umso mehr – das völkerrechtswidrige Zerreißen Tirols und die stete Verweigerung der Selbstbestimmung ins Gedächtnis zu rufen. Beispielhaft und aller Ehren wert sind in diesem Zusammenhang das „Kenntlichmachen der Mitte Tirols“ durch einen geweihten Markierungsstein, den der Schützenbezirk Brixen in unmittelbarer Nähe des Schutzhauses „Latzfonser Kreuz“ im Gebirge auf Gemeindegebiet von Klausen errichtete, sowie die von Trient bis Wien organisierte Plakataktion des SHB unter der Losung „100 Jahre Unrecht schaffen keinen Tag Recht“.

Plakat des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB) in Bozen, im Hintergrund das faschistische „Siegesdenkmal“
Plakat des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB) in Bozen, im Hintergrund das faschistische „Siegesdenkmal“

Zur Person des Verfassers:

Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war 27 Jahre politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) und von 1994 bis 2012 deren Korrespondent in Wien für Österreich, Ungarn, Slowenien, zeitweise auch für die Slowakei.

Daneben nahm er Lehraufträge an deutschen, österreichischen und ungarischen Hochschulen wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medienpreis des Bundes der Vertriebenen (BdV). 2003 zeichnete ihn der österreichische Bundeskanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der österreichische Bundespräsident verlieh ihm den Professoren-Titel. 2004 wurde er mit dem Otto-von-Habsburg-Journalistenpreis für Minderheitenschutz und kulturelle Vielfalt geehrt und ihm das Goldene Ehrenzeichen der Steiermark verliehen. 2012 promovierte ihn die Eötvös-Loránt-Universität in Budapest zum Ehrendoktor (Dr. h.c.), verbunden mit der Ernennung zum Professor, und 2013 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

Im Jahre 2017 erschien das reich bebilderte und spannend zu lesende Dokumentarwerk: Reinhard Olt: „Standhaft im Gegenwind. Der Südtiroler Schützenbund und sein Wirken für Tirol als Ganzes“

Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2017, 364 Seiten, Hardcover, Format 260×235 mm, illustriert, ISBN 978-88-97053-39-2

Zur Bestellseite des Verlags: http://effekt-shop.it/shop/buecher/standhaft-im-gegenwind/




10. Oktober 1920: Südtirol abgetrennt und geknechtet

Nach der militärischen Besetzung des wehrlosen Landes im November 1918 hatte Rom umgehend begonnen, vollendete Tatsachen zu schaffen und Südtirol einen äußerlich italienischen Anstrich zu verpassen.

Die Entfernung des altösterreichischen Adlers von der Reichsbrücke in Meran

Die deutschen Ortsschilder wurden nun durch italienische mit den von dem Faschisten Tolomei erfundenen Namen ersetzt.

Aus Algund wurde „Lagundo“

Die Carabinieri schritten am 9. Mai 2020 ein, als auf dem „Gautag der katholischen Jugendvereine“ in Bozen kirchlich gesegnete Tiroler Fahnen im Festzug mitgeführt wurden. Dies musste die Zeitung „Der Tiroler“ am 11. Mai 2020 berichten.

Große Volkskundgebungen, auf denen die Selbstbestimmung oder zumindest eine Selbstverwaltung im Rahmen einer Autonomie gefordert wurden, blieben durch die römische Politik völlig unbeachtet.

Volkskundgebungen in Meran und Brixen

Die schrittweise Einverleibung Südtirols in den italienischen Staat hat der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB), eine von ehemaligen Freiheitskämpfern und politischen Häftlingen gegründete Vereinigung, welche für die Selbstbestimmung eintritt, in Zeitungsinseraten in den „Dolomiten“ und der „Zeitung am Sonntag“ eindrücklich dokumentiert:

Der Vollzug der Annexion am 10. Oktober 1920

Die deutsche Presse in Nord- und Südtirol berichtete am 10. Oktober 1920 voll Trauer über die an diesem Tage offiziell vorgenommene Zerreißung des Landes und veröffentlichte einen Aufruf der politischen Parteien, in welchem diese „die unerschütterliche Hoffnung“ und Zuversicht äußerten, dass einmal der Tag kommen werde, „an welchem uns Gerechtigkeit und weitschauende Politik die nationale Befreiung bringen“ werden.

„Tiroler Volksblatt“, Bozen, 10. Oktober 1920 - „Innsbrucker Nachrichten“ vom 9. Oktober 1920
„Tiroler Volksblatt“, Bozen, 10. Oktober 1920 – „Innsbrucker Nachrichten“ vom 9. Oktober 1920 (Klicken Sie zum Vergrößern der Dokumente auf das Bild)

Für Südtirol brach bald die schreckliche Zeit des Faschismus heran. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die Politik der Unterdrückung und der geförderten Zuwanderung aus dem Süden fortgesetzt werden.

Das Ziel war unverändert geblieben: Aus Südtirol kulturell und ethnisch ein mehrheitlich italienisches Land zu machen.

Erst der Widerstand der 1960er Jahre schuf auf politischer Ebene dringlichen Handlungsbedarf und führte letztendlich zu dem heutigen verbesserten Autonomiestatut.

Italien rühmt sich, dass die Einigung des Staates durch Volksabstimmungen in den betroffenen Regionen und Provinzen zustande gekommen sei. Das stimmt, bis auf zwei Ausnahmen:

Bis heute hat Rom nicht gewagt, Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit in Südtirol und in Welschtirol (dem heutigen „Trentino“) durchzuführen.




„Die Deutschen brauchen keine Schulen“

So lautet der Titel eines auf zeitgeschichtlichen Dokumenten beruhenden Dokumentarwerkes über die Geschichte des Schulwesens in Südtirol vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart.

Herausgegeben wurde die neue Publikation unter leitender Betreuung durch die Südtiroler Historikerin Dr. Margareth Lun vom Verein Südtiroler Geschichte und dessen Obmann Roland Lang.

Die Südtiroler Historikerin Dr. Margareth Lun und der Obmann des Vereins Südtiroler Geschichte, Roland Lang

Den Anstoß, ein solches Dokumentarwerk zu schaffen, bildete ein handgeschriebenes Schulbuch aus dem Jahr 1914, das dem Heimatforscher Karl Saxer zugekommen war. Es handelt sich um eine Sammlung von handgeschriebenen Texten von Schülern, die der damalige Lehrer, Organist und Chorleiter Josef Lechner in Buchform hat binden lassen und die ein einzigartiges Zeugnis der Schulkultur jener Zeit darstellen. Dieses bemerkenswerte Zeitdokument ist ausschnittweise in der vorliegenden Dokumentation wiedergegeben. Das Original befindet sich nun im Heimatmuseum Steinegg.

Titel des Schulbuches und Beginn eines Aufsatzes des Schülers Josef Weisensteiner (7. Schuljahr): „Die Entstehung des österreichischen Wappens. Das österreichische Wappenschild hat einen weißen Streifen auf rotem Feld. …“

Dieses alte Schulbuch hatte die Herausgeber und Mitarbeiter an dem vorliegenden neuen Dokumentarwerk dazu bewegt, die weitere Entwicklung der deutschen Schule in Südtirol in den darauf folgenden Jahrzehnten zu untersuchen und anhand von Dokumenten und Zeitzeugenschilderungen darzustellen.

„Die Deutschen brauchen keine Schulen und wir brauchen auch keine Deutschen!“ “

Diese Worte warf der damalige italienische Vizepräfekt Giuseppe Bolis einer Abordnung deutscher Eltern an den Kopf, die im Oktober 1923 von ihm Aufklärung über den geplanten Abbau der deutschen Volksschulen und deren Ersetzung durch italienische Schulen begehrten.

Aus „Innsbrucker Nachrichten“ vom 27. Oktober 1923

 Am 26. Oktober 1923 meldeten die „Bozner Nachrichten“, dass das regierungsamtliche Nachrichtenblatt „Gazzetta Ufficiale“ bekannt gegeben habe, dass ein neues „Volksschulen-Dekret“ der Regierung verfügt habe, dass in allen „Elementarschulen des Königreichs“ der Unterricht „in der Staatssprache erteilt“ werde.

Aus „Bozner Nachrichten“ vom 26. Oktober 1923

Am 3. November 1923 demonstrierten an die 600 deutsche Mütter aus dem Überetsch, dem Eisacktal und dem Etschtal vor dem Amtssitz des Vizepräfekten Giuseppe Bolis in Bozen für die Beibehaltung der deutschen Schule.

Auf dem Buchumschlag ist ein Foto dieser Demonstration abgebildet, welche von einem Bataillon (!) bewaffneter Polizisten beaufsichtigt wurde.

Diesen Frauen erklärte der Vizepräfekt, dass ihnen das Gefängnis oder die Verbannung auf eine süditalienische Insel drohe, sollten sie sich der italienischen Staatssprache und der italienischen Schule widersetzen.

Der Kampf um die deutsche Schule

„Der Kampf um die Beibehaltung der deutschen Schule und des Unterrichts in der Muttersprache sowie um die Loslösung von der Bevormundung und der Beeinflussung durch Kirche und Staat sollte eines der prägendsten Merkmale für ein ganzes Jahrhundert Südtiroler Schulgeschichte werden“, schreibt die Historikerin Dr. Margareth Lun in ihrem Vorwort zu diesem Buch.

Faschismus – Unterdrückung – „Katakombenschulen“

Noch vor der offiziellen Annexion Südtirols hatte der General-Zivilkommissär Luigi Credaro 1919 in das Südtiroler Schulwesen eingegriffen, die deutsche Volksschule in Laag in der Gemeinde Neumarkt aufgelöst und die Errichtung einer italienischen Schule verfügt.

Nun, unter der Herrschaft des Faschismus, ging es nicht mehr um einzelne lokale Eingriffe in das Schulwesen, sondern um die Beseitigung der deutschen Schulen im ganzen Land, die ohne Zaudern durchgeführt wurde.

 

Einer der vielen dokumentarischen Belege aus dem Buch: Ein nunmehr italienischsprachiges Schulzeugnis

Die deutschen Schulkinder wurden zwangsweise in die faschistische Jugendorganisation „Balilla“ eingegliedert und mussten an faschistischen Feiertagen die verhasste faschistische Uniform tragen und faschistische Kampflieder lernen.

Deutsche Schulkinder in Balilla-Uniform

In dieser Situation appellierten die Südtiroler Abgeordneten Eduard Reut-Nicolussi, Karl Tinzl, Wilhelm von Walther und Friedrich von Toggenburg in einem Aufruf an die deutschen und ladinischen Landsleute: „Jetzt gilt’s erst recht, deutsche Art und deutsches Wort für Kind und Enkel zu erhalten.“

In der Folge entstanden Notschulen im Untergrund, die sogenannten „Katakombenschulen“, in denen auf Bauerhöfen oder auch im Wald Kinder in der deutschen Sprache von aufopfernden und mutigen Lehrkräften unterrichtet wurden.

Geheimer Schulunterricht auf einem Bauernhof

Die dringend benötigten Schulbücher wurden unter anderem von jungen Freiwilligen in nicht ungefährlichen Märschen aus Nordtirol heimlich über die Jöcher des Alpenhauptkammes nach Südtirol gebracht.

Heimlicher Büchertransport über die Alpen

Das vorliegende Dokumentarwerk schildert anhand von Dokumenten und Erinnerungen von Zeitzeugen die damaligen tristen Verhältnisse.

In den staatlichen Schulen wurden die Kinder faschistisch indoktriniert. In italienischer Sprache wurde ihnen erklärt, welch großartiger Regierungschef der „Duce“ Mussolini sei.

Kinder, welche des Italienischen nicht mächtig waren, wurden von italienischen Lehrern geprügelt, wie die damalige Schülerin Eva Hatzis aus Olang der Historikerin Miriam Brunner zu berichten wusste:

„Die Lehrer zu dieser Zeit waren sehr brutal. Die haben die Kinder aus purem Privatvergnügen geschlagen.
Auch ich hatte eine Lehrerin, die am Morgen immer etwas auf Italienisch sagte, was wir zwangsläufig nicht verstehen konnten, und wenn niemand geantwortet hat, was sie von vornherein schon wusste, hat sie willkürlich einen Schüler an den Haaren zur Tafel geschleift und ihn dann dort verprügelt.
Wir waren alle eingeschüchtert bis aufs Letzte und sind auch nicht mehr gerne zur Schule gegangen. Man konnte sich auch nicht richtig verständigen. …
Die Lehrer, die uns unterrichtet haben, konnten alle gebrochen Deutsch und sie haben uns dann immer ausgehorcht, was wir zu Hause machen. Immer wieder ist es dann vorgekommen, dass sich einige Kinder verraten haben und dann die ‚fasci‘ (Anm.: Faschisten) zu ihnen nach Hause gekommen sind.“

Der ehemalige Lehrer und Bürgermeister der Gemeinde Kiens, Karl Pfeifhofer, berichtet am Beispiel seiner Gemeinde über die Katakombenschulen und liefert wertvolle Zeitzeugnisse.

Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es zahlreiche weitere Erlebnisberichte sowie zeitgenössische Fotos und Dokumente in Faksimile bietet. Der Leser taucht ein in eine vergangene Welt und nimmt teil an den schweren Erlebnissen der damaligen Zeit.

Der schwierige Wiederaufbau der deutschen Schule nach dem Zweiten Weltkrieg

Beeindruckend sind die Schilderungen, wie es trotz aller Schwierigkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gelang, das deutsche Schulwesen aufzubauen. Die Historikerin, Lehrerin und Politikerin Dr. Eva Klotz berichtet darüber anhand des Beispiels ihrer Mutter Rosa Klotz-Pöll, die als engagierte und mutige Lehrerin große Opfer gebracht hat.

Die opferbereite Lehrerin Rosa Klotz-Pöll

Der katholische Priester Josef Ferrari – ein Vorkämpfer für die Wiedererrichtung der deutschen Schule in Südtirol

In einem weiteren Beitrag stellt der Historiker Dr. Othmar Parteli das bedeutende Lebenswerk des heimattreu gesinnten Klerikers und ersten Schulamtsleiters Josef Ferrari dar. Dieser führte nach Kriegsende Verhandlungen mit den Amerikanern, um die deutsche Schule in Südtirol zu retten und um damit den deutschen Schülern den Unterricht in ihrer eigenen Muttersprache zu sichern, Er war maßgeblich am Aufbau und an der Qualität der deutschen Schule in Südtirol beteiligt.

Beiträge über aktuelle Schulfragen

Wer glaubt, dass alle Schulfragen heute politisch außer Streit stehen, der irrt. Es würde hier den Rahmen einer Buchbesprechung sprengen, dieses Thema ausführlich darzulegen. Dies kann jedoch in dem vorliegenden Dokumentarwerk nachgelesen werden.

Seit den 90er Jahren gibt es Geschichte- und Geografiebücher, die spezifisch auf Südtirol eingehen

In zwei Beiträgen beschreibt Dr. Margareth Lun den Wandel der Schule vom 2. Autonomiestatut bis heute und zeigt nach wie vor bestehende Probleme auf.

Die Mittelschullehrerin Mag. Verena Geier berichtet über das Thema „Schule und Südtirolkonvent“ sowie über die hitzigen Auseinandersetzungen über Sprachexperimente und die Beibehaltung des gesetzlich festgelegten Rechtes der Schüler auf muttersprachlichem Unterricht (Art. 19 des Autonomiestatuts).

Blick über die Landesgrenzen: „Verelsässerung: Wie eine Region von der Landkarte verschwindet“

Zwei Autoren zeigen auf, welche Bedeutung das Schulwesen in Zusammenhang mit dem Gebrauch der Muttersprache für das Weiterbestehen der Volkskultur und für das Überleben von Volksgruppen hat.

Der elsässische Sprachwissenschaftler Bernard Wittmann berichtet unter dem Titel „Verelsässerung: Wie eine Region von der Landkarte verschwindet“, über die Zerstörung der deutschen Schule im Elsass und welche Auswirkungen dies auf das Schicksal der deutschen Volksgruppe hatte. Die berichteten Zahlen geben darüber Aufschluss: Bei der Volkszählung von 1910 gaben 94 (!) Prozent der Elsässer Deutsch als Muttersprache an. Und heute, nur drei Generationen später, können nur noch fünf Prozent der Grundschüler Deutsch. Den Abschluss des Werkes bildet ein bedeutsamer Beitrag des Konsulenten für Internationale Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union, Dr. Johannes Ausserladscheiter. Er berichtet über die Bedeutung des Deutschen als Verkehrs- und Handelssprache seit dem 19. Jh. und erklärt mit Zahlen und Fakten die aktuelle Bedeutung der deutschen Sprache in Europa und in der Welt.

 Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Südtiroler Kulturgeschichte

Das Buch „Die Deutschen brauchen keine Schulen“ ist eine sehr interessante Tirolensie. Es ist eine fesselnde Reise durch 100 Jahre Südtiroler Schulgeschichte und damit ein wertvoller Beitrag zur Südtiroler Kulturgeschichte. Einmalig ist die Sammlung von Dokumenten, zeitgenössischen Fotos und Erlebnisberichten. Dem Werk ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Die Gestalter der Dokumentation

An der inhaltlichen Gestaltung dieses Buches haben erfahrene Bildungsexperten, Lehrer und Lehrerinnen mitgewirkt:

  • Johannes Ausserladscheiter (Unternehmer, Konsulent für Wirtschaftspolitik)
  • Miriam Brunner (Historikerin, Mittelschullehrerin)
  • Verena Geier (Mittelschullehrerin)
  • Eva Klotz (Historikerin, Lehrerin, Politikerin)
  • Cristian Kollmann (Sprachwissenschaftler)
  • Roland Lang (Obmann des Vereins Südtiroler Geschichte)
  • Margareth Lun (Historikerin, ehemalige Mittelschullehrerin, Museumsleiterin)
  • Efrem Oberlechner (Geometer, Berufsschullehrer)
  • Othmar Parteli (Historiker und ehemaliger Direktor des Amtes für deutsche Kultur und Direktor der Abteilung Museen)
  • Karl Pfeifhofer (Lehrer, ehem. Bürgermeister)
  • Günther Rauch (Publizist)
  • Karl Saxer (Heimatforscher)
  • Elmar Thaler (Unternehmer, Publizist)
  • Bernhard Wittmann (Historiker aus dem Elsass)

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„Die Deutschen brauchen keine Schulen“

Herausgeber: Verein Südtiroler Geschichte
Verlag: Effekt! Buch, Neumarkt
September 2020
ISBN 9788897053699
Gesamtbetreuung: Margareth Lun

Hier kann das Buch für 24,90 Euro direkt beim Verlag bestellt werden: www.effekt-shop.it/shop/buecher/die-deutschen-brauchen-keine-schulen/




Die Entstehung und Entwicklung des Faschismus

Ende Juni 2020 stellte die Oppositionspartei „Süd-Tiroler Freiheit“ (STF) einen Beschlussantrag, „die Entfernung der faschistischen Relikte in Südtirol zu fordern“.

Man wird sehen, wie der Landtag im Herbst darüber befinden wird, darf sich aber wohl nicht zu viel davon erhoffen.

Bilder aus der Zeitschrift „Tiroler Stimmen 02/2020“ der „Süd-Tiroler Freiheit“. Das linke Bild zeigt eine der vom Faschismus in der Nähe der Grenze zu Österreich errichteten „Totenburgen“, in welche man von allen Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkrieges zusammen getragene Gebeine von Gefallenen eingemauert hat. Die Toten halten nun für Rom Wacht an der neuen „heiligen Grenze“. Das mittlere Bild zeigt das faschistische „Siegesdenkmal in Bozen“, dessen Säulen aus Liktorenbündeln bestehen, welche das Symbol der Faschistischen Partei waren. Das rechte Bild zeigt den Alpini-Kopf des Denkmals in Bruneck zur Erinnerung an den faschistischen Eroberungskrieg in Abessinien.
Bilder aus der Zeitschrift „Tiroler Stimmen 02/2020“ der „Süd-Tiroler Freiheit“. Das linke Bild zeigt eine der vom Faschismus in der Nähe der Grenze zu Österreich errichteten „Totenburgen“, in welche man von allen Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkrieges zusammen getragene Gebeine von Gefallenen eingemauert hat. Die Toten halten nun für Rom Wacht an der neuen „heiligen Grenze“. Das mittlere Bild zeigt das faschistische „Siegesdenkmal in Bozen“, dessen Säulen aus Liktorenbündeln bestehen, welche das Symbol der Faschistischen Partei waren. Das rechte Bild zeigt den Alpini-Kopf des Denkmals in Bruneck zur Erinnerung an den faschistischen Eroberungskrieg in Abessinien.

Am Gerichtsplatz in Bozen wurde 1943 ein 95 Tonnen schweres Propaganda-Denkmal für den „Duce“ installiert, der wenig später schmählich unterging. Man sieht auf der Reliefplatte Mussolini hoch zu Roß mit seinem Faschistengruß und darunter steht sein Leitspruch: „Credere, obbedire, combattere“ („Glauben, gehorchen, kämpfen“). Dieses Relief sollte den Aufstieg des faschistischen Italiens darstellen und die Unterwerfung Abessiniens und Libyens verherrlichen. Man stelle sich vor, in Deutschland oder Österreich würde heute noch auf einem großen Stadtplatz Adolf Hitler die Bevölkerung mit steinernem Gruß beehren. Die weltweite Empörung würde die Entfernung erzwingen. „Bella Italia“ aber sieht man offenbar Vieles nach.Für den SID ist dieser Antrag der „Süd-Tiroler Freiheit“ ein Anlass, auf die Entstehungsgeschichte des Faschismus und dessen Gedankenguts zu verweisen. Der SID-Herausgeber und Historiker Georg Dattenböck hat dazu eine Zusammenfassung zur Verfügung gestellt und als Beispiel für die verlogene Propaganda des Faschismus einen teils heiteren, teils tragischen Bericht über Die wissenschaftliche Polarforschung als Mittel faschistischer Propaganda“ mitgeliefert.

Die Herrschaft des Faschismus in Südtirol wird hier jedoch nicht ausführlich behandelt, weil dies den Rahmen sprengen würde. Die Vertiefung dieses Themas ist einem zukünftigen SID vorbehalten.

Die Entwicklung des Faschismus – vom internationalen Sozialismus zum nationalen Imperialismus

Von Georg Dattenböck

Ein junger anarchistischer totalitärer Sozialist

Der junge totalitäre Sozialist Benito Amilcare Andrea Mussolini (*29.7.1883) war ein guter Redner. Er benutzte intuitiv die rhetorische Technik der Appelle an niedere Instinkte und diffuse Gefühle der Massen. Sein geistiger Ziehvater  war zunächst Karl Marx. Dieser hatte die Arbeiterklasse im Sinne seines „historischen Materialismus“ wissenschaftlich schulen wollen. Doch die sich Mitte des 19 Jahrhunderts als politische Parteien formierenden Arbeiterbewegungen und deren Führer benutzten meist die hemmungslose Agitation gegen die erklärten Klassenfeinde.

1902 emigrierte Mussolini in die Schweiz, wo er als Sekretär einer italienischen Maurergewerkschaft für die sozialistische Bewegung arbeitete. In dem linken Migrantenmilieu gedieh ein radikaler Anarchismus, der offenbar über ein verzweigtes und mächtiges Netzwerk verfügte.

Der Verfasser ist der Ansicht, daß der italienische Anarchist Luigi Lucheni, der 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth (Sisi) in Genf ermordete und ein Anhänger des führenden Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin war (der für Karl Marx dessen „Manifest der Kommunistischen Partei“ erstmals ins Russische übersetzte hatte), von den gleichen anarchistischen Kräften in der Schweiz instrumentalisiert wurde, bei denen auch Benito Mussolini verkehrte. Es wurde z.B. nie geklärt, wie Lucheni vorzeitig die geheim gehaltene Ankunft der Kaiserin in Genf hatte erfahren können. Hier muss es entsprechende geheime und mächtige Verbindungen gegeben haben. Lucheni hatte nach dem Mord den triumphierenden Ausruf getätigt: „Es lebe die Anarchie! Es leben die Anarchisten!“

Schweizer Polizeifoto von Benito Mussolini.

Die Schweizer Polizei stufte Mussolini auf Grund seiner Kontakte als Anarchisten ein. Er wurde mehrfach eingesperrt und im April 1904 wegen Passfälschung aus der Schweiz ausgewiesen und nach Italien abgeschoben. Dort ließ man ihn wieder laufen, obwohl er 1903 wegen Desertion verurteilt worden war.

Das geistige und politische Umfeld des jungen Mussolini – Sozialismus, Anarchismus, Nationalismus

Um Benito Mussolinis ideologische Gedankenwelt, seine ursprünglich starke Vorliebe für den Kommunismus und Anarchismus, sowie seine Kirchenfeindschaft zu verstehen, muss man auf seinen Vater Alessandro und dessen starken Einfluss auf den Sohn zurückblicken. (Eine gute zusammenfassende Darstellung findet sich in: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Alessandro_Mussolini)

Alessandro Mussolini war ein politischer Aktivist mit großer Sympathie für kommunistisch-anarchistische und antihabsburgische Revolutionäre. 1874 beteiligte sich Alessandro an politischen Unruhen in Predappio, er zeigte Neigung zur Gewalt und Zerstörung. 1878 wurde er wegen des Verdachts der Teilnahme an revolutionären Aktivitäten verhaftet. Er war, im Gegensatz zur Gattin, Atheist und hasste die katholische Kirche. Den Namen „Benito Amilcare Andrea“ wählte er für seinen Sohn deswegen, weil er drei Männer bewunderte:

Benito Pablo Juárez García, indianischer Herkunft, war Anwalt, Richter, Staatsanwalt und Präsident Mexikos gewesen. 1859 hatte er ein „Gesetz zur Verstaatlichung des kirchlichen Reichtums“ erlassen. Er hatte gegen europäische Invasoren seines Landes gekämpft und den Bruder von Kaiser Franz Josef, Maximilian v. Habsburg, als dieser Kaiser von Mexiko werden wollte, von einem Gericht 1867 aburteilen und erschießen lassen.

