Die Langobarden im Süden Tirols

Bild: Siedlungen der Langobarden in Norditalien

von Georg Dattenböck

Der römische Historiker Tacitus verfasste eine ethnographische Beschreibung von Germanien in der Zeit des zweiten Konsulats des Kaisers Trajan, am Höhepunkt römischer Macht.

Unter den vielen nördlich lebenden Stämmen erwähnte Tacitus auch kurz die Langobarden:

„Dagegen macht die Langobarden die geringe Zahl berühmt: inmitten zahlreicher, sehr starker Stämme sind sie nicht durch Gefügigkeit, sondern durch Kampf und Wagemut geschützt“ [„Germania“, 40. Kap.; Stuttgart 1971].

Ein langobardischer Adeliger und Mönch aus dem Kloster Monte Cassino namens Paulus Diakonus schrieb, nach Verfasseransicht im 10. Jahrhundert, mit großer persönlicher Anteilnahme, einen Teil der Geschichte seines Volkes, bricht jedoch mitten in der Erzählung ab, weil er möglicherweise starb.

[Paulus Diakonus: „Historia Langobardorum“, übersetzt von Otto Abel, Essen/Stuttgart 1986.
Zur Geschichte der Langobarden empfehlenswerte Literatur: Wolfgang Haubrich: „Langobardisch-fränkische Ortsnamen in Oberitalien: Zu den toponymischen Typen Stuttgart, Gamundio und Herstall / Wardstall“ in: „Namenkundliche Informationen NI“ 109/110, S. 269-290, 2017;
Walter Pohl/Peter Erhart: „Die Langobarden. Herrschaft und Identität. Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse“ Bd. 329 – Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Wien 2005; „Die Langobarden“: Katalog zur Ausstellung im Rheinischen Landes-Museum Bonn 2008-2009;
Winfried Menghin: „Die Langobarden – Archäologie und Geschichte; Stuttgart 1985; ders.: „Gotische und langobardische Funde aus Italien“; Nürnberg 1993;
Jörg Jarnut: „Geschichte der Langobarden“; Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982].

Über die nebelhaft-mythischen Ursprünge berichtete P. Diaconus: „Es gibt nämlich eine Insel, die Skadan [Skandinavien] genannt wird, das heißt im Norden, und da wohnen viele Völker. Unter diesen war ein kleines Volk, das man Winniler nannte (…). Es erhoben sich nun gegen sie die Herzöge der Wandalen, nämlich Ambri und Assi mit ihrem Volk und sprachen zu den Winnilern: ‚Entweder zahlt uns Zins oder rüstet euch zum Streit und streitet mit uns. (…)“

Die Winniler siegten und „seit der Zeit wurden die Winniler Langobarden genannt. Und danach brachen die Langobarden auf und kamen nach Golaida und hierauf besaßen sie Aldonus, Anthaib und Bainaib und Burgundaib“ [Literatur dazu: Birger Nerman: „Die Herkunft und die frühesten Auswanderungen der Germanen“, Stockholm 1924; Horst Kelling: „Parum, Kreis Hagenow. Ein Langobardenfriedhof des 1. Jahrhunderts. Materialhefte zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburgs“, Bd. 5, Schwerin 1986; Dr. Gerhard Körner: „Die südelbischen Langobarden zur Völkerwanderungszeit; Bd. 4, Hildesheim/Leipzig 1938; Ralf Bosch: „Die Langobarden. Von der Unterelbe nach Italien“. Katalog zur Ausstellung 1988, Neumünster 1988].

Im Kontext mit archäologischen Erkenntnissen ist anzunehmen, daß die Langobarden von der unteren Elbe (Bardengau?) durch die Siedlungsgebiete der im Osten zurückgebliebenen Reste der Burgunder und dann weiter nach Böhmen/Mähren zogen (im südmährischen Kyjov – deutsch Gaya -, südöstl. von Brünn, wurden über 240 langobardische Gräber gefunden).

Von dort aus besetzten sie 489 unter Führung ihres Königs Godeoc das Rugierland (heutiges Wald- und Weinviertel nördlich der Donau), nachdem zuvor (487) der römisch-germanische Heermeister Odoaker die Rugier unter ihrem König Fewa geschlagen hatte.

Unter Führung von König Tato, dem Enkel von Godeoc, zogen sie in das Marchfeld östlich von Wien und besiegten 510 in Pannonien die Heruler unter deren König Rodulf:

Und es stritt Tato mit Rodulf, dem König der Heruler, und tötete ihn und trug seinen Banner und seinen Helm davon. Nach ihm hatten die Heruler keinen König mehr“ [P. Diaconus, w.o.].

Die Lage in Europa nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches 476 (Quelle: Historischer Schul-Atlas, Wien 1935).

Mit der Unterstützung des byzantinischen Kaisers Justinian I. siedelten die Langobarden nach diesem erfolgreichen Kampf unter ihren Königen Wacho und dem auf diesen folgenden König Audoin, in ganz Westpannonien, einschließlich des heutigen Burgenlandes.  [Literatur dazu: Eduard Beninger/Herbert Mitscha-Märheim: „Das langobardische Gräberfeld von Nikitsch, Burgenland. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland“, Heft 43, Eisenstadt 1970; Peter Stadler: „Das langobardische Gräberfeld von Mödling, Niederösterreich“ in: „Archaelogia Austriaca“ 63, Wien 1979].

Die Grabfunde in Pannonien zeigen, daß damals die Langobarden auffallend groß (ø 1,8 m) und muskulös waren, ihre Frauen waren ebenfalls sehr groß (ø 1,7 m).

Ihre nunmehr östlichen Nachbarn, die gotischen Gepiden, konnten die Langobarden 567, im Bündnis mit den Awaren, ebenfalls noch besiegen, die übermächtigen Awaren, deren Herkunft und Sprache heute immer noch umstritten ist, jedoch nicht mehr.

[Einen fundierten Überblick über die damalige Lage gibt der Althistoriker Roland Steinacher: „Rom und die Barbaren. Völker im Alpen- und Donauraum 300-600“; Stuttgart 2017; siehe dazu auch Walter Pohl: „Die Gepiden und die Gentes an der mittleren Donau nach dem Zerfall des Attilareiches“ in: Herwig Wolfram/Falo Daim (Hrsg.): „Die Völker an der mittleren und unteren Donau im fünften und sechsten Jahrhundert.“ Hg. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften. Band 145, Veröffentlichungen der Kommission für Frühmittelalterforschung, Band 4, Wien 1980; Walter Pohl: „Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr.“, München 2002].

Daher sah Langobardenkönig Alboin für die Zukunft seines (geschätzten) 100 bis 150.000 Köpfe zählenden Volkes nur mehr den Einmarsch in das geschwächte Italien als einzigen Ausweg an. Man kann diesen folgenschweren Entschluss Alboins auch als eine ziemlich überstürzte Flucht vor den Awaren beurteilen.

Von Trient aus beherrschte der im Dienst des byzantinischen Feldherrn Narses stehende herulische Heermeister Sinduald mit 3000 Reitern die Heerstraße via claudia augusta und die Brennerstraße. Sinduald empörte sich gegen Narses, wurde von diesem jedoch am Fluß Brenta, der südöstlich von Trient entspringt, geschlagen und zur Abschreckung sogleich gehängt. Diese militärische Schwäche der Römer/Byzantiner nutzte den Langobarden:

 „Am Tage nach dem heiligen Osterfest, dem zweiten des Monats April im Jahre der Menschwerdung des Herrn 568“ [Paulus D., w.o.], zogen die Langobarden, als letztes Germanenvolk in einer langen Vorgängerreihe, mit großen Viehherden, mit all ihrem Hab und Gut, mit vielen Sklaven, im Gefolge auch kleinere Gruppen, darunter an die 20.000 Sachsen, über die Pässe der Julischen Alpen, in Friaul/Venetien ein. 2000 Gespanne umfaßte der Treck und war an die 50 Kilometer lang, berichtet Jürgen Misch [„Die Langobarden. Das große Finale der Völkerwanderung“, S. 154, Pfaffenhofen/Ilm 1977].

„Als nun König Alboin mit seinem ganzen Heer und einem großen Haufen allerlei Volks an die äußerste Mark Italiens kamen, bestieg er einen Berg, der sich dort erhebt, und beschaute Italien, soweit als er hineinsehen konnte“ [Paulus D., w.o.].

Es kann der Monte Matajur (1642 m) gewesen sein, von dem aus ein sehr weiter Rundumblick gegeben ist. Die römischen Sperrwerke der „Claustra Alpium Iuliarum“ im Birnbaumerwald leisteten keinen Widerstand, Cividale wurde kampflos besetzt und wurde in der Folgezeit ein kulturell berühmtes langobardisches Zentrum. Im durch die Pest, Kriege und Hunger entvölkerten Land regte sich nirgends ein Widerstand, Ausnahme waren die befestigten Städte: Mailand, Padua, Mantua und Pavia, das erst nach drei Jahren fiel.

Die später nach den Langobarden benannte Lombardei wurde 569 bis zur Region Piemont im Westen, vom Lago Maggiore und Gardasee im Norden, bis zunächst zum Po im Süden, langsam und dünn besetzt. Es kam zu ständigem Wechsel des Königssitzes zwischen Verona und Mailand, am Ende wurde jedoch Pavia bevorzugt, wo von 647 bis 1050 zweiunddreißig katholische Bischöfe bekannt sind, davon werden 22 ausdrücklich als „Ultramontani“, also als Deutsche bezeichnet. Noch 200 Jahre nach dem langobardischen Einmarsch gab es geschlossene gepidische, sarmatische, suebische und norische Dörfer, berichtet Paulus Diaconus. Nur die große Gruppe der Sachsen wurde immer unzufriedener mit ihrer Lage und sie zogen schließlich in einem abenteuerlichen Marsch nach Norden, zurück in die Heimat.

Carl Freiherr v. Czoernig berichtete 1885 über zentrale Siedlungsplätze der Langobarden [„Die alten Völker Oberitaliens – Italiker (Umbrer), Raeto-Etrusker, Raeto-Ladiner, Veneter, Kelto-Romanen. Eine ethnographische Skizze“; Wien 1885]: „Der Mittelpunkt der langobardischen Ansiedlung in der Lombardei war die Brianza.“ 

Vom Comer See im Norden bis zum Gebiet von Monza im Süden, von Seveso im Westen bis nach Bergamo im Osten, läßt sich dieses Zentrum definieren. Czoernig schrieb weiter, daß die Vasallen der langobardischen Fürsten ‚durch die große Glocke auf dem Brianzaberge gerufen wurden, und dort zeigen sich noch dem forschenden Blick die leisen Spuren des alten Langobarden-Volkes. Namentlich im südöstlichen Theile dieses Landstriches gewahrt man die Leute mit heller Gesichtsfarbe, blonden Haaren und blauen Augen, welche sich von der Umgebung durch ihren stillen und ruhigen Charakter und durch ihren ungewöhnlichen Fleiß in der Bebauung ihrer Scholle unterscheiden. Der Verfasser sah dort in der späten Nacht einen Bauer, welcher bei einer an den Pflug befestigten Laterne seinen Acker bestellte. Diese Gegend war auch der österreichischen Regierung besonders anhänglich, und es erhoben sich im Jahre 1799 vor der Ankunft der österreichischen Truppen die dortigen Bewohner zu einem Aufstande gegen die Republikaner.

Die Langobarden waren berühmte Reiterkrieger und ihr Heer hatte, verteilt über das Land, deshalb auch größere Gehege für die Pferdeherden. Haubrich schrieb [w.o. S. 270], daß ausschließlich nördlich des Po, im Piemont, bei Bergamo, Brescia und Verona diese Gehege, mhd. „stuot-garte aus voralthochdeutsch *stôda-gardôn“ gelegen sind und dokumentiert dies mit vielen urkundlichen Hinweisen, wie z.B. aus dem Jahr 989: „Stodegarda“ bei Brescia, im 11. Jhdt.: „Stoerda“ im Piemont, 1006 und 1095: mit „vicus Stodegarda“ bei Poirino (Turin), 1221: „Scoegarda“ bei Olive (Verona), ebenso gleich bei Longare (Vicenza), 1263 und 1493: „Stuthigarda“ bei Bergamo, ein Hofname „Stolegarda“ bei Varese und ein Ortsname „Stulengarius“ aus Sirmione am Gardasee.

Langobardischer Reiter – Beschlag vom Prunkschild aus Stabio Kanton Tessin/Ticino, Schweiz. Im um 1837 unsachgemäß geborgenen Grab 1 von Stabio befanden sich die Beschläge eines Schildes, ein Goldblattkreuz, eine Spatha und eine Lanze, sowie ein Bronzegefäß zu Füßen des Verstorbenen. (…) Die Beschläge waren ursprünglich auf einem gewölbten Schild aus Holz angebracht, der möglicherweise mit Leder überzogen war und einen Durchmesser von 60 bis 70 cm gehabt haben dürfte. Sie bestehen aus feuervergoldetem Bronzeblech und weisen eine Reihe erhaltener Nieten auf, mit denen sie am hölzernen Schild befestigt waren. Dieser Reiter war im äußeren Kreis des Schildes montiert. Exponate in der Ausstellung „Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung“ vom 22.08.2008-11.01.2009 im Rheinischen LandesMuseum Bonn. Leihgaben aus dem Historischen Museum Bern.

Das mit dem Reichsadler gebesserte Wappen der Visconti mit der Herzogswürde von Mailand (aus: „Wernigeroder (Schaffhausensches) Wappenbuch“, 15. Jh.; Bayerische Staatsbibliothek München, Cod.icon. 308 n). Die Visconti leiteten ihren Ursprung aus den Grafen v. Angloria her, die angeblich Nachkommen langobardischer Könige waren.

Das Wappen der Visconti (lat. Vicecomites) geht auf eine langobardische Überlieferung zurück: Sinnbild ist die langobardische Snake oder Unk, was sich auch aus der Verwendung der Schlange in der Symbolik der skandinavischen Runengrabsteine ergibt: die Schlange ist die Bringerin des neuen Lebens, des Kindes.