Amilcare Cipriani hatte bereits mit 15 Jahren an der Seite von Giuseppe Garibaldi mit den Truppen Piemonts gegen Österreich gekämpft. 1870 hatte er sich erneut Garibaldi bei der Eroberung Roms angeschlossen. Er war 1867 Mitglied der „Ersten Internationale“ und 1871 Mitglied der „Pariser Kommune“ geworden. Er war deswegen in eine Strafkolonie in Neukaledonien verbannt worden, war 1880 zurückgekehrt, in Italien verhaftet und zu sieben Jahren wegen Verschwörung verurteilt worden. 1893 war er Teilnehmer der „Zweiten Internationale“ in Zürich. Er war solidarisch mit der Revolutionärin und späteren Gründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, Róża Luksemburg, die für den „Spartakus-Bund” dessen Programm verfaßte. 1891 war Cipriani ein Delegierter bei der Gründung einer sozialistisch-revolutionär-anarchistischen Partei und sympathisierte mit dem Russen Peter Kropotkin, der für einen Anarchokommunismus eintrat. „Le Plébéien“  und andere anarchistische Zeitschriften waren das Forum des Cipriani.

Andrea Costa hatte Literatur studiert und unter dem Einfluss des erwähnten Anarchistenführers Michail Bakunin das Studium abgebrochen. Er betätigte sich als Agitator für dessen Theorien und arbeitete organisatorisch für Bakunin in der „Ersten Internationale“. 1883 wurde er in die Freimaurerloge „Rienzi“ aufgenommen, stieg zum 32. Grad auf und war Großmeister der Loge „Grande Oriente d’Italia“. 1892 war er Mitbegründer des „Partito dei Lavoratori Italiani“. Costa wurde Bürgermeister von Imola und Abgeordneter im Parlament.

1912 berief man den jungen Demagogen Benito Mussolini in den Exekutivausschuss des „Partito Socialista Italiano“ (PSI). Er wurde Chefredakteur des Zentralorgans „Avanti“ in Mailand. 1914 wurde er wegen offener nationalistischer Positionen entlassen und aus der PSI ausgeschlossen. 1915 unterschrieb Mussolini zunächst ein Anti-Kriegsmanifest und sprach sich für die Neutralität Italiens aus, spielte jedoch ebenso mit der von einer Minderheit entfachten Kriegsbegeisterung und mit antideutschen Gefühlen: so bezeichnete er das mit Italien im „Dreibund“ verbündete Deutschland als „einen Banditen, der seit 1870 auf der Straße der europäischen Zivilisation herumschleicht

Der junge Sozialist Benito Mussolini, hier auf einem Bild aus dem Jahre 1908, aufgenommen in Triest

Mussolinis Deutschenhass ging auch auf seine Tätigkeit im österreichischen Trient ab Jänner 1909 als Sekretär der sozialistischen Partei zurück, wo er den führenden Irredentisten Cesare Battisti kennenlernte, der italienischer Abgeordneter im Wiener Reichsrat war und dort Propagandareden gegen die Monarchie hielt.

Aus Anlass der 100-Jahr Feier des Tiroler Aufstandes von 1809 weilte Kaiser Franz Josef am 29.8.1909 in Innsbruck. Als Landsturmmänner bekleidete Tiroler zogen an der Ehrentribüne vorbei. Anschließend an diesen Festzug besuchte der Kaiser Süd- und Welschtirol. Benito Mussolini wurde als bekannter Agitator vorbeugend verhaftet und nach Italien abgeschoben.

Mussolinis Verhältnis zur Kirche

Historisch beachtenswert ist Mussolinis gestörtes Verhältnis zur katholischen Kirche. Als Internatsschüler der Salesianer in Faenza war er wegen vieler Schlägereien mit Mitschülern und zuletzt wegen eines bei einem Streit gezogenen Messers bereits nach zwei Jahren aus der Schule gewiesen worden. 1901 hatte er eine Ausbildung zum Volksschullehrer beendet und eine Stelle in einer kleinen Gemeinde in der Po-Ebene angenommen. Er wurde jedoch bald entlassen, weil er nachts betrunken durch den Ort zog und ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau begann. 1902 zog er daher in die Schweiz, wo er, wie bereits erwähnt, Anschluss an radikale extrem linke Kreise fand.

Die Wende zum extremen Nationalismus

Mussolini verstand die Thesen von Karl Marx als eine Anleitung zum „revolutionären Aktivismus und Syndikalismus“ und entnahm viele seiner Vorstellungen auch dem Gedankengut des Vordenkers von anarchistischer Gewalt und Aufruhr, des Franzosen Georges Sorel.

Die Ideen Sorels befruchteten auch den „Futuristen“ Filippo Tommaso Marinetti (*22.12.1876), der ähnlich wie Mussolini aus einer Jesuitenschule verwiesen worden war und 1914 seinen Freund Mussolini kennengelernt hatte. Auch F. T. Marinetti sah zunächst in anarchistischen Attentätern seine Vorbilder: In dem Anarchisten Émile Henry, der einen Bombenanschlag auf das Café Terminus in Paris verübte; in Auguste Vaillant, der 1893 einen Bombenanschlag auf die Französische Nationalversammlung durchführte; in Francois Claudius Ravachol, der wegen Bombenanschläge auf einen Richter und Staatsanwalt verurteilt wurde.

Filippo Marinetti beim Turiner Buchfest 1934 mit seinem neuesten „Gedichtband“.

1909 veröffentlichte Marinetti sein „Futuristisches Manifest“, in welchem er bereits die Gewalt und den Krieg verherrlichte. Der „Futurismus“ sollte eine neue Kultur und letztlich neue politische Verhältnisse „über den Kommunismus hinaus“ begründen.

Der Journalist Jochen Vorfelder schrieb in „Der Spiegel“ (20.2.2009) über Marinettis „Futuristisches Manifest – Wir wollen den Krieg verherrlichen“:

„Sie waren Prediger einer brutalen Avantgarde: Im Februar 1909 veröffentlichten die Futuristen ihr Manifest – sie liebten den Tod, das Tempo, Maschinen. Sie hassten Frauen und das Establishment. Wortführer Tommaso Marinetti wurde Mussolinis Kulturminister – und kämpfte für Hitler vor Stalingrad.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs machte Marinetti und D’Annunzio endgültig zu politischen Weggefährten – der verklemmte Hohenpriester des Futurismus und der zwanghafte Erotomane (der angeblich seidene Nachthemden mit einem kreisrunden Ausschnitt unter dem Nabel trug) wurden Unterstützer Benito Mussolinis. Der hatte sich gerade von den Sozialisten abgewandt und agitierte dafür, Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären. Als überzeugter Interventionist schloss sich D’Annunzio dem Duce an, auch Marinetti war von der Aussicht auf Krieg begeistert und lud Mussolini als Redner zu Futuristischen Abenden ein. Nachdem Marinetti im September 1914 in Mailand bei einer Veranstaltung von Kriegsbefürwortern österreichische Flaggen auf der Bühne verbrannt hatte, wurde er mit zwei Gesinnungsgenossen gar inhaftiert. Als Italien im Mai 1915 in den Krieg eintrat, war Marinetti wieder auf freiem Fuß und meldete sich freiwillig. Die meisten Futuristen taten es ihm nach. D’Annunzio, der begeisterte Pilot, obwohl bereits älter als 50 Jahre, ging zur Luftwaffe; Marinetti diente erst bei den Freiwilligen Radfahrern und Automobilsten und später bei den Gebirgsjägern. (…)

Den Krieg begriffen die beiden ‚Kämpfer-Dichter‘ als konsequente Fortsetzung ihres Futuristischen Aktionismus, sich selbst verstanden sie – nach dem Wortlaut ihres Manifests – als ‚angriffslustige Bewegung‘. (…) Marinetti gründete 1918 seine eigene Futuristische Partei, in deren politischem Manifest er ein Loblied auf den Anarchismus und die (kommunistische) Oktoberrevolution sang (…) Die Partei ging bald in Mussolinis neuer faschistischer Bewegung auf – doch die theatralische Liebe zum Faschismus blieb weder bei Marinetti noch bei D’Annunzio ungetrübt.“

Marinetti wurde von dem Chefideologen der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, der auch heute noch für sehr viele Internationalsozialisten das große Vorbild ist, für dessen anarchistischen „Futurismus“ stark gelobt. Doch Marinetti lief nicht zu Gramscis Kommunisten über, sondern vollzog die Wende zum extremen Nationalismus und wollte später auch seinen Freund Mussolini auf diesem Weg begleiten.

1916 fungierte Marinetti als Präsident der präfaschistischen „Nationalen Bewegung für die Wacht am Brenner“. Hier dokumentiert sich sehr klar, dass bei den Anarchisten und den mit diesen verwandten Futuristen, den Faschisten, sowie auch Teilen der italienischen Linken, die Jahrzehnte lange Propaganda der Irredentisten auf sehr fruchtbaren Boden gefallen war.

Unter dem Titel ,,Tricolori del Brennero. Movimento Nazionale per la Guardia al Brennero („Die Trikolore auf dem Brenner. Nationalbewegung für die Wacht am Brenner“) wurde ein Manifest Marinettis als Flugblatt mit „10 Geboten“ veröffentlicht:

Das Flugblatt mit dem Manifest Marinettis

Übersetzt lauten die 10 Thesen:

 

  1. Göttlichkeit Italiens.
  1. Die alten Römer haben alle Völker der Erde übertroffen. Der Italiener von heute ist unüberwindlich.
  1. Der Brenner ist kein Endziel, sondern ein Ausgangspunkt.
  1. Der letzte Italiener ist mehr wert als tausend Ausländer.
  1. Die italienischen Erzeugnisse sind die besten der Welt.
  1. Die italienischen Landschaften sind die schönsten der Welt.
  1. Um die Schönheit einer italienischen Landschaft begreifen zu können, muss man geniale Augen, d.h. italienische Augen haben.
  1. Italien hat alle Rechte, denn es hat das absolute Monopol schöpferischen Geistes und wird es auch in Zukunft innehaben.
  1. Alles, was jemals erfunden worden ist, haben Italiener erfunden.
  1. Deshalb muß jeder Fremde Italien mit einem Gefühl religiöser Ehrfrucht betreten.

F.T. Marinetti

Bei diesem Manifest handelte es sich weder um einen Faschingsscherz noch um eine Selbstpersiflage. Diese 10 Thesen waren tatsächlich ernst gemeint.

Die deutsche Zeitung „Zeit“ (Nr. 02/9.1.1947) schrieb unter dem Titel „Zehn Gebote des Wahnsinns“ über dieses Flugblatt:

„Man vergisst zu leicht. Vor allem vergisst man, wie alles angefangen hat. Beispielsweise, wie der faschistische Wahn in die Welt kam, der die Trümmer und das Chaos, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen, verschuldete! (…) Dieses Flugblatt ist ein erschreckendes Dokument menschlicher Überheblichkeit und faschistischen Geltungswahns. (…) Jedem, der heute diese zehn Gebote liest, wird ein Schauer über den Rücken laufen. Welcher Arroganz, welcher Anmaßung und welchen Irrsinn ist der Mensch unter dem Einfluss eines krankhaften, faschistisch entstellten Nationalwahns fähig! Jeder kann die Folgen dieser Arroganz selbst übersehen. Jeder weiß auch, was Lüge war an diesen Behauptungen! Aber es ist gut, sich immer wieder klarzumachen, wie es begann. Auf daß die Menschheit hellhörig werde gegen die Schalmeien, die der tödliche Verführer zu blasen beliebt.“

Diese „italienischen Schalmeien“ hörten sich z. B. von Italiens Außenminister Tommaso Tittoni, der Italiens führender Diplomat bei den Pariser Friedensverhandlungen war, in einer Rede am 27.10.1919 so an:

Die Völker fremder Nationalitäten, welche unter unsere Gesetzgebung fallen, sollen wissen, daß uns der Gedanke des Unterdrückens und der Entnationalisierung völlig fremd ist, daß ihre Sprache und kulturellen Institutionen respektiert werden, und daß sie alle Vorrechte unserer freiheitlichen und demokratischen Gesetze genießen werden.“ (Franz Huter: „Südtirol. Eine Frage des europäischen Gewissens; S. 298, Wien 1965)

Die Gründung der faschistischen Bewegung

Am 23. März 1919 versammelte sich in Mailand ein bunter Haufen von etwa einhundert Aktivisten, unter denen sich zahlreiche revolutionäre Gewerkschafter und Sozialisten befanden, die mittlerweile das marxistische Gedankengut gegen die Vorstellung einer nationalistischen Diktatur ausgetauscht hatten. Sie gründeten die „Fasci italiani di Combattimento“ – die „Italienischen Kampfbünde“. Das lateinische Wort „fasces“ bezeichnet die römischen „Liktorenbündel“. Die Verwendung des italienischen Begriffs „fasci“ sollte Bezug auf altrömische Traditionen nehmen und die angestrebte Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte bezeichnen.