In der „Vita Sancti Barbati“ wird berichtet, daß die zwar getauften Langobarden trotzdem noch immer an ihren alten Vorstellungen und Bräuchen hingen. Sie verehrten eine goldene Schlange und den heiligen Baum (Irminsul), an dem eine Tierhaut aufgehängt war, durch welche Reiter rückwärts den Speer schleudern mußten: ein nordischer Kultbrauch zur Zeit der Wintersonnwende.

Das „Ökumenische Heiligenlexikon“ berichtet: „Vom heiligen Barbatianus (= der aus der Fremde stammende) berichtet Petrus Damiani in einer kurzen Notiz über die Akten des Barbianus, eine romanhafte Heiligenlegende, die wohl im 9., sicher vor dem 11. Jahrhundert verfaßt wurde. Unzweifelhaft ist also nur, daß Barbatianus Priester am Johannes dem Täufer geweihten Kloster in Ravenna war. Seine Gebeine werden in einem Sarkophag aus dem 6. Jahrhundert in der Kathedrale in Ravenna verwahrt.“

Eine langobardische goldene Schlage – archäologisches Fundstück. (Aus Katalog „Die Langobarden – von der Unterelbe nach Italien“. Veröffentlichung des Hamburger Museums für Archäologie und die Geschichte Harburgs. Neumünster 1988, S. 41)

 Starke Bindungen der Langobarden zu den Baiern

Nicht nur die sehr engen verwandtschaftlichen Bindungen zwischen den frühen Führungsgeschlechtern der Baiern und Langobarden sind historisch evident, sondern auch die Ansiedelung vieler langobardischer Sippen im bairischen Stammesgebiet werden laufend archäologisch erschlossen, so z.B. in Waging a. See [s. dazu: Ronald Knöchlein: „Das Reihengräberfeld von Waging am See“, Hg.: Verein für Heimatpflege und Kultur Waginger See e.V.].

Langobardische Gräberfunde in Waging am See (Fotos: R. Knöchlein, w.o.).

Knöchlein schrieb (S. 42): „Schon lange vor dem Eckdatum 568 war spätestens um 540 eine mehr als Dutzend Individuen umfassende Personengruppe aus den (…) Wohnsitzen der Langobarden donauaufwärts nach Westen gelangt und hatte die Gründergeneration in Waging maßgeblich geprägt. Waging steht unter diesem Gesichtspunkt keineswegs allein. Noch weiter westlich, wie z.B. in der Münchner Schotterebene, läßt sich zur gleichen Zeit wie in Waging, eine Präsenz langobardischer Gruppen feststellen.“ [s. dazu auch: Stephanie Keim: „Kontakte zwischen dem alamannisch-bajuwarischen Raum und dem langobardenzeitlichen Italien“, Dissertation, München 2003].

Langobardenkönig Audoin (*῀515; †῀560) war in 1. Ehe mit der bairischen Herzogstochter Rodelinde verheiratet, aus dieser Ehe stammte König Alboin. Von daher erklären sich die vielen langobardischen Siedlungen in Baiern.

Agilulf war Herzog der Stadt Turin, als er am 15. Mai 589 an der Hochzeit von König Authari mit Theodolinde (*῀570, †627, Grab im Dom zu Monza) teilnahm. Theodolinde war die Tochter des bairischen Herzogs Garibald I. und der Walderada, eine Tochter des Langobardenkönigs Wacho. Theodelinde und ihr Vater waren mit dem Papst Gregor I. befreundet.

Nachdem König Authari am 5. September 590 gestorben war, wurde Herzog Agilulf Anfang November 590, durch Heirat der Witwe Theodelinde, Nachfolger des Authari. Im Mai 591 wurde Agilulf durch die Mehrheit der langobardischen Herzöge anerkannt und gekrönt.

Doch nicht alle waren mit ihm als König einverstanden, aber er setzte sich mit sehr harten Maßnahmen durch: Zangrolf v. Verona und Mimulf, der eine Insel namens Isola San Giulio im Ortasee im Piemont beherrschte, ließ er 593 als Gegner hinrichten.

 „Die Agilulf-Platte zeigt die älteste bekannte Darstellung eines germanischen Herrschers auf dem Thron und bezeugt die Übernahme der römischen Tradition des triumphierenden Fürsten. (…) Zu beiden Seiten des Throns stehen Leibgardisten. Der König trägt das lange Haar und den langen Bart der Langobarden, jedoch keine Krone. In der rechten Hand hält er das Schwert als Zeichen seiner militärischen und richterlichen Gewalt [Text von Herwig Wolfram in: „Das Römerreich und seine Germanen.“  Weimar/Köln 2018].

Auch der Herzog Gaidulf v. Bergamo rebellierte und verschanzte sich auf der einzigen Insel des großen Comer See, wurde von Agilulf begnadigt, nach erneuter Rebellion 593 jedoch ebenfalls hingerichtet. Herzog Ulfari von Treviso, wie ebenso auch die Herzöge Gaidoald v. Trient und Gisulf v. Friaul, rebellierten. Agilulf schlug diese Aufstände 602 nieder und begnadigte die Rebellen.

König Agilulf (†615) war, wie ursprünglich die Langobarden seit 565, arianisch-christlichen Glaubens, jedoch waren sie damals noch stark ihrer alten, nordischen Glaubenswelt verhaftet. Als christliche Schutzpatrone wählte sich dieses Kriegervolk zielstrebig zwei streitbare Heilige: die beiden Drachentöter St. Michael und St. Georg.

Agilulfs Gattin Theodolinde war jedoch katholisch und war eine sehr starke Persönlichkeit. Auf ihren großen Einfluß und Betreiben hin wurden die Langobarden langsam Katholiken, darunter auch ihr Sohn, Adaloald (auch Adalwald, *602 Monza, †626, von 615 an König), der vom Bischof v. Trient katholisch getauft wurde und eine Tochter des Frankenkönigs Theudebert II. ehelichte.

Seine religiöse Toleranz zeigte Agilulf, als er dem irischen Missionar Columban im Jahr 612 für die Gründung des später berühmten Klosters San Colombano in Bobbio bei Piacenza viel Land schenkte. Bobbio wurde religiöses Zentrum gegen den Arianismus (!) und besaß eine der größten Bibliotheken des Mittelalters. Unter der Herrschaft Napoleons wurde das Kloster Bobbio 1803 aufgelöst. Napoleon scheute auch nicht davor zurück, sich mit der Eisernen Krone der Langobarden am 26. Mai 1805 im Mailänder Dom zum König von Italien krönen zu lassen.

Die sogenannte ‚Eiserne Krone‘ der Langobarden wird im Altartabernakel in der Kapelle der Theudelinde (Cappella di Teodolinda) des Doms von Monza aufbewahrt. Im Wappen des Königreichs Italien war sie als Helmzier abgebildet. Die Krone besteht aus einem sechsteiligen, grün-emaillierten und mit 22 Edelsteinen besetzten Goldreif. Er wird im Inneren von einem Metallring zusammengehalten, der der Legende nach aus einem Nagel vom Kreuz Christi hergestellt wurde. Es erscheint jedoch nach neueren Forschungen fraglich, daß die Krone von ihrer heutigen, inneren Befestigung ihren Namen hat, die weder aus Eisen besteht, noch in die Entstehungszeit zurückreicht. Vielmehr könnte sie zu früheren Zeiten einen weiteren, inzwischen verlorenen, tatsächlich eisernen Bügel gehabt haben. Eine nähere Untersuchung ergab, daß Wachsbestandteile aus dem Zeitraum um 500, also dem Übergang von der Antike zum Mittelalter, stammen könnten (…) Die chemische Analyse von 1993 ergab zwei aufeinander folgende, noch frühere Entstehungsperioden einzelner Bestandteile um 450/500 und um 800 Das würde eine Anfertigung in der Völkerwanderungszeit, also zur Herrschaft der Langobarden bestätigen. (s. dazu: Wikipedia > Eiserne Krone).

 Die langobardischen Arimannen im südlichen Tirol

 Die Langobarden hatten historisch zweifellos auch einen starken Bezug zum südlichen Tirol (dem späteren Welsch-Tirol), vor allem durch jene die Grenzen sichernden bäuerlichen Kriegersippen, Arimannen genannt. Dieser Name wird vom germanischen Hariman = Heermann, altnordisch hermaðr, abgeleitet.

Noch am Ende des 10. Jhdts. werden urkundlich hunderte dieser Arimannen in Italien erwähnt, darunter z.B. ein Rainer v. Ravenna, dessen Vater Teudegrimm und dessen Mutter Ingelrada hießen. Allein im Umkreis von Ravenna an der Adria bestanden im 10. Jhdt. noch drei arimannische Siedlungen: Consandolo, Ficarolo und Trento [Regesta Imperii, II. Sächsische Zeit, 5. Abt. Papstregesten 911-1024].

Um das Jahr 575 erreichten die Langobarden den Raum bis kurz südlich vor Bozen. Damit hatten sie die militärstrategisch wichtige Talgabelung mit dem wohl dort stehenden Castrum Pons Drusi (in der deutschen Sage nach Ansicht des Verfassers ‚Brictan‘), in ihrer Hand. Es könnte sich um das heutige Sigmundskron handeln, das in dieser Talgabelung und hoch über Etsch und Eisack steht und erstmals urkundlich 945 als Formigar erwähnt und von Kaiser Konrad II. 1027 dem Bischof Udalrich II. v. Trient übergeben wurde. Die Beherrschung dieser Stelle war folgend für die Auseinandersetzungen mit den Franken von Vorteil: Herzog Ewin v. Trient konnte ein angreifendes fränkisches Heer bei Salurn schlagen.

Prof. Dr. Richard Heuberger schrieb ausführlich über diese Siedlungen der Arimannen im Süden Tirols [in: „Limes Tridentinus. Ein Beitrag zur Geschichte des spätrömisch-ostgotischen und byzantinisch-langobardischen Grenzschutzes“; in: „Voltelini-Festschrift, Veröffentlichungen des Museums Ferdinandeum“, Heft 12, Jg. 1932, Innsbruck].

Er berichtete, daß „der von Trient verwaltete Teil des Etschtales samt den zugehörigen Seitentälern durch Arimannen gesichert wurde, die an Stelle der römischen ‚milites limitanei‘ getreten waren (…). Auch die Langobarden werden sich (…) zunächst darauf beschränkt haben, die von ihnen im alpinen Flußgebiet der Etsch, im Sacratal und in der Valsugana vorgefundenen Kastelle und Talsperren für die Zwecke der Landesverteidigung zu nützen.“

Heuberger schrieb jedoch auch einschränkend (S. 50), daß sich im Einzelnen nicht feststellen läßt, in welcher Weise mit der Ansiedlung langobardischer Krieger im Herzogtum Trient und in dessen Nachbarschaft verfahren worden ist: ‚Denn die Arimannien dieser Gegenden werden (…) erst in den Urkunden des 12. Jahrhunderts und der Folgezeit genannt und sie erscheinen in diesen Quellen nur mehr als Landgüter, deren persönlich freie Inhaber bestimmte Abgaben, nicht aber Waffendienste zu leisten hatten.“

 Der Toponomastik-Experte und Sprachforscher Dr. Egon Kühebacher bemerkte zu den Langobarden in Tirol [„Zur Geschichte der Sprachbewegungen in der deutsch-italienischen Grenzzone des Etschgebietes“ S. 273; in: „Das Südtiroler Unterland. Jahrbuch des Südtiroler Kulturinstitutes“, Bozen 1980]:

„Nach den Erkenntnissen der Geschichtsforschung entstand im Herzogtum Trient wie überall im Langobardenreich Siedlungen von Arimannen, das sind Krieger mit ihren Sippen, und zwar an politisch und wirtschaftlich wichtigen Orten. Arimannensiedlungen konnten bisher im Fleims- und Cembratal, am Nonsberg und bei Sopramonte nordwestlich von Trient, bei Civezzano und Arco gefunden werden; in jenem Teil des Trienter Herzogtums, der später für den deutschen Sprachraum gewonnen worden ist, also im Unterland und im Gebiet rechts der Etsch, sind solche Siedlungen bisher nur in Montan und Auer nachgewiesen. Wahrscheinlich kam es aber sowohl nördlich als auch südlich von Salurn zu weit mehr Niederlassungen langobardischer Leute. Man findet nämlich auch in diesem nördlichsten Teil des Herzogtums Trient viele Ausdrücke der Rechts-, Verwaltungs- und Militärsprache, die aus dem Langobardischen ins Romanische übernommen worden sind, urkundlich immer wieder belegt, ja sie drangen auch in die Amtssprache der Grafschaft Bozen ein, die ja mit Trient eng verbunden war.

Es erhebt sich nun die Frage, wie lange diese Langobarden ihre germanische Muttersprache bewahrt haben. Während eine gegen Ende des 10. Jahrhunderts in Salerno verfaßte Aufzeichnung meldet, daß die Langobarden die germanische Sprache bereits abgelegt hätten, äußert hundert Jahre früher Bischof Luitprand von Cremona im Namen der Langobarden ein starkes langobardisches Volksgefühl gegenüber den Romanen und einige Jahrzehnte vorher zeigte Paulus Diaconus Warnefried noch eine lebendige Kenntnis der langobardischen Muttersprache. Sicher ist das Absterben dieser Sprache nicht in allen Teilen Italiens gleichzeitig erfolgt, der letzte Beleg für ein langobardisches Sprachleben stammt aus dem Jahre 1000.“

 Die Sprachenfrage war immer eine Machtfrage

„Die ‚gens Langobadorum‘ waren sprachlich mit Alemannen und Baiern eng verwandt“ [W. Haubrich, w.o.]