1921 wurde die Bewegung umbenannt in „Partito Nazionale Fascista“ (PNF) und stellte somit eine politische Partei dar. Die Mitglieder der faschistischen Partei uniformierten sich durch das Tragen schwarzer Hemden.

Die Machtergreifung des Faschismus

In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1922 versammelten sich tausende von faschistischen „Schwarzhemden“ zu einem putschartigen „Marsch auf Rom“. Statt den Spuk mit Polizei und Militär auseinander zu treiben, ernannte der König Vittorio Emanuele III. Benito Mussolini zum Regierungschef und unterstützte in der Folge die Umwandlung des Staates in eine Diktatur durch königliche Dekrete.

Der futuristische und nunmehr faschistische Vordenker Marinetti widmete seinem „teuren und großen Freund“ Mussolini im Jahre 1924 einen Sammelband, betitelt: „Futorismo e Fascismo“. 1929 bedankte sich Mussolini dafür, indem er Marinetti zum Mitglied der „Neuen Akademie der Künste“ bestellte und damit auch dessen „Futurismus“ salonfähig machte.

Die Einigung mit dem Vatikan

Nach dem ab 28.10.1922 erfolgten „Marsch auf Rom“, forderte Mussolini, um seine damals noch schwankende machtpolitische Position zu verfestigen, die Italiener dazu auf, fest an Christus und an ihn selbst als den „Duce“ zu glauben.

Der Vatikan kannte jedoch die Persönlichkeitsstruktur, die Absichten und wirren Ziele Mussolinis und von dessen anarchistischen Freunden nur zu gut. In jedem Dorf Italiens saß ein Pfarrer, der bei Bedarf sofort nach oben berichtete. Deshalb knisterte es sehr stark in den katholisch-faschistischen Beziehungen. Diese untergründig immer schwelende, starke Gegnerschaft, beschrieb treffend die konservativ-liberale „Preßburger Zeitung“ bereits am 1. April 1928 unter dem Titel: „Faschismus und Vatikan. Mussolinis Kampf gegen Papst“:

„Mussolini wird auf einen offenen Widerstand stoßen, von dem er sich nicht ohne weiteres erholen wird. Der Heilige Stuhl hat seine Stimme gegen die Politik des italienischen Diktators erhoben. Der Papst hat eine Rede gehalten, in der er sich gegen die Bestrebungen des Faschismus auflehnte. Es ist kein Geheimnis, daß ein Teil der katholischen Kirche in Italien offen zum Faschismus neigt. Der Schritt des Papstes hat die geheimen Ziele Mussolinis enthüllt. So weiß man nunmehr, was Mussolini unter der Verständigung des Faschismus mit dem Papst gedacht hat: Nichts anderes als Unterwerfung des Papstes.“ (zitiert 2016 von Margita Gáborá in: „Der Fall Nobile / Amundsen“; Internet).

Mussolini hatte zunächst mit der unglaublich primitiv-dreisten Propagandafloskel „an Christus und an ihn zu glauben“, im bürgerlichen Lager und bei vielen Christen, immer mehr Erfolg.

Nun bot Mussolini dem Papst die territoriale Souveränität des Kirchenstaates an, welcher 1870 aufgelöst worden war. Papst Pius IX. unterschrieb am 11. Februar 1929 die „Lateran-Verträge“, die den Status der Vatikanstadt als unabhängigen Staat garantierten. Ab nun begannen sich auch katholische Priester zum Faschismus zu bekennen.

Feldkaplane der Alpini marschieren stramm mit dem Salute Romano

Das Hauptmotiv von Papst Pius XI. für den Vertrag mit Mussolini war der gemeinsame Kampf gegen den Erzfeind, den Kommunismus. (1943, als der Stern des „Duce“ bereits vor den Augen der Welt hell verglühte und die Alliierten auf italienischem Territorium gelandet waren, sollte Papst Pius XII. auf die Seite der Westalliierten wechseln, um nun zusammen mit den neuen Verbündeten weiterhin den Kommunismus eindämmen zu können.)

1930: Ein Strafgesetzbuch mit politischen Unterdrückungsparagraphen

Im Jahre 1930 unterzeichneten der italienische König Vittorio Emanuele III., der Ministerpräsident Benito Mussolini und der Justizminister Alfredo Rocco das königliche Dekret, mit welchem ein neues Strafgesetzbuch („Codice Penale“) in Kraft trat, dessen ausgefeilte Polit-Paragraphen ungehemmte Möglichkeiten der Verfolgung politischer Gegner boten. Vor allem aber legte sich das neue Strafgesetz als eiserne Klammer des Staates um die ihrer Identität beraubten Volksgruppen, welche in eine gemeinsame italienische Einheitsnation eingeschmolzen werden sollten.

In seinem zweiten Hauptteil („Dei delitti contro la personalita dello stato“) zählte der Codex jene „Delikte gegen die Persönlichkeit des Staates“ auf, die ab nun mit langjährigen Kerkerstrafen, mit dem Tod oder lebenslangem Zuchthaus zu ahnden waren:

*Beleidigung der italienischen Nation;

*Beleidigung der italienischen Fahne;

*antinationale Aktivität;

*politischer Defaitismus;

*Beleidigung des Staatsoberhauptes;

*subversive und antinationale Propaganda;

*Bildung von geheimen Gesellschaften.

Wer die bewaffneten Streitkräfte oder den faschistischen Großrat beleidigte (Artikel 290), konnte bis zu 6 Jahren Zuchthaus erhalten, auf die Beleidigung der italienischen Nation oder der italienischen Fahne standen 3 Jahre Kerker.

Wer aber versuchen sollte, eine Kolonie oder ein anderes Territorium vom italienischen „Mutterland“ loszulösen, verfiel nach Artikel 241 der Todesstrafe. (Nach 1945 geändert in: lebenslanger Kerker)

Kritik an der Staatsführung führte ab nun wegen „antinationaler Aktivität“ oder „Beleidigung der italienischen Nation“ in die Kerker der römischen Regierung oder in die Verbannung auf Gefängnisinseln.

Politische Häftlinge wurden in die Kerker von Gefängnisinseln im Mittelmeer deportiert

Viele Südtiroler wanderten aus nichtigen Anlässen für lange Jahre hinter Kerkermauern oder in die Verbannung auf Gefängnisinseln. An den Folgen der Verbannung starben der Rechtsanwalt Josef Noldin und das junge Mädchen Angela Nikoletti, die heimlich im „Katakombenunterricht“ den Kindern Lesen und Schreiben in deutscher Sprache beigebracht hatten.

Sie starben an den Folgen der Verbannung: Angela Nikoletti und Josef Noldin

Nach 1945 hielt die italienische Regierung es für angebracht, das faschistische Strafrecht nahezu unverändert in Kraft zu lassen und es in der Folge bei politischen Prozessen weiter anzuwenden.

Auch nach 1945 blieben nahezu alle faschistischen Unterdrückungsparagraphen weiterhin in Kraft.

Seine politischen Paragraphen dienten der allerchristlichsten Regierungspartei „Democrazia Cristiana“ (DC) nach wie vor zur Niederhaltung aufmüpfiger Südtiroler.

Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht oder Bestrebungen für eine eigene Landesautonomie wurden mit der Einleitung von Strafverfahren wegen „Angriff auf die Einheit des Staates“ oder „Anschlag auf die Verfassung“ beantwortet.

Die Verbrechen des italienischen Kolonialismus

1911 hatte der frühere Pazifist und Sozialist Mussolini den italienischen Eroberungskrieg in Lybien noch zum Anlass genommen, aus Protest zum Generalstreik aufzurufen. Er wurde zu einer fünfmonatigen Haft verurteilt. Der an die Macht gekommene „Duce“ Mussolini wollte jedoch, nach dem Vorbild des Römischen Reiches, wieder große tributpflichtige Provinzen in Afrika schaffen. Dazu war jedes Mittel recht. (s. dazu: Aram Mattioli: „Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933“; in: „Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Hrsg.: Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Campus 2004).

Nach der Machtergreifung Mussolinis verstärkte sich daher der Terror der Besatzungsmacht in Lybien. Das Ziel der faschistischen Politik war es, die fruchtbaren Küstengebiete rund um die Bucht der Großen Syrte unter Vertreibung der Einheimischen zu einem neuen „Lebensraum“ („spazio vitale“) für Hunderttausende landhungrige Kolonisten aus den ärmsten Regionen Italiens zu machen.

Die durch Enteignungen aus den fruchtbaren Gebieten in die Wüstenregionen verdrängten Einheimischen rebellierten aus Selbsterhaltungswillen gegen diese Maßnahmen. Es ging buchstäblich um ihr Überleben.

Mit ihren modernen Kampfmitteln, Flugzeugen und schnellen leichtgepanzerten Eingreiftruppen, brach die italienische Armee den Widerstand. Tiefflieger mähten die flüchtende Bevölkerung in Scharen nieder, erstmals wurde auch Giftgas gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, Tausende starben.

Italienisches KZ in der lybischen Wüste

In Abessinien (Äthiopien) fielen nach Angaben italienischer Historiker mehr als 300.000 Menschen den brutalen Methoden des italienischen Kolonialismus zum Opfer, zu denen auch der Abwurf von Giftgasbomben gegen Zivilsten gehörte. Massenweise Exekutionen und der Hungertod in den Konzentrationslagern forderten ihre Opfer. Die spätere äthiopische Regierung nannte eine Zahl von 407.000 getöteten Zivilisten. (Aram Mattioli: „Experimentierfeld der Gewalt“, Zürich 2005, S. 153)

Heute spricht so gut wie niemand mehr von diesen Opfern.

Öffentliche Hinrichtungen und Massaker mit Giftgasbomben

Den italienischen Kindern wurde die Vernichtung afrikanischer Zivilbevölkerung durch Giftgas in Karikaturen als lustiges Ereignis präsentiert

Nicht besser benahm sich das faschistische Regime auf dem Balkan, in Albanien und Griechenland. In den 29 Monaten italienischer Herrschaft über große Teile von Jugoslawien und Griechenland während des Zweiten Weltkrieges legte sich die Besatzungsmacht keinerlei Zügel an. An den Untaten war auch die faschistische Schwarzhemdenmiliz beteiligt, welche willkürlich Menschen festnahm, mit Dolchen und Bajonetten verstümmelte und anschließend öffentlich henkte.

Anderen Verdächtigen wurde der Kopf abgeschnitten und auf einer Stange in das Dorf getragen, Männer wurden massenhaft erschossen und die Frauen und Kinder in die Konzentrationslager geschickt. Diese Untaten richteten sich in den Städten auch gegen die Juden. (Claus Gatterer: „Im Kampf gegen Rom“, Wien-Frankfurt-Zürich 1968, S. 646ff)

Insgesamt dürften durch italienische Terrormaßnahmen auf dem Balkan zwischen April 1941 und September 1943 mehr als 200.000 Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sein. Der italienische Historiker Brunello Mantelli geht sogar von rund 350.000 Opfern aus. („Die Italiener auf dem Balkan“, in: Christoph Dipper u. a. (Hg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 200, S. 57 ff)

Die hygienischen Verhältnisse in diesem Lager waren schrecklich, die Ernährung bestand aus zweimal einem Teller Suppe pro Tag. Entsprechend hoch war die Todesrate der völlig entkräfteten Internierten.

Halbverhungerte Kinder in dem italienischen Konzentrationslager auf der Insel Rab. (Bild aus der slowenischen Dokumentation „Muceniska pot k Svobodi“, Ljubljana 1946)

Propaganda und Lügen als Zwillinge – Ein Beispiel: Die wissenschaftliche Polarforschung als Mittel faschistischer Propaganda

Natürlich zeichnete Mussolini in seinen Propagandareden ein gänzlich anderes Bild. Auch die faschistische Propaganda stellte Italien als Kulturbringer zum Segen der Menschheit dar.

Abzulehnen war und ist die propagandistische Ausbeutung hervorragender wissenschaftlicher Forschung und Forscher durch totalitäre Ideologen. Wissenschaft und Forschung vertragen grundsätzlich keinen blinden Chauvinismus. Dass jede Nation auf erfolgreiche Forscher und Entdecker stolz sein kann, steht dem nicht entgegen.

Das faschistische Italien war jedoch darauf aus, sich auch auf wissenschaftlichem Gebiet Ruhm um jeden Preis zu erwerben. Dies führte in einem Fall, den ich nachstehend schildern will, zu skurrilen wie auch tragischen Ergebnissen.

Ein italienisches Luftschiff

Der Oberst Umberto Nobile, Mitglied der faschistischen Partei, war ein bekannter Luftschiff-Konstrukteur und hatte das leistungsfähige 106 m lange Luftschiff „N1“ geschaffen, dessen Jungfernflug im März 1924 stattfand und das später „N1 Norge“ heißen sollte.

Umberto Nobile und sein Luftschiff „N 1 Norge“

Bei dem folgenden Bericht greift der Verfasser u.a. auf das Buch von Hans-Otto Meissner „Mein Leben für die weiße Wildnis. Die Expeditionen des Roald Amundsen“ (Stuttgart 1971) zurück.