Dr. Egon Kühebacher stellte zu den Namen und der Sprache in Tirol fest: „Bei ihrer Siedlungstätigkeit haben die Bajuwaren in Tirol zunächst das von der rätoromanischen Bevölkerung gebrauchte geographische Namensgut übernommen und nur für die Neurodungen und Neugründungen deutsche Namen geprägt. Die Namen romanischer Herkunft wurden natürlich im Munde der neuen Siedler nach sprachimmanenten Lautgesetzen umgeformt. Sie verteilen sich wiederum ganz gleichmäßig in Nord- und Südtirol, tragen gleichsam das Signum zweier Sprachen auf der Stirn und spiegeln das Entstehen des heutigen Tiroler Volkes aus der vorromanischen und romanischen Grundschicht und der bairisch-alemannischen Volksschicht wider.“

[Dr. Egon Kühebacher: „Sprache und Namen im Dolomitenland- Beiträge zur Ortsnamenkunde Südtirols“, In: Eckartschrft 188, Wien 2007; siehe dazu auch: Dr. Otto Stolz: „Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der Urkunden“; 3. Band, München und Berlin 1932; derselbe 1955: „Geschichte des Landes Tirol“, Innsbruck].

Die Kirchenführung war in der Gegenreformation stark bemüht, die deutsche Sprache zu verdrängen, da diese als gefährliche Sprache durch Luthers Reformation galt. Ein Kampfmittel dazu war, daß seit dem 17. Jahrhundert sich die deutschen Gemeinden ihre Pfarrer nicht mehr selbst wählen konnten, die bisher stets deutscher Herkunft waren. Immer öfter wurden italienische Geistliche eingesetzt, die verpflichtet waren, nur in Italienisch zu predigen, auch wenn sie die deutsche Sprache beherrschten.

Die Liste der Bischöfe von Trient legt jedoch nahe, daß es seit der Langobardenzeit auch im Herzogtum Trient bzw. der späteren Grafschaft Tirol eine Kontinuität des hier ansässigen Volkes gab. Die Namen der Bischöfe von Trient sind, bis auf wenige biblische Namen, durchwegs germanischen Ursprungs: Heimpert, Udalschalk, Adelgis, Fridebert, Gisulf, Bertald, Konrad I., Bernhard I., Lantram, Arnold, Rainoard, Udalrich I., Udalrich II., Hatto, Heinrich I., Bernward, Adalbero, Gebhard, Adelpret, Altmann, Arnold, Eberhard, Adalbert II., Albrecht I., Konrad II., Friedrich v. Wangen, Adalbert III., Gerhard I., Alderich, Egno v. Eppan, Heinrich II. usw. Auch das älteste Statut der Stadt Trient ist in Deutsch abgefaßt! Ebenso aufschlussreich ist die Bischofsliste von Verona, wo zunächst 28 Bischöfe mit römischen Namen aufscheinen und ab 802 bis 1200 werden fast ausschließlich Bischöfe mit deutschen Namen genannt, von 1070 bis 1118 sogar sieben Bischöfe in ununterbrochener Reihenfolge.

Das als Reaktion auf Luther zeitlich viel zu spät angesetzte „Konzil von Trient“ welches von 1545 bis 1563 mit Unterbrechungen tagte, wollte in drei Sitzungen die Frage klären, wie die Amtskirche mit der Reformation verfahren sollte. Erklärtes Ziel war, die „Mißstände innerhalb der Kirche“ zu beseitigen. Als Ergebnis wurde u.a. ein „Index der verbotenen

Bücher“ erstellt, es erfolgten viele Neugründungen von katholischen Schulen und

Priesterseminaren, die Anzahl der Kardinäle wurde von 24 auf 70 erhöht und die Bischöfe wurden zur regelmäßigen, persönlichen Berichterstattung nach Rom zitiert.

Als Folgeerscheinung des Konzils wurden die Ladiner und Deutschen im Bistum Trient weitgehend sprachlich italianisiert: In Tirol „kam es zu den letzten Änderungen der Bevölkerungsstruktur bis 1919 (…). In dieser Zeit verstärkte sich der italienische Einfluß im Trentino, was zum einen durch die Besetzung der Pfarreien mit italienischen Priestern und zum anderen durch die Zuwanderungen aus der Poebene verursacht wurde. Durch diese Entwicklung entstand die noch heute bestehende deutsch-italienische Sprachgrenze, südlich derer nur die deutschen Sprachinseln der Zimbern verblieben“ [Wikipedia > Risorgimento].

Dieser voranschreitenden Italianisierung wurde u.a. der Weg geebnet durch die Vornamensgebung bei der Taufe, der Änderung von Familiennamen (z.B.: von Nikolaus in Nicolussi), der in Italienisch gehaltenen Predigten, der ausgestellten Dokumente, bis hin zu den Aufschriften auf den Grabsteinen.

 Wolf Schmid bemerkte zum Priesteraustausch [in: „Deutsche Sprachwelt“, Ausgabe 50, 2012/2013]: „Mit zunehmender Ausbreitung der Reformation hörten der ständige Zuzug und die Berufung deutschsprachiger Seelsorger aus dem Norden fast vollständig auf. Diese wurden durch Geistliche ohne deutsche Sprachkenntnisse aus dem Süden ersetzt, was auf die schulische Erziehung großen Einfluß hatte.“

Ein bemerkenswertes Buch schrieb Josef Bacher [„Die deutsche Sprachinsel Lusern“; Innsbruck 1905; in: „Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer“].

Nach seinen umfassenden Darstellungen hatte das deutsche Sprachgebiet eine weitaus größere Ausbreitung in ganz Norditalien, als allgemein heute angenommen wird.

Karte von Bernhard Wurzer in: ‚Die deutschen Sprachinseln in Oberitalien“, Bozen 1983. Wurzer: „Aus allen historischen Berichten ist zu entnehmen, daß ein großer Teil des Trentinos erst innerhalb der letzten 400 Jahre italienischsprachig geworden ist. Ein engmaschiges Netz bilden z.B. alle jene Orte, in denen der ehemalige Gebrauch der deutschen Sprache in Kirche und Amt nachgewiesen werden kann.“

Folgende Aufstellung des Verfassers über Ortsnamen in Welschtirol erhebt keinen Anspruch auf eine Vollständigkeit, da viele Weiler, Berg- und Flurnamen hier nicht berücksichtigt sind. Es ist auch nicht gewiß, wie viele der Namen bereits aus der langobardischen Zeit stammen.

  deutsch Italienisch
001 Ahl am Etsch, auch Halla Ala 080 Metzlan Mezzana
002 Albian Albiano 081 Moor Mori
003 Aldein im Lagertal Aldeno 082 Munglassich Monclassio
004 Altspaur Spormaggiore 083 Munig Nomi
005 Andel Andalo 084 Naag-Turbel Nago-Torbole
006 Ardey Daré 085 Nain Nanno
007 Atzenach Tenna 086 Neuenhaus Castelnuovo
008 Aue Avio 087 Neuspaur Spornminore
009 Baume/Pfleif Pieve di Bono 088 Nogareit Nogaredo
010 Bedull Bedollo 089 Nombel Dambel
011 Bersaun Bersone 090 Nußdorf Volano
012 Bisein/Pysein, Kastell Besenello 091 Oberpfeid Fai della Paganella
013 Blein Bieno 092 Oberpless Belggio Superiore
014 Butschenach Bocenago 093 Obertelf Telve di Sopra
015 Brandtal Vallarsa 094 Paluch Pelugo
016 Bulben Bolbeno 095 Pardatsch Predazzo
017 Bund Bondo 096 Paternion Padergnone
018 Bunden in Tirol Bondone 097 Pfaid Faedo
019 Burg im Suganertal Borgo Valsugana 098 Pfund Fondo
020 Bregutz Breguzzo 099 Pinzol Pinzolo
021 Brissen Bresimo 100 Plaiff Calceranica al Lago
022 Bretz / Britsch Brez 101 Pflaumb Flavon
023 Breon Brione 102 Pletzen Pellizzano
024 Campden / St. Michael Campodenno 103 Polai im Fersental Palu del Fersina
025 Deyen Daiano 104 Pommarül Pomarolo
026 Diemmer/Dietmarsdorf Dimaro 105 Porfür Preore
027 Daun/Thann Don 106 Potzach im Fassatal Pozza di Fassa
028 Drau Dro 107 Prax Praso
029 Dursin Dorsino 108 Primör Fiera de Primiero
030 Eichberg S. Orsola Therme 109 Ragel/Ragais Ragoli
031 Eichholz Rovere della Luna 110 Ramöl Romall
032 Fafer Faver 111 Randendorf Villa Rendena
033 Fersen im Suganatal Pergine Valsugana 112 Rautberg Ronchio Valsugana
034 Florutz Fierezzo 113 Rofereit Rovereto
035 Fornas Fornace 114 Romen Romeno
036 Frenten Brentonico 115 Ronz-Klens Ronzo-Chienis
037 Gallnötsch Caldonazzo 116 Roßbach Calliano
038 Gaßlöss Cavalese 117 Ruffreit-Mendel Ruffre
039 Garnich Garniga Terme 118 Rumes Romo
040 Gereut Frassilengo 119 Rundscheinberg Roncegno Terme
041 Glöß Cles 120 Rungaun Roncone
042 Gofidach Cavadago 121 Sagraun Sagron Mis
043 Graun Grauno 122 Sankt Lorenz S. Lorenzo Banale
044 Grumeis Grumes 123 St. Michael a. d. Etsch S. Michele  l’Adige
045 Imor Imes 124 Sanzinnen Sanzeno
046 Kaferlan Capriana 125 Sarmunich Sarnonico
047 Kaldrein Carano 126 Schöffbrück Nave San Rocco
048 Kalfein Calavino 127 Sfrutz Sfruz
049 Kalteis/Kalds Caldes 128 Siraur Siror
050 Kampdiel im Fassatal Campitello di Fassa 129 Smarein Samarano
051 Kanal St. Buf Canal San Bovo 130 Spittal bei Yfän Ospedaletto
052 Kanau Cagno 131 Steineck Stenico
053 Kastelpfund Castelfondo 132 Stremben Strembo
054 Kavedein Cavedine 133 Tassol Tassulo
055 Kavitzan Cavizzana 134 Terzels Terzolas
056 Klotz Cloz 135 Teser im Fleimstal Tesero
057 Komaun Comano Terme 136 Thaul Taio
058 Kommedür Commezzadura 137 Thenn Tenno
059 Koreth Coredo 138 Thun Ton
060 Korfelan Croviana 139 Tonadik Tonadico
061 Kronmetz Mezzocorona 140 Trient Trento
062 Kuen Cunevo 141 Trumelberg Trambileno
063 Kunden Condino 142 Tscheiss Cis
064 Lafraun Lavarone 143 Tschimon Cimone
065 Lagertaldorf Villa Lagarina 144 Türtchen Torcegno
066 Laifs Lavis 145 Überwasser Soraga
067 Larder Lardaro 146 Vielgereuth/Folgraith Folgaria
068 Lassen Lasino 147 Vigg im Fasstal Vignola Falesina
069 Leimtal Terragnolo 148 Wald im Fassatal Valda
070 Lifers Livo 149 Walzburg Vigolo Vattaro
071 Lissenach Lisignano 150 Warren Varena
072 Lohne-Lazes Lone-Lases 151 Weißbach Panchia
073 Löweneck Levico Terme 152 Wermel Vermiglio
074 Lusern Luserna 153 Wulsan Ossana
075 Maleit Male 154 Zalban Zambana
076 Malfein Molveno 155 Zenten Centa San Nicolo
077 Malusch Maosco 156 Zimeck Cimego
078 Matzin Mazzin 157 Zimmers/Zimber Cembra
079 Matzan im Taufers Mezzano 158 Zivernach Civezzano
159 Zustin Giustino

Die Zimbern, ihre Herkunft und ihre Sprache

Historische (gelb) und gegenwärtige (orange) Ausbreitung der zimbrischen Sprache (aus: Wikipedia > Zimbern, Self-drawn by Hanno).

Die Wissenschaft sagt heute über die Zimbern in den „Sieben und Dreizehn Gemeinden“, daß diese ursprünglich aus Baiern stammten, jedoch zunächst in der Ebene nördlich von Viacenza, am Fuß der Alpen siedelten. Die Mutterkirchen der Sieben Gemeinden waren: Arsie, Campese (Ganwiese), Marostica, Breganze und Caltrano, von dort aus wurden sie als Rodungsbauern nach Norden verpflanzt. Diese „Sieben Gemeinden“, die am Auslauf des Gebirgsstockes zwischen den Flüssen Brenta und dem Astico auf einer weiten Hochebene liegen, sind:

Asiago (deutsch: Sleghe = Waldschläge, daher die „Schlägler“);

Roane (deutsch: Roban);

Rozzo (deutsch:  Rotz);

Gallio (deutsch: Ghel);

Fozza (deutsch: Vüsche);

Enego (deutsch Genebe = gegen Eben);

Lusiana (deutsch Lusan).

Nach der Volkszählung von 1854 hatten diese Gemeinden 22.742 Bewohner.

Auch die zimbrische Besiedelung auf der 900-1000 m hohen Hochebene von Folgrait (zimbrisch; hochdeutsch: Vielgereuth, ital. Folgaria), östlich von Rovereto (Rofreit), wird im 12. Jahrhundert von Sleghe aus erfolgt sein. Folgrait war bis in das 20. Jhdt. mit Lavròu, (zimbrisch; hochdeutsch Lafraun, ital. Lavarone) ebenfalls eine zimbrische Sprachinsel.

Durch Mussolini, Tolomei und deren faschistischer Terrorherrschaft wurde das Zimbrische insgesamt unterdrückt, verboten und durch das Italienische völlig verdrängt. Heute sprechen noch etwa 200 Menschen in Lusern ihre alte zimbrische Muttersprache.

Alter zimbrischer Mann. Foto aus dem 19. Jhdt., Archiv d. Verf.