Der Vorschlag zur Nordpol-Expedition

1925 trat Amundsen nach dem Scheitern einer Flugboot-Expedition nur 245 Kilometer vor dem Nordpol, mit der Idee an den Luftschiff-Konstrukteur Umberto Nobile heran, mit einem Luftschiff den Nordpol in Richtung Alaska zu überfliegen, um das bis dahin ziemlich unbekannte, riesige Gebiet wissenschaftlich zu erkunden. Amundsen war ein bekannter Polarforscher, der bereits im Dezember 1911 den Südpol erreicht hatte.

Roald Amundsen und sein Zelt am Südpol im Jahre 1911

Mussolini begrüßt das Vorhaben

Ein reicher Amerikaner namens Lincoln Ellsworth war von der Idee Amundsens begeistert und spendete 100.000 Dollar. Norwegens Parlament und der Aeroclub spendeten ebenfalls Geld.

Auch der Regierungschef Benito Mussolini begrüßte dieses Vorhaben. Oberst Umberto Nobile, wurde von ihm selbst beauftragt, dem Wunsche Amundsens zu entsprechen.

Dem „Duce“ schien die geplante Fahrt zum Nordpol eine Gelegenheit, Italien einen ersten Platz in der Geschichte der Polarforschung zu sichern und damit zur weltweiten Verherrlichung seines Regimes beizutragen.

Nobile wurde nach Oslo eingeladen und in Amundsens Haus wurden erste Gespräche geführt. Meissner (S. 200) berichtet u.a. über dieses Gespräch:

Nobile: „Der Duce bringt Ihrem kühnen Projekt große Interesse entgegen, Capitano  Amundsen …“

Amundsen: „An welchen Preis hat der Ministerpräsident Mussolini gedacht?“

Nobile: „An gar keinen, wir schenken Ihnen das Luftschiff.“

Amundsen: „Was sind die Bedingungen?“

Nobile: „Die N1 fährt unter italienischer Flagge, und ich habe das Kommando wie bisher.“ Amundsen: „Mit Ihrer Führung des Schiffs, Herr Oberst, bin ich gerne einverstanden. Wir sind sogar darauf angewiesen, und ich hoffe, daß Sie noch einige Leute der bisherigen Besatzung mitbringen. Aber die N1 fährt selbstverständlich unter norwegischer Flagge, und ich bin der Leiter des Unternehmens.“

 Oberst Nobile schien sehr enttäuscht: „Das ändert die Situation, nur der Duce kann darüber entscheiden.“

Meissner (S. 200): „Benito Mussolini kam den Norwegern weit entgegen. Er gab sich mit dem erstaunlich billigen Preis von 80.000 Dollar zufrieden. Nur sollte man am Nordpol auch die italienische Fahne abwerfen, das Kommando im Schiff Nobile überlassen und die Fahrt als gemeinsames Unternehmen der Norweger und Italiener deklarieren. Lincoln Ellsworth konnte teilnehmen und in seiner Person die USA vertreten. Gegen die Gesamtleitung Amundsens hatte der Duce d’Italia nichts einzuwenden. Der Verkauf kam zustande, und die Vorbereitungen liefen an. Als erstes wurde die N1 auf den Namen „Norge“ getauft (…). Benito Mussolini war selbst dabei.“

Nobiles plötzliche Forderungen und seine Gesinnung

Im Februar 1926 wurde ein erster Test durchgeführt, die offizielle Übergabe des Luftschiffs fand am 29. März 1926 in Ciampino statt. Amundsens Unternehmen war von Anfang an von Intrigen, taktischen Plänkeleien, unerwarteten Geldforderungen und Mussolinis propagandistischen Interessen begleitet. Meissner (S. 201):

„Mit Nobile jedoch gab es Schwierigkeiten. Er verlangte erst 40.000, dann sogar 55.000 Norwegen-Kronen für sein Kommando während des Fluges, eine geradezu phantastische Summe für damalige Begriffe. (…) Dann wollte er, daß der Polflug die ‚Amundsen-Ellsworth-Nobile-Expedition‘ genannt wurde. Auch diesem Wunsch des Colonello mußte man entsprechen, ebenso einem Verlangen auf eine hohe Lebensversicherung. Er wollte außerdem das Recht haben, später über den Polflug eigene Berichte zu veröffentlichen. (…) Noch vieles andere im Verhalten des Colonello trug dazu bei, daß ein wirklich gutes ‚Betriebsklima‘ nicht zu erreichen war.“

Am 7. Mai ankerte „Norge“ über dem Ny-Alesund in Spitzbergen. Mit Nobile gab es erneut Probleme, wie Amundsen berichtete. Meissner (S. 204):

„Schlimm für den Oberst, daß er sich die Blöße gab, Riiser Larsen (2. Kommandant) zu bitten, im Falle einer Notlandung sollten die Norweger nicht nur an ihre eigene Rettung denken, sondern auch den Italienern helfen. Amundsen schäumte vor Wut, da ihn schon der Gedanke zutiefst empörte, er könnte jemals einen Menschen in Not verlassen. (…)  ‚Daß dieser Mensch annehmen konnte‘, sagte Amundsen, ‚Männer unseres Schlages könnten so gemein sein, verrät Nobiles miserable Gesinnung. Sein Dünkel, seine Selbstherrlichkeit und Selbstsucht haben in meinen Erfahrungen nicht ihresgleichen.‘“

Amundsens Großmut

Zur gleichen Zeit wie die „Norge“ flog ein amerikanisches dreimotoriges Fokker-Flugzeug unter dem Kommando von Evelyn Richard Byrd, Offizier der US-Kriegsmarine, in die Bucht ein. Byrd, dies wusste Amundsen seit langem, wollte ebenfalls über den Pol fliegen. Amundsen ertrug es gelassen, Nobile kochte jedoch vor Wut. Amundsen bot Byrd sogar seine Hilfe an. Meissner (S. 205):

„Wir müssen so rasch wie möglich aufsteigen‘, drängte Nobile, ‚wir dürfen jetzt keinen Tag mehr verlieren!‘ Aber Leiter der Expedition war Roald Amundsen. ‚Ich gebe die Weisung zum Starten, wenn das letzte Detail der Vorbereitung fertig ist. Sicherheit vor allem, sonst interessiert mich gar nichts.‘ Es war ihm jetzt gleich, wer zuerst den Pol überflog. Byrd wollte nur zum Pol und sofort wieder zurück nach Ny-Alesund. Wissenschaftliche Beobachtungen und Vermessungen konnte er nicht durchführen, erst recht nicht über dem Pol stehen bleiben.  Die ‚Norge‘ aber war mit einer Fülle von Instrumenten ausgerüstet, um der wissenschaftlichen Forschung zu dienen.“

Byrds Fokker stieg auf, er erreichte nach seinen eigenen Angaben den Nordpol und war nach 16 Stunden wieder zurück. Amundsen gratulierte ohne Neid zum „wohlverdienten Erfolg der Vereinigten Staaten“ und spendiert zwei Kisten Champagner.

Erst am Abreisetag der „Norge“, dem 11. Mai 1926, wurde entschieden, wer an Bord klettern durfte: sechs Italiener, ein schwedischer Meteorologe, der amerikanische Millionär Lincoln Ellsworth und neben Roald Amundsen sieben andere Norweger, treue Gefolgsleute Amundsens. Amundsen nahm in einem Korbstuhl an einem Seitenfenster Platz. Um 8 Uhr 55 morgens begann die historische Fahrt der „Norge“.

In der Kabine der „Norge“ über dem Pol, Amundsen in der Mitte (Bild aus: Hans-O. Meissner, S. 209; Verlag Cotta, Stuttgart 1971)

Meissner (S. 206ff):

„Nach dem Bericht Roald Amundsens war die ‚Norge‘ durch Nobiles Nervosität dreimal in Gefahr, das Eis zu rammen. Erst im letzten Augenblick gelang es Riiser Larsen, das Schiff wieder auf geraden Kurs zu bringen. Dabei wurde Nobile vom Steuer gestoßen und gezwungen, das Kommando zweitweise abzugeben. (…) Zwei Jahre später ist ja unter seinem Kommando die ‚Italia‘ aufs Eis gestoßen. (…) Sehr oft schwebte das Schiff knapp 100 Meter über dem Polareis, damit man deutlich beobachten, filmen und fotografieren konnte. Ein Motor setzte aus. Das hätte in Flugzeugen jener Jahre den Absturz bedeutet, zumindest eine riskante Notlandung. Aber die ‚Norge‘ besaß drei Motoren, und so genügten die beiden anderen. (…) Ohne Hast wurde der schadhafte Motor repariert und sprang wieder an.“

 Eine peinliche und provokante faschistische Propaganda

 „Am 12. Mai 1926, morgens um 1 Uhr 25, war das fliegende Schiff über dem Nordpol angekommen. Es senkte sich bis auf 80 Meter Höhe und blieb stehen. Amundsen ließ die norwegische Fahne hinab fallen. Das Tuch, nicht größer als ein Taschentuch, war an einem Stab befestigt, dessen bleigefüllte Spitz sich beim Fall in das Eis bohrte. Rasch hatte das Fähnchen festen Halt am Nordpol gefunden, hell leuchteten die bunten Streifen auf weißer Fläche. Danach folgte eine amerikanische Flagge der gleichen Größe, die Lincoln Ellsworth abwarf.

Jetzt war Oberst Nobile an der Reihe. Aber er hatte Mühe, seine Fahne durchs Fenster zu bringen, denn sie war so groß wie ein Bettlaken. Dabei hatte man für alle drei Fahnen die gleiche Größe verabredet. Die italienische Trikolore blieb in einem der Propeller hängen. Zwei Männer mussten ein akrobatisches Kunststück vollbringen, um sie wieder loszumachen.

‚Wie kann nur ein erwachsener Mann seine Vaterlandsliebe nach dem Flächeninhalt der Nationalflagge bemessen?‘, liest man in dem Bericht Roald Amundsens. ‚Sein Verhalten in diesem höchst bedeutsamen Augenblick erschien mir so komisch und so albern, daß ich lautes Lachen nicht vermeiden konnte.‘

Zeitgenössisches Gemälde. Die „Norge“ über dem Nordpol

Das Flugschiff „Norge“ stieg wieder auf, fuhr Richtung Alaska und kam bei minus 40 Grad durch die sich bildenden Eiskristalle in ernsthafte Schwierigkeiten, doch wurde nach 40 Stunden, am 13. Mai, die Nordküste Alaskas erreicht. Damit war die Überquerung des Polarmeeres zum ersten Male geglückt. Meissner (S. 208):

„Aber eine dunkle Wolkenwand kam der ‚Norge‘ entgegen. Man konnte ihr weder ausweichen noch genügend Höhe gewinnen, um darüber zu schweben. Die Situation wurde kritisch, als Sturmböen das Schiff wieder nach Norden trieben. Die drei Motoren kamen dagegen nicht an. Wegen der atmosphärischen Störungen konnte die Schiffsführung keine Wettermeldungen aus Alaska empfangen. Die Orientierung ging verloren (…) die „Norge“ wurde herumgeworfen wie ein Ball. (…) Die Italiener beteten um Rettung.“

Nach 72 Stunden in höchster Not ankerte das Luftschiff in einer Eskimo-Siedlung namens Teller, 60 Kilometer von Nome im Westen Alaskas gelegen. Die Mannschaft der „Norge“ war zu Tode erschöpft und schlief zwei Tage in den Hütten der Eskimos.

Der wissenschaftliche Erfolg der Expedition

Amundsen Eintrag dokumentiert, daß er an den wissenschaftlichen Erfolg dieser Entdeckungsfahrt und an die Zukunft der Menschen dachte:

„Der kürzeste Weg von Europa nach Ostasien ist die Strecke über den Pol nach Alaska und weiter nach Japan. Auf dieser Route werden in absehbarer Zukunft die Menschen fliegen. Es werden nicht Hunderte sein, sondern Tausende, vielleicht an ein und demselben Tag. Mit Stolz erfüllt mich der Gedanke, daß wir die Ersten waren. Wir haben eine neue Epoche eingeleitet.“

Die Medien jubelten weltweit, Mussolini gab pathetische Interviews, die angeblich tiefe italienisch-norwegische Freundschaft wurde beschworen.

Der italienische „Duce“ Mussolini gab pathetische Interviews

An Alaskas Küste spürte man von dieser Freundschaft nicht so viel. In Seattle wurde die Mannschaft der „Norge“ jubelnd begrüßt, dem uniformierten Oberst Nobile wurde von einem Mädchen ein Begrüßungsstrauß überreicht und der einfach gekleidete Amundsen wurde übersehen. „Nichts anderes als Betrug“, schrieb Amundsen, denn Uniform zu tragen, war eigentlich nicht vorgesehen. „Dieser besoldete Luftschiffführer auf einem norwegischen Schiff, das einem Amerikaner und mir selbst gehörte, darf nicht den Ruhm an sich reißen, der ihm nicht gebührt“, heißt es in Amundsens Erinnerungen.

Nach seiner Rückkehr nach Italien wurde Umberto Nobile „für die außergewöhnliche Leistung“ zum General ernannt.