Dr. Werner Robl schrieb, daß die „Kimbern, Juthungen und Bajuwaren in einer direkten Abstammungs- und Traditionslinie stehen“ [in: „Schlüssel zum Verständnis Bayerns. Kimbern, Juthungen, Bajuwaren, Zimbern: 4 Namen, 1 Volk, 2140 Jahre referierte Geschichte“ www.robl.de ]

Dr. Egon Kühebacher bemerkte zu den Zimbern [„Die deutsche Sprache in Oberitalien“, Seite 3 in: „Südtirol in Wort und Bild“ 2/1995], daß „sich in diesem deutschen Siedlungsraum ein eigenes Kulturleben entfalten konnte. Das Zimbrische, wie die dort einst verbreitete und heute nur mehr in Lusern lebende Form der deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert genannt wird, war früher viel gepflegter und ausdrucksfähiger. Um 1840 war es noch eine richtige Hochsprache. Ihre ausgebildeten grammatischen und lautlichen Gesetzmäßigkeiten erforderten einen wesentlich höheren Grad von Redebeherrschung als das heute dominierende Venezianische.  Es gab auch eine zimbrische Literatur in Form von Predigten, Gedichten, Totenklagen und mündlich überlieferten Sagen, ebenso eine Inkunabel in Form des berühmten Katechismus von 1604, eines der seltenen Bücher der Weltliteratur. Eine Neubearbeitung davon erschien in den Jahren 1813 und 1843, ein Zeichen, daß damals noch der Religionsunterricht in zimbrischer Sprache erteilt wurde. ‚Dar kloane Catechismo vor z’Beloseland vortraghet in z’Geprecht von Siben Kamün‘, wie diese Bearbeitung heißt, bringt in seinem Anhang vier „Malghe Gasang“, die in Lusern heute noch gesungen werden.“

Der zimbrische Wortschatz ist überwiegend bairisch mit typischen Ausdrücken, wie z.B.: erta (Dienstag), finzta (Donnerstag), foat (Hemd) und khrånebitt (bairisch Kranewitt = Wacholder). Es gibt einige altertümliche Wörter, die in anderen Gegenden schon sehr lange ausgestorben sind, so z.B. lüsnen (zuhören) und khödan (sagen, althochdeutsch quëdan).

Im „Zimbrischen Katechismus“ von 1602 lautete das zimbrische Vaterunser:

„Vater unzer derdo pist in die himele, gheaileget ber dain namo, zukem dain raik. Dain bil der ghesceghe also bia ime himele also in der erden. Ghibuz heute unzer teghelek proat. Unt vorghibe zu unzere sunte also bia bier vorgheben unzer soleghern. Sonder erluosuz von ubel.“ [Literatur über die Zimbern: Karin Heller/Luis Prader/Christian Prezzi: „Lebendige Sprachinseln. Beiträge aus den historischen deutschen Minderheiten in Italien“, 2004; M. v. Prielmayer: „Deutsche Sprachinseln“; in: „Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpen-Vereines“, S89ff, München 1905; Univ.-Prof. Dr. M. Mayr: „Welschtirol in seiner geschichtlichen Entwicklung“; in: „Jahrbuch des deutschen und österreichischen Alpen-Vereines“, München 1907; Julius Pock: „Deutsche Sprachinseln in Wälschtirol und Italien mit besonderer Berücksichtigung der Enclaven Tischelwang, Sautris und Bladen“, Innsbruck 1892].

„Salt bouken kan Ljetzan – Seid willkommen in Lietzan“

Es gab zur Herkunft der Zimbern auch andere Thesen, u.a. vom Sprachforscher Bruno Schweitzer, der durch seine „Grammatik der zimbrischen Sprache“ und durch eine 1948 veröffentlichte Abhandlung über „Die Herkunft der Zimbern“ bekannt wurde. Seine These war, daß die Zimbern die letzten Reste der Langobarden waren. Nach Ansicht des Verfassers muß diese These grundsätzlich nicht im Gegensatz zur Erkenntnis von heute stehen, sondern es kann sehr wohl sein, daß auch Reste von um Verona und Vicenza siedelnden Langobarden mit diesen Baiern mitgezogen sind. Dafür spricht, daß noch im Jahr 1166 (!!!) die Bewohner von Fersen im Suganertal verlangten, nach langobardischen Gesetzen behandelt zu werden [Quelle: Rudolf Kink: „Codex Wangianus. Urkundenbuch des Hochstiftes Trient“; S. 15, Wien 1852].

In der Zeitschrift „Cimberland“ (13/1987), wurde Bruno Schweitzers Arbeit von 1948 zitiert. Demnach wurde Verona in der zimbrischen Sprache als „Beorn (Bern)“ und Trient wurde als „Trin“ benannt, 1314 wurde erstmals Vicenza als „Cymbria“ genannt und Schweitzer verwies auf den Vicentiner Historiker Ferretti, der 1330 in seinem Werk „Historiae“ schrieb, daß „die Alten Cymbria jene Stadt nannten, die jetzt Vicenza heißt.“

Schweitzer bemerkte [S. 491-93], daß „das Langobardische in Italien nach der Gründung des langobardischen Reiches eine große Sprachinsel bildete, deren Schwergewicht nach den Forschungen Gamillschegs im Norden lag: ‚Es ergibt sich, daß im eigentlich venetianischen Gebiet Vicenza (…) ein Hauptstrahlungszentrum langobardischer Namen ist. (…) Besonders ausgeprägt und dicht liegen die Arimannensiedlungen im Gebiet von Verona zum Schutze der wichtigen ‚Berner Klause‘. (…)

Es ist also von vornherein wahrscheinlich, daß in den von Arimannenkolonien durchsetzten Gegenden sich am ehesten Reste der langobardischen Kultur und Sprache bis heute erhielten. (…) Von G. Baesecke und H. Brinkmann wurde in erschöpfender Weise der überragende Einfluß des Langobardischen auf das Althochdeutsche dargetan (…)“.

Schweitzer schrieb weiter [S. 497]: „Vielmehr wimmelte das ganze Land von Restlangobarden, die sich ‚teutisci‘ (so im Placitum von Trient 845) nannte, wenn sie ihre alte Sprache noch nicht aufgegeben hatten, wo es bei den langobardischen adeligen Familien, die heute noch in zahlreichen italienischen Adelsfamilien fortleben, wohl rasch der Fall war. Es erscheint mir sogar sehr wahrscheinlich, daß unser Wort ‚Deutsch‘ den Ursprung seiner heutigen Bedeutung im Langobardenreich zu suchen hat. Um 350 erfand der Gote Ulfilas die Bezeichnung ‚thiudisko‘ als Übersetzung zu Griechisch ‚ethnikos‘ = nichtchristlich, heidnisch. Mit der gotischen Bibel brachten dann die Goten des Theoderich 489 das Wort nach Italien.

Dort überlebte es, wie wahrscheinlich viele andere Begriffe und Einrichtungen (so der Name ‚Lagertal‘, der schon in der gotischen Form ‚Ligeris‘ überliefert wird), die kurze Zeit zwischen dem Untergang der Goten 555 und dem Einmarsch der Langobarden 568. Bei diesen bekam nun das Wort ein ganz neues Bedeutungsschwergewicht durch das starke Selbstbewußtsein des Volkes, wie es besonders aus dem Edikt Rotharis spricht. (…) Paulus Diaconus übersetzt es offenbar mit ‚quoedam patria verba‘. Es wurde Modewort und gelangte im Fluge zu den Nachbarstämmen der Baiern, Alemannen und Franken und über Rom zu den Angelsachsen und schränkte schließlich seinen Bedeutungsumfang auf das den verschiedenen Stämmen Gemeinsame, die Sprache, ein. In diesem älteren, rein sprachlichen Sinne wird das Wort auch heute noch von den Veroneser Zimbern gebraucht, wenn sie sagen ‚bar reidan tautsch‘ [wir reden deutsch].

Archäologische Artefakte der Langobarden in Tirol

In Zivernach (Civezzano), nordöstlich von Trient, wurde ein wohl einzigartiges langobardisches Fürstengrab gefunden. Dieses reich ausgestattete Grab könnte mit dem langobardischen Herzog Ewin († Januar 595) im Zusammenhang stehen. 568 nahm Ewin am Einmarsch der Langobarden nach Italien teil, wurde von König Alboin 569 zum Herzog von Tridentum ernannt, welcher er von 569 bis 595 war. Nach Paulus Diaconus ehelichte Ewin 575 die ältere, jedoch namentlich nicht bekannte Tochter von Baiernherzog Garibald I.

Am Sarg, der nach den fast vollständig erhaltenen Eisenbeschlägen rekonstruiert wurde, ist nach Verfasseransicht eine Vermengung christlicher und heidnischer Tierornament-Symbole feststellbar: auf dem Deckel, langgestreckt, ist die heilige gehörnte Schlange, wie ebenso auch an den vier Ecken, zu sehen. In der Mitte das christlich-heidnisch gehörnte Kreuz, es erinnert symbolisch an den Lebensbaum/Irminsäule [Abbildungen aus: Franz v. Wieser: „Das langobardische Fürstengrab und Reihengräberfeld von Civezzano bei Trient“ in: „Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg“, 3. F., 30 (1886) 281-320, Taf. 1-5. Neuere Untersuchungen von Christian Terzer: „Das langobardische Fürstengrab von Civezzano. Eine Neubewertung“; NEARCHOS Beiheft 6, Innsbruck 2001].

Im Fürstengrab wurde gefunden: ein Schildbuckel aus Eisen mit vergoldeten Bronze-Beschlägen (1a);

1b: Kreuzbeschläge des Schildbuckels; 1c: Zier-Köpfe des Schildbuckels und der Schildwand (Ansicht von oben und von der Seite); 1d: Fragmente der Schild-Spange; 2: Skramasax aus Eisen (eine einschneidige Hiebwaffe); 3: Mundstück der Langschwert-Schneide aus Bronze; 4: Langschwert (Spatha) aus Eisen; 5: Niet-Blättchen vom Griff des Langschwertes aus Bronze; 6 und 7: Pfeilspitzen aus Eisen; 8: Lanzenspitze aus Eisen.

Weitere Funde im Fürstengrab: 1: Goldblatt-Kreuz; 2 und 3: Eiserne Riemen-Zungen mit Tauschierarbeit; 4: Armring aus Eisen; 5a und b: Riemenbeschläge aus Bronze, verzinnt.

Am rechten Trienter Etschufer, am Fuß des Burgfelsens Verruca, lag wohl ein langobardischer Friedhof, wie ein dort gefundenes Kreuz aus glattem Goldblech dokumentiert, welches aus feinstem Gold gefertigt wurde und 8,6 Gramm wiegt. Diese Goldblechkreuze wurden auf Leichentücher angebracht und waren eine Besonderheit langobardischer Grabbeigaben, wie die nebenstehenden Abbildungen aus langobardischen Gräbern in Bergamo dokumentieren (Fotos: Germanisches Nationalmuseum in Nürnberg).

Ein Spaziergänger entdeckte im Spätsommer 1991 im unwegsamen Gelände bei Aldrans in Tirol den aus 86 Goldmünzen bestehenden Münzschatz. Bestehend aus 7 Solidi und 79 Tremisses, dürfte dieser Fund aufgrund der umgerechneten runden Summe von 100 Tremisses vollständig sein. Darunter befinden sich Prägungen der Kaiser Justin II. (566–578), Tiberios I. (578–582) und Maurikios (582–602). 40 Goldmünzen stammen aus den kaiserlich-byzantinischen Münzstätten Konstantinopel, Thessaloniki, Rom und Ravenna.

46 Goldmünzen sind langobardische Imitativprägungen. Nach byzantinischen Vorbildern wurden diese germanischen Imitativmünzen in langobardischen Städten geprägt und waren in numismatischen Fachkreisen bis zu diesem Fund unbekannt.

Es werden drei Münzen einer bekannten Münzgruppe zugeschrieben, die in die Königsstadt Ticinum/Pavia weisen. Man vermutet, daß dieser Fund im Zusammenhang mit den Kämpfen der Langobarden gegen die Franken und deren Hilfsvölker steht. Nach dem großen Frankeneinfall von 590 mußte eine größere Lösegeldsumme von den Langobarden aufgebracht werden. Foto: Tiroler Landesmuseum [Zum Münzschatz siehe auch: W. Hahn/A. Luegmeyer: „Der langobardische Münzschatzfund von Aldrans in Tirol; Wien 1992].




Ein frohes Weihnachten, Frieden, Gesundheit und Glück im Neuen Jahr

wünschen wir allen Lesern und Freunden in aller Welt, vor allem unseren Landsleuten im Süden von Tirol!

 In den stillen Tagen vor Weihnachten gedenken wir all jener Frauen und Männer, die uns in diesem Jahr verlassen haben und ihr Leben lang selbstlos und treu für die Freiheit und Selbstbestimmung Südtirols eintraten.

Stellvertretend für all diese, soll der am 20. November 2019 gestorbene Luis Schönauer aus Tiers zitiert werden.

Er hatte die Zeit der faschistischen Unterdrückung als Jugendlicher erlebt und in den 1950er Jahren setzte er sich immer wieder für die Rechte Südtirols ein und half als Gründungsmitglied sowie Leutnant der Kompanie Bozen tatkräftig bei der Wiedererrichtung des Südtiroler Schützenwesens mit.

Im April 1964 wurde Luis Schönauer von den Carabinieri auf offener Straße verhaftet, weil er Flugzettel in Umlauf gebracht hatte, auf denen „Gerechtigkeit für Südtirol“ gefordert wurde.

Der mit faschistischer Vergangenheit behaftete Staatsanwalt Dott. Mario Martin sah in der Verbreitung der Flugzettel ein Staatsverbrechen. Er klagte Schönauer wegen „Antinationaler Propaganda“ (Artikel 272 des immer noch zum Teil in Kraft befindlichen faschistischen codice penale) an und forderte im 2. Mailänder Südtirol-Prozess 2 Jahre und 6 Monate Haft für ihn.

Als Schönauer vor Gericht stand, fragte ihn der Richter, ob ihm nicht bewusst sei, dass er etwas Gesetzwidriges begangen habe.

 Luis Schönauer antwortete: 

„Ich glaube nicht, daß