Es ging darum, den Ruhm Italiens zu mehren – Nobile landet auf dem Packeis

Mussolini und Nobile hatten Lust an Polarmeerexpeditionen gefunden. Von Spitzbergen aus startete Nobile mit dem Luftschiff „Italia“ zu drei weitere Expeditionen. Bei der letzten fuhr er am 24. Mai 1928 über den Nordpol. Funksprüche verkündeten auch diesen neuerlichen Triumph italienischen Unternehmungsgeistes. Dann brach die Radioverbindung ab, das Luftschiff „Italia“ schlug auf das Packeis auf, die Gondel und Hülle brachen auseinander, mit der Hülle flogen sechs Mann davon und blieben verschollen.

Auf einer Eisscholle aber lag, mit einigen Überlebenden, auch General Umberto Nobile.

Der Tod Amundsens

Der wegen des faschistischen Propagandarummels um „Norge“ und auch wegen Nobiles Verhalten verbitterte Amundsen brach trotzdem mit einem französischen Flugboot von Tromsö in Nord-Norwegen am 18. Juni zu einem selbstlosen Einsatz auf, um Umberto Nobile zu retten. An Bord waren zwei weitere Norweger und vier Franzosen. Eine letzte Meldung des Flugbootes wurde aufgefangen, dann war Stille. Am 31. August wurde das erste Wrackteil gefunden. Irgendwo zwischen Troms und der Bäreninsel war das Flugboot abgestürzt, es wurde bis heute nicht gefunden.

Nobile wurde gerettet

General Nobile nach seiner Rettung

Nobile wurde trotzdem gerettet. Am 23. Juni landete Oberleutnant Lundborg von der schwedischen Luftwaffe waghalsig mit einem Kufenflugzeug auf der Eisscholle und rettete, auf ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten, als ersten General Nobile. Bei einem zweiten Landeanflug auf das Packeis schoss die Maschine über das Ziel hinaus und havariert selbst auf dem Eis. Am 12. Juli erreichte der russische Eisbrecher Krassin das Packeis und barg die restlichen Überlebenden.




Ein Mahnmal für die Landeseinheit – am Mittelpunkt Tirols

Das Tiroler Schützenwesen blickt auf Jahrhunderte einer stolzen Tradition der Landesverteidigung zurück, die 1918 mit dem Zerfall der Monarchie und der Zerreißung des Landes Tirol tragisch endete.

Die Standschützen – Angehörige der Schützenstände – verteidigten Tirol bis zum bitteren Ende.

Der heutige Südtiroler Schützenbund hat sich entgegen einigen Bemühungen von interessierter Seite nicht in einen unpolitischen folkloristischen Verein umwandeln lassen. Die Schützen pflegen Tradition einschließlich Tracht und Zeremoniell, aber nicht zu kommerziellen Fremdenverkehrszwecken, sondern als Ausdruck einer gelebten Gesinnung. Sie führen die frühere militärische Landesverteidigung heute mit friedlichen Mitteln fort und treten mit den Waffen des Geistes und mit praktischem Handeln unter Inanspruchnahme ihrer Bürgerrechte für die Wiedererlangung der Landeseinheit ein.

Der Schützenbezirk Brixen und die Schützenkompanie Latzfons errichten ein Denkmal der besonderen Art

Am 10. Oktober 1920 hatte die offizielle Annexion Südtirols mit rechtskräftiger Einverleibung in den italienischen Staatsverband stattgefunden, nachdem am 9. August 1920 die römische Abgeordnetenkammer und am 24. September 1920 der Senat in Rom das Annexionsdekret beschlossen hatten. Damit war der Weg in eine schlimme Knechtschaft eröffnet worden.

„Geknechtet“ – Gemälde von Th. Walch

Die Zerreißung Tirols haben die Schützen in Südtirol stets als Unrecht bezeichnet. Ein schönes Beispiel für ihre Geisteshaltung ist das jetzige Vorhaben des Schützenbezirks Brixen und der Schützenkompanie Latzfons unter ihrem Hauptmann Martin Pfattner, 100 Jahre später – am 10. Oktober 2020 – ein Denkmal der besonderen Art einzuweihen.

Wenn man um die Grenzen Gesamttirols ein Rechteck legt und in diesem zwei Diagonalen zieht, so befindet sich der Mittelpunkt Tirols in Latzfons auf dem Gemeindebiet von Klausen, 610 m östlich vom Gipfel der 2.464 m hohen Lorenzispitze.

Die Mitglieder der Schützenkompanie Latzfons

An dieser Stelle werden der Schützenbezirk Brixen und die Schützenkompanie Latzfons mit Unterstützung durch den Bezirkskulturreferenten Josef Kaser „zur Erinnerung und Mahnung dieses Unrechts vor 100 Jahren“ einen Markstein setzen, dessen Oberteil als Scheibe ausgeführt sein wird.

Der geplante Markstein – eingezeichnet in das Bild, welches das Kirchlein am Latzfonser Kreuz auf einer Seehöhe von rund 2.300 m zeigt. Es ist die höchstgelegene Wallfahrtskirche Südtirols. Daneben befindet sich eine Schutzhütte.

In der Mitte wird der Markstein die Landkarte Gesamttirols mit der Kilometerangabe der Entfernung zu den Nachbarländern im Uhrzeigersinn zeigen: Achenpass 108 km – Kufstein 114 km – Pass Strupp 132 km – Nörsach/Lienz 109 km – Anpezzo Haydn 54 km – Primör 65 km – Strigno 80 – Borghetto 120 km – Storo 116 km – Tonalepass 86 km – Stilfserjoch 82 km – Arlberg 110 km – Reute 112 km – Scharnitz 80 km.

Wie die Schützenkompanie mitteilt, soll dieser Stein „die Verbundenheit unseres Heimatlandes aufzeigen“.

Am 10. Oktober 2020 erfolgt die Einweihung und kirchliche Segnung des Mahnmals.




Nachruf für Alois Ebner – ein Opfer politisierter Justiz

Wie der „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) mitteilt, ist Alois Ebner aus Pfunders in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 2020 im Alter von 85 Jahren verstorben. Er hatte in seiner Jugend Schweres erleben müssen.

Der nachstehende Beitrag, welchen der SHB den Medien zur Verfügung gestellt hat, zeigt das damalige Geschehen auf:

 „Justiz in Südtirol“

Die Titelseite einer in Österreich erschienenen Schrift „Schändung der Menschenwürde in Südtirol“, welche die Misshandlungen politischer Gefangener in Südtirol dokumentierte, zeigte den verhafteten und in Ketten abgeführten jungen Pfunderer Alois Ebner.

Die österreichische „Liga für Menschenrechte“ veröffentlichte im Jahre 1958 unter dem Titel „Justiz in Südtirol“ eine Broschüre, in welcher das Vorgehen der italienischen Justiz gegen die Pfunderer Burschen eingehend untersucht und dargestellt wurde. Auf dem Umschlagbild ist der junge Pfunderer Bernhard Ebner zu sehen, der Bruder des jetzt verstorbenen Alois Ebner.

Ein tragisches Geschehen im Jahre 1956

Der Südtiroler „Gemeindebote Vintl“ berichtete 50 Jahre später darüber, was sich am 15. August 1956 ereignet hatte:

In jenen Jahren befand sich in Pfunders im ‚Lettahaisl‘ ein kleines ‚ENAL-Gasthaus‘. Am Abend des 15. August 1956 waren mehrere Burschen und Männer aus dem Dorf dort, als plötzlich zwei ‚Finanzer‘ mit einer kleinen Gruppe Pfunderer -in Pfunders gab es in jenen Jahren eine Finanzstation- das Gasthaus betraten.

Es handelte sich hierbei um Raimondo Falqui aus Sardinien und Francesco Lombardi. Sie feierten gemeinsam (Anmerkung: Wie die Familie des Verstorbenen jetzt korrigierend mitteilt, waren die beiden Gruppen in dem Wirtshaus nicht zusammen, sondern getrennt), doch plötzlich kehrten die Italiener die Amtsperson hervor, obwohl sie nur Zivilkleidung trugen, und forderten die Pfunderer auf, sofort die Wirtschaft zu verlassen, da die Sperrstunde bereits herangerückt sei. Dies taten die Männer so lange nicht, bis die Italiener verschwanden und mit einem Messer zurückkamen. Daraufhin verließen die Pfunderer die Wirtschaft, verfolgt von den Finanzern. Nach einer kurzen Wegstrecke ließen sich die Pfunderer dies nicht mehr gefallen und drehten den Spieß um. Sie wehrten sich und verfolgten die Finanzer bis zu der einstigen ‚Kirchbrugge‘, die damals etwa 50 Meter weiter oberhalb lag. Dort -so erzählt Alois Ebner, einer der Pfunderer- fasste er Falqui nochmals am Hemd, doch der ‚Finanzer‘ riss aus und rannte in die Dunkelheit hinaus, in Richtung ‚Roanaboch-Brugge‘.

Diese Brücke gibt es auch heute noch, damals hatte sie jedoch kein Geländer und so besteht die Vermutung, dass der ‚Finanzer‘, nachdem er sich von Alois Ebner losgerissen hatte, die Brücke verfehlte und in das Bachbett stürzte.

Die jungen Pfunderer merkten davon nichts mehr, denn nachdem die ‚Finanzer‘ weggelaufen waren, gingen sie nach Hause bzw. zu dem jeweiligen Bauernhof, auf dem sie arbeiteten.“ („Gemeindebote Vintl“, 28. Februar 2007)

Der Finanzer wurde am nächsten Morgen tot unter der Brücke im ausgetrockneten Bachbett aufgefunden. Er hatte sich bei seinem Sturz einen Schädelbruch zugezogen.

Von dieser Brücke ohne Geländer war Falqui in das3 Meter tiefe trockene Bachbett hinunter gestürzt.

Bereits am 17. August 1956 meldete die Bozener italienische Tageszeitung „Alto Adige“ auf ihrer Titelseite, dass es sich um Mord gehandelt habe. Der Finanzer sei angegriffen und umgebracht worden („aggredita ed uccisa“).

Aus „Alto Adige“ vom 17. August 1956

In Rom gab das „Giornale d’Italia“, das Zeichen zur Hetzjagd: Es sei Mord gewesen und zwar ein „politischer Mord … Die Gründe sind noch nicht bekannt, aber sie sind zweifellos in dem Klima des Hasses zu suchen, den die Vertreter einer Partei seit Jahren säen …“ Gemeint war damit die „Südtiroler Volkspartei“.

Wenige Tage später wusste es die italienische Wochenillustrierte „Oggi“ ganz genau: „Dies ist ein grausames sinnloses Verbrechen, geboren aus dem Hassfeldzug, der von einigen Exponenten der örtlichen Minderheit geführt wurde. Der Mord an dem jungen Beamten stellt das letzte und blutige Glied in einer Kette von Übergriffen und Gewalttaten dar.“ (Zitiert in: Österreichische Liga für Menschenrechte, Sektion Tirol: „Justiz in Südtirol“, Innsbruck 1958, S. 10)

Ein politischer Mord also! Die gesamte Südtiroler Volksgruppe und ihre Führung als angebliche Anstifterin eines hinterhältigen und grausamen Verbrechens, zitiert vor die Schranken der italienischen Nation.

Verhaftung und Misshandlung – „Geständnisse“

Die verhafteten Burschen wurden in schwere Ketten gelegt dem Gericht vorgeführt.

Die sieben jungen Pfunderer Burschen wurden verhaftet und nach ihrer eigenen späteren Aussage vor Gericht so lange geschlagen, bis sie die auf Italienisch verfassten Protokolle unterschrieben hatten, deren Inhalt sie nicht verstanden. Diese Protokolle enthielten jedoch „Geständnisse“, die zur Grundlage der Verurteilung der Burschen wurde.

Im Prozess widerriefen die Burschen diese „Geständnisse“ und berichteten, dass diese durch Misshandlungen erzwungen worden waren. Alois Ebner erklärte:

„Vor den Carabinieri habe ich nicht mehr gewusst, was ich sage, so sehr haben sie mich geschlagen.“

Eine Untersuchung der von den Angeklagten berichteten Misshandlungen wurde nicht eingeleitet.

Staatsanwalt fordert Schuldspruch gemäß „dem Gefühl des Volkes“

Der Staatsanwalt Mario Martin forderte für sechs Angeklagte lebenslängliches Zuchthaus, ein Angeklagter solle aus „Mangel an Beweisen“ freigehen. Demnach hätten sechs Angeklagte gemeinsam Falqui den Schädel eingeschlagen. Falqui sei geradezu „gelyncht“ worden. Dieser Staatsanwalt, der sich auch 1961 noch durch die Duldung der Folterungen politischer Südtiroler Häftlinge einen traurigen Ruf erwerben sollte, rief den Geschworenen und den Richtern zu: „Ich verlange von euch Richtern eine Mutprobe! … Euer Schuldspruch stimme überein mit dem Gefühl des Volkes, von dem ihr delegiert worden seid.“

Die christlich-demokratisch orientierte Trentiner Zeitung „L’Adige“ lobte in einem Bericht diese mehr als seltsame Rechtsauffassung und schrieb, „dass gerade der Vertreter der öffentlichen Anklage die Pflicht hat, der öffentlichen Meinung Rechnung zu tragen.“

Noch ungeheuerlicher äußerten sich die Vertreter der Privatanklage. Sie nannten die Angeklagten „Hyänen“, „Bestien“, „hündische Meute“, „halbe Kannibalen, Wegelagerer und Mörder“. Alle Bewohner des finsteren und zurückgebliebenen Südtiroler Tales Pfunders hätten, politisch von der einheimischen Presse verhetzt, im sardischen Finanzer Falqui „den Bringer des Fortschritts und der Kultur“ gehasst und mit Mordlust verfolgt. (Zitiert aus: Österreichische Liga für Menschenrechte, Sektion Tirol: „Justiz in Südtirol“, Innsbruck 1958, S. 20 und 22)

Ein politisch geprägter Prozess mit schweren Fehlern

Der Richter duldete diese Sprache. Der Prozess wurde entgegen des im „Pariser Vertrag“ von 1946 festgelegten Gebrauches der Muttersprache im öffentlichen Leben und vor Gericht nur in italienischer Sprache geführt. Die Bauernburschen aus Pfunders konnten so weder den Aussagen von Zeugen noch den Beweisführungen der Anklage folgen.

Die Prozessführung war mehr als seltsam: Wichtige Entlastungszeugen wurden nicht angehört. Am „Tatort“ war keine Spurensicherung vorgenommen worden. In die Aufklärung des Geschehens war keine Morduntersuchungskommission mit Spezialisten eingeschaltet worden. Die Untersuchungen wurden nur durch gewöhnliche Carabinieri vorgenommen. All das wurde durch den Gerichtshof nicht einmal beanstandet.

In dem Verfahren blieb ein entlastendes Gutachten des Gerichtsmediziners Professor Aldo Franchini von der Universität Padua unberücksichtigt, der festgestellt hatte, dass Falchi’s Schädelbruch mutmaßlich durch den Sturz in das Bachbett verursacht worden sei.

So denkwürdig wie das Verfahren, war auch die erst Monate später ausgefertigte Begründung des Urteils durch das Gericht. Darin steht folgender bezeichnender Satz:

„Was den Zeitpunkt des Todes von Falqui angeht, tappen wir völlig im Dunkeln. Wir können nicht mit ruhigem Gewissen ein abschließendes Urteil abgeben, da die Voruntersuchungen uns nicht die notwendigen Beweise geliefert haben.“ (Zitiert aus: Österreichische Liga für Menschenrechte, Sektion Tirol: „Justiz in Südtirol“, Innsbruck 1958, S. 22)

Nicht einmal die Tatsache, daß Falqui vollkommen betrunken war, als das Unglück geschah, daß sich zehn Stunden nach dem Tod in seinem Blut 1,7 Promille Alkohol, ja in seinem Magen unverdauter Alkohol befand, hatte das Gericht in seiner Urteilsbildung auch nur im geringsten beeinflusst. Unglücksfall durch Sturz eines schwer betrunkenen italienischen Finanzbeamten in der Dunkelheit? Unmöglich! Das Gericht erklärte vielmehr: Die Behauptung, daß Falqui betrunken gewesen wäre, ist eine letzte Schmähung des Opfers. Es stimmt, daß das gerichtsärztliche Gutachten 1,7 Promille Alkohol im Blut festgestellt hat. Trotzdem nimmt das Gericht nicht an, daß Falqui betrunken gewesen ist. Denn wenn die ärztliche  Blutuntersuchung nicht gewesen wäre, dann würde kein Mensch es wagen, zu behaupten, daß das Opfer betrunken war.“ (Zitiert aus: Österreichische Liga für Menschenrechte, Sektion Tirol: „Justiz in Südtirol“, Innsbruck 1958, S. 23)

Fürwahr eine seltsame Logik!

Ein furchtbares Urteil

Das Urteil erster Instanz wurde am 16. Juli 1957 gesprochen. Als des Mordes schuldig gesprochen erhielten: Alois Ebner 24 Jahre Kerker, Florian Weissteiner 16 Jahre Kerker, Georg Knollseisen 16 Jahre Kerker, Paul Unterkircher l0 Jahre Kerker, Bernhard Ebner 16 Jahre Kerker, Isidor Unterkircher 16 Jahre Kerker, Johann Huber, der nachweislich nicht einmal am Raufhandel beteiligt war und für den selbst der Staatsanwalt Freispruch beantragt hatte: 13 Jahre Kerker.

Schlagzeile in einer österreichischen Tageszeitung vom 18. Juli 1957.

Ein „Urteil – würdig der vornehmen Traditionen der italienischen Justiz“

Das Urteil rief in ganz Tirol Entsetzen hervor. Bis jetzt hatte man der Korrektheit der italienischen Justiz vertraut. Österreichs Bundeskanzler Dr. Ing. Julius Raab bezeichnete am 4. August 1957 das Urteil als unverständlich.

Hierauf antwortete der italienische Justizminister Gonella: „Das Urteil muss als Akt klarer Gerechtigkeit bezeichnet werden, durchaus würdig der vornehmen Traditionen der italienischen Justiz …“ („Dolomiten“ vom 8. August 1957)

Verschärfung in der Berufungsinstanz

Die Illustrierte STERN veröffentlichte dieses Bild von den Pfunderer Burschen in der  Berufungsverhandlung in Trient. Ganz links im Bild: Alois Ebner.

In der Berufungsinstanz wurde das erstinstanzliche Urteil 1958 für 6 Angeklagte noch verschärft. Alois Ebner erhielt nun eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Lediglich Johann Huber wurde von der Mordanklage mangels an Beweisen freigesprochen und auf freien Fuß gesetzt.

Auch dieses Urteil rief wiederum in ganz Tirol Entsetzen hervor. In Südtirol fasste die „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) am 31. März 1958 nachstehende Entschließung:

Aus „Dolomiten“ vom 1. April 1958.

Am 1. April 1958 ruhte in ganz Nordtirol von 10 Uhr bis 10.05 Uhr alle Arbeit zu einem Gedenken an die Pfunderer Burschen. Landeshauptmann Dr. Tschiggfrey, erklärte während dieser Gedenkminuten über den Rundfunk:

„In diesen Augenblicken ruht die Arbeit in Stadt und Land. In Häusern und Fabrikhallen schweigt  der Lärm. Das Tiroler Volk denkt, von tiefstem Leid erfasst, an jene sechs jungen Bauernsöhne eines entlegenen Südtiroler Bergdorfes, deren Leben durch einen Richterspruch ganz oder teilweise vernichtet wird.“

Zahlreiche österreichische und bundesdeutsche Zeitungen berichteten über das Schicksal der Pfunderer Burschen.

 Am 16. Januar 1960 änderte der italienische Kassationsgerichtshof das unglaubliche Urteil gegen die Pfunderer, nur unwesentlich ab. Alois Ebner erhielt nun 25 Jahre und 4 Monate Kerker statt lebenslanger Haft.

Europaweit hatte jedoch die Kritik an dieser politisch geprägten Justiz zugenommen.

In einem Gutachten hatte 1958 der international renommierte Kriminologe Prof. Dr. Armand Mergen, Universitätsprofessor für Kriminologie an der Universität Mainz, schwerste Unterlassungen der Erhebungsbehörden und des Gerichtes festgestellt und war zu dem Schluss gekommen, dass die Schuld der Verurteilten nicht bewiesen worden sei.

Dieses Gutachten wurde auch in gedruckter Form veröffentlicht und fand weites Echo in der europäischen Presse.

Die Menschenrechtskommission des Europarates empfahl am 23. Oktober 1963 eine Begnadigung. Die römische Regierung benützte nun diesen Ausweg aus dem Dilemma, in welches sich Italien selbst durch dieses Verfahren gebracht hatte. 1964 wurde Paul Unterkircher begnadigt, der seine Haftstrafe schon nahezu abgesessen hatte. Am 18. Dezember begnadigte der italienische Staatspräsident die vier Pfunderer Burschen Bernhard Ebner, Florian Weißsteiner, Isidor Unterkircher und Georg Knollseisen. Der letzte Begnadigte, Alois Ebner, wurde erst am 25. November 1969 begnadigt und kehrte am 27. November 1969 nach 13 Jahren ungerechtfertigter Haft nach Hause.

Ein italienisches Sprichwort sagt in Hinblick auf die Justiz: „Wo die Politik eintritt, entfernt sich die Gerechtigkeit!“ 

Am 21. Juli 2020 veröffentlichte die Südtiroler Tagezeitung „Dolomiten“ ausführlich den Bericht des „Südtiroler Heimatbundes“.




Moskauer Nächte

Der deutsch-österreichische Historiker und Publizist Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt, hat uns dankenswerter Weise nachstehenden Beitrag über tragische Schicksale zur Verfügung gestellt, die nicht der Vergessenheit anheimfallen sollten. 

Im „Massengrab mit nicht abgeholter Asche“ verschwanden Stalins letzte Opfer aus Österreich und Deutschland

 Von Reinhard Olt

Ein berühmter österreichischer Kammersänger Südtiroler Abstammung

Unlängst beging der weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte und an zahlreichen internationalen Opernbühnen wirkende Tenor Adolf Dallapozza seinen 80. Geburtstag. Kammersänger Dallapozza, Ehrenmitglied der Wiener Volksoper, entstammt einer Südtiroler Familie. Vater Virginius war kunstgewerblicher Maler aus Bozen, die musisch begabte Mutter Gisela, eine gebürtige Bartolotti, aus Branzoll im Südtiroler Unterland. Aus der am 21. Juni 1921 geschlossenen Ehe gingen neun Kinder hervor. Adolf Dallapozza, der jüngste Sohn, war, wie seine Geschwister, noch in Südtirol geboren worden. Er kam, noch in seinem Geburtsjahr 1940, mit der gesamten Familie infolge des zwischen Hitler und Mussolini geschlossenen Optionsabkommens, zufolge dessen sich die Südtiroler entscheiden mussten, entweder ihre Heimat zu verlassen und ins Reich umzusiedeln, oder in Italien zu bleiben und damit durch erzwungene Assimilation letztlich ihre national-kulturelle Identität an die Italianità zu verlieren, schließlich nach Wien, wo seine internationale Karriere ihren Anfang nahm, und wo er als gefeiertes Ehrenmitglied der Volksoper seinen Lebensabend verbringt.

Das tragische Schicksal des jüngeren Bruders

Anders sein um 15 Jahre älterer Bruder: Emil Dallapozza, am 19. September 1925 noch in Branzoll geboren, ereilte elf Jahre nach der Umsiedlung ein besonders tragisches Schicksal, über dessen nähere Umstände die Eltern – der Vater verstarb 1964, die Mutter 1980 – niemals etwas, die Geschwister, soweit sie noch lebten, erst nahezu 60 Jahre später die Wahrheit erfuhren. Zwar hatte die Familie neun Jahre nach seinem plötzlichen Verschwinden über Nachforschungen des Roten Kreuzes die Mitteilung erhalten, dass er in der Sowjetunion verstorben sei. Nähere Auskünfte waren aber aufgrund des apodiktischen Hinweises, weitere Nachforschungen seien zwecklos, unterblieben.

Emil Dallapozza

Mit Bitterkeit in der Stimme hatte sich Anna-Maria Melichar, eine Schwester, seinerzeit gegenüber Historikern des in Graz ansässigen „Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung“ (BIK), die anhand von Akten aus russischen Archiven den verhängnisvollen Weg nachzeichneten, der für ihren Bruder in einem Moskauer Massengrab endete, und damit den Angehörigen die Augen über das Schicksal des Bruders öffneten, jenes Tages erinnert, da sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte:

„Er ist in der Früh weggegangen und nie mehr wiedergekommen. Meine Mutter hat immer wieder verzweifelt nachgefragt, aber erst 1960 erfahren, dass er gestorben ist – mehr nicht.“

Es war der 11. Juni 1951, als Emil Dallapozza spurlos verschwand. Er war in die Fänge von  Häschern der sowjetischen Spionageabwehr-Sondereinheit SmerSch (Смерш) –  das Akronym steht übersetzt für  „Tod den Spionen“ – und damit in die tödliche Mühle  von Stalins erbarmungsloser Justiz geraten. Grund seiner Festnahme: „Spionage für den französischen Geheimdienst“.

Erschießung im sowjetischen Gefängnis

Aus den Akten geht hervor, dass Emil Dallapozza in St. Pölten die Kennzeichen zweier sowjetischer Kraftfahrzeuge notiert sowie Notizen  über eine dort stationierte Militäreinheit gemacht hatte und auf „frischer Tat“ beim „Sammeln von Informationen“ ertappt und festgenommen worden war. Laut Protokoll des Militärtribunals bekannte er sich im Verhör in Baden bei Wien, wohin man ihn schaffte, zu seiner Schuld. Am 25. August 1951 verurteilte es ihn zur Höchststrafe, zum Tode durch Erschießen; Grundlage war der berüchtigte Paragraph 58 Absatz 6 des Strafgesetzbuchs der UdSSR. Man verbrachte ihn ins Butyrka-Gefängnis nach Moskau, eine wegen vorherrschender Brutalität und entwürdigender Haftbedingungen berüchtigte Anstalt. Dort schrieb er ein Gnadengesuch, in welchem er darlegte, dass er nicht aus politischen Motiven gehandelt habe:

„Der ergebenst Gefertigte Emil Dallapozza […] macht von der sowjetischen Rechtswohltat Gebrauch und bittet um Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe. Zur Bekräftigung seiner Bitte weist er noch auf seine Unbescholtenheit und seine Parteilosigkeit hin, wodurch erwiesen ist, dass seine Straftat keinem politischen Hassgefühl entsprungen ist.“

Am 29. September 1951 lehnte das Oberste Gericht der UdSSR, am  23. Oktober das Präsidium des Obersten Sowjets sein Gnadengesuch ab. Emil Dallapozza wurde am 10. November 1951 erschossen, sein Leichnam eingeäschert und die Asche auf den Donskoje-Friedhof verbracht.

Der Eingang zum Moskauer Friedhof Donskoje

Weitere tragische Schicksale

Wie dem Österreicher aus Südtirol, den die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft (GVP) am 15.Mai 1998, zehn Jahre, bevor seine Angehörigen durch die Grazer Forscher davon Kenntnis erhielten, förmlich rehabilitierte, erging es auch dem 1923 geborenen Deutschen Herbert Killian. Der 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassene vormalige Wehrmachts-Leutnant wurde am 12. April 1950 in Radebeul verhaftet, am 28. September  wegen Spionage zum Tode verurteilt und am 12. Februar 1951 in Moskau erschossen. In seinem Gnadengesuch beteuerte er, „nur unter Zwang“ gehandelt zu haben. Dreimal sei er für seinen Auftraggeber in die SBZ (Sowjetische Besatzungszone des geteilten Deutschland, später DDR) gereist. Wegen „Spionage für den amerikanischen Nachrichtendienst“ – dem Sammeln von Datenüber sowjetische Einheiten und Flugplätze in Berlin, Chemnitz, Cottbus, Bautzen und Berlin – verurteilte ihn ein Militärtribunal in Berlin zum „Tode durch Erschießen“. Zusammen mit Killian wurden zwei weitere Deutsche, Erich Reinhold und Felix Müller, zum Tode verurteilt; gegen 21 weitere Deutsche wurden hingegen „nur“ 25 Jahre Arbeitslager im sibirischen GULag als Strafmaß verhängt. 1994 erklärte die GVP Herbert Killian für rehabilitiert.

Das tatsächliche Schicksal all derer, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter solchen oder ähnlichen Umständen ums Leben kamen, war bis vor wenigen Jahren völlig unbekannt. Zwar hatten Angehörige der Vermissten während der „Tauwetterperiode“ und „Entstalinisierung“ unter Nikita Chruschtschow 1956/57 offizielle Todesmitteilungen erhalten, doch die Todesursachen waren allesamt fingiert: Lungen-Tbc, Nierenversagen, Gehirnblutung. Der entscheidende Hinweis auf ihr wahres Ende kam Jahrzehnte später von Arsenij Roginskij, Chef der einst von Andrej Sacharow gegründeten Bürgerrechtsorganisation „Memorial“. Laut „Memorial“ wurden zwischen 1945 und Stalins Todesjahr 1953 insgesamt siebentausend Menschen  in der „Butyrka“ erschossen, unter ihnen mehr als tausend deutsche und 132 österreichische „Spione“. Roginskij nahm Kontakt zu Stefan Karner auf, dem damaligen  Leiter des BIK in Graz. Dank „Entgegenkommens des Moskauer Staatsarchivs aufgrund jahrelanger vertrauensvoller  Zusammenarbeit“ sei es dann, so Karner, „möglich geworden, die Schicksale dieser besonderen Gruppe unter den letzten Opfern Stalins zu rekonstruieren. Wir haben die Gnadengesuche der zum Tode Verurteilten und die Antworten – sie wurden alle mit einer unvorstellbaren Brutalität abgelehnt.“

Die 24 Jahre alten Buchhalterin Hermine Rotter aus Wien schrieb in ihrem Gnadengesuch: „Ich flehe zu Ihnen, ohne Eltern, ohne Heimat, da ich sonst niemand mehr habe, mein nacktes Leben zu retten und mich von dem grässlichen Tode freizusprechen. Ich schwöre dem russischen Staat meinen heiligen Eid, sollte das Hohe Gericht mir diese Gnade des Lebens erteilen, meine ganze Kraft, Arbeit, Fleiß und guten Willen zu geben und Ihnen in der Sowjetunion zu beweisen, dass ein junges Wiener Mädchen einen großen Fehler begangen  hatte, aber als Wiedergutmachung Ihnen ihr Leben durch Arbeit und ein gutes Herz schenkt. Ich zünde für jeden Soldaten Ihres Landes, welcher im Kriege  starb, abends in  meinem Herzen ein Lichtlein an und denke dabei als Wienerin, alles gutzumachen, was ich an Ihnen verbrochen habe.“ Es half  nichts: Am 9. Oktober 1951 wurde Hermine Rotter im Keller der „Butyrka“ erschossen – wegen „antisowjetischer Spionage“. In derselben Nacht wurde ihr noch nicht erkalteter Leichnam im Krematorium  auf dem Friedhof des ehemaligen Klosters Donskoje verbrannt. Ihre Asche schüttete man ins wenige Schritte entfernte Grab Nr. 3, das „Massengrab mit nicht abgeholter Asche aus den Jahren von 1945 bis 1989“, als das es heute offiziell bekannt ist.

Das heute schön gepflegte Massengrab im Moskauer Friedhof Donskoje

Ihre Angehörigen erhielten nach dem Abschluss des Staatsvertrages und dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Österreich 1955 eine Todesnachricht  mit fingierter „natürlicher“ Todesursache.

Von 2201 Zivilisten, die sowjetische Organe bis 1955 in Österreich verhafteten, erhielten mehr als tausend hohe Haft- und Lagerstrafen.132 Personen verurteilte das Militärtribunal zum Tode: 39 in den Jahren 1945 bis 1947; 93 zwischen 1950 und Stalins Tod am 5. Februar 1953.1947 hatte Stalin die Todesstrafe vorübergehend ausgesetzt; drei Jahre später führte er sie wieder ein. Niemand in Österreich wusste, dass im Kurort Baden bei Wien derartige „Prozesse“ stattfanden, bei denen die Beschuldigten keine Chance hatten, sich zu verteidigen. Die Anklage war stets dieselbe: Spionage; ebenso das Urteil: Tod durch Erschießen.

In den meisten Fällen waren es aber wohl Lappalien, derer sich die Verhafteten „schuldig“ gemacht hatten, getrieben oft aus schierer materieller Not. So im Falle des Stefan Buger. Dieser war Fahrdienstleiter bei der österreichischen Eisenbahn. Im Verhör vor dem Militärtribunal legte er seine „finanzielle und materielle Not“ dar, die ein Angehöriger des französischen Geheimdienstes namens Fuczik „erbärmlich und schändlich ausgenutzt“ habe: „Ich hatte einen Monatslohn von 690 Schilling, auf Lebensmittelkarten  nichts  bekommen,  alles nur am schwarzen Markt. 1 kg Schmalz 400 Schilling, Zucker 220Schilling, Mehl 45 Schilling, ein Ei 230 Schilling, Fleisch 300-350 Schilling. Meine  Familie  unterernährt, Kinder hatten  Hunger und nicht einmal das Notwendigste an Brot und Fett zuhause“, gab Buger zu Protokoll. Als Gegenleistung für Informationen über Fracht und Häufigkeit des  Verkehrs sowjetischer Güterzüge soll Buger „4000-4500 Schilling an Geld oder Produkten wie Schmalz, Mehl, Zucker“ erhalten haben. 1948, nach Fucziks „Verschwinden“, brach er jeglichen Kontakt zum Geheimdienst ab.

Fahrdienstleiter Stefan Buger

Was Buger nicht wusste: Fuczik war wegen Spionage zu 25Jahren GULag verurteilt worden und hatte seinen Namen preisgegeben. Buger wurde am 11. Juli 1952 in Moskau hingerichtet. Daheim rätselte seine ahnungslose Familie jahrelang über die Gründe für sein plötzliches Verschwinden: „Wir haben halt immer wieder spekuliert, ob er als Fahrdienstleiter vielleicht einen Zug mit Juden ins KZ gebracht hat“, sagte sein Sohn.

Ein anderer Fall, den die Grazer Wissenschaftler klärend rekonstruierten, ist der des Leo Thalhammer. „Der Fabrikarbeiter Leo Thalhammer wurde aufgefordert, auf die Kommandantur zu kommen und wurde seither nicht mehr gesehen“, hieß es in einer Meldung der „Arbeiterzeitung“ Ende September 1951.  Seine Frau Anna ahnte sogleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste: „Den Leo ham’s sicha daschossn.“ Sein Schwager Ernst Feichtinger, laut KGB-Akten ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIC, hatte Thalhammer als Informanten angeworben. Er  sollte berichten, was bei den Messerschmitt-Werken in Wiener Neustadt hergestellt wurde. In seinem Gnadengesuch vom 6. Dezember 1951 bot Thalhammer „ … mein „ganzes Können für den Aufbau von  Russland an, um meine Tat gutzumachen“.

Das abgelehnte Gnadengesuch des Leo Thalhammer

Vergeblich: Am 1.März 1952 wurde er zusammen mit seinem Schwager Feichtinger in Moskau exekutiert. 1956 erhielt die Familie die Nachricht, er sei infolge „Zerreißens der Aorta“ verstorben – eine vordergründig zwar korrekte, aber doch zutiefst zynische Darstellung.

Isabella Maria Lederer wiederum wurde die leibliche Verwandtschaft mit einem vormaligen SS-Offizier zum Verhängnis, der für den amerikanischen Geheimdienst arbeitete. Die Grazerin wurde von ihrem Bruder angeworben. Ob sie bloß an Geld kommen wollte, um ihre drei Kinder durchzubringen oder tatsächlich politische  Motive hatte, bleibt ungeklärt. Sie fuhr oft nach Wien, um Flugblätter zu verteilen, auf denen namens eines „Nationalen Arbeitskreises“, einer weißrussischen  Organisation, dazu  aufgefordert  wurde,  die  Fronten  zu wechseln. Stets mit dabei waren ihr 17 Jahre alter Sohn Horst und ihre vier  Jahre  alte  Tochter  Roswitha. Über ihre Festnahme berichtete im Mai 1952 sogar die „Austria Presse Agentur“. Am 18. Juli 1952 sah Horst Lederer seine Mutter zum letzten Mal im „Gerichtssaal“ des sowjetischen Militärs in Baden. Als die Übersetzung des Urteils verlesen wurde, konnten beide das Gehörte kaum fassen: wegen „antisowjetischer Agitation“ Tod durch Erschießen für die 42 Jahre alte Soldatenwitwe und Mutter dreier Halbwaisen; 25 Jahre „Arbeitsbesserungslager“ für den minderjährigen  Sohn. „Sie war wie  versteinert“, erinnerte sich Lederer, „ich streichelte ihr die Hand und sagte ,Es tut mir so leid‘.“

Bild der Familie Lederer aus dem Jahre 1949

Drei Tage nach dem Urteilsspruch schrieb auch Isabella Lederer ein Gnadengesuch: „Ich bitte aus tiefstem Herzen das Präsidium die verzweifelte Bitte einer Mutter zu erfüllen, das furchtbare Urteil zu ändern und mir die Möglichkeit zu geben, einmal wieder mein Leben bei meinen Kindern zu verbringen.“ Am 11. September wurde die Bitte um Gnade abgelehnt, vier Wochen später vollstreckte Wassilij Michailowitsch Blochin im Keller der Moskauer „Butyrka“ das Urteil. Horst Lederer, sein Leben lang erfüllt vom Schmerz über das Schicksal seiner Mutter, hatte Glück: die Sowjetmacht verfrachtete ihn „nur“ nach Alexandrowsk in Sibirien, im Juni 1955 schickte sie ihn nach Hause.

Blochin war von 1924 bis 1953 für die Exekution von „Staatsfeinden“ verantwortlich. Der Gebieter über das „Untersuchungsgefängnis Nr. 2“ trat dabei stets auf, als wolle er die Delinquenten eher köpfen denn ihnen den Genickschuss zu verpassen; er hatte die Kleidung eines Schlächters angelegt: braune Schirmmütze, lange Lederschürze und Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichten. Seine sorgfältig gepflegte Ruhestätte befindet sich keinen Steinwurf entfernt vom Massengrab seiner Opfer.

Der erbarmungslose sowjetische Schlächter Blochin und sein Grabstein auf dem Moskauer Friedhof, wo auch die Asche seiner Opfer beerdigt ist

Dank der Forschungen der Grazer Historiker bekamen sie wie der gebürtige Südtiroler Emil Dallapozza und seinesgleichen zumindest ihre Namen zurück und die Angehörigen sowie die Nachgeborenen Einsichten über ihr gnadenlos-trauriges und menschenverachtendes Schicksal. Tiefschürfende, dokumentierte Befunde und Erkenntnisse darüber bietet das von Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx herausgegebene Buch „Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950-1953“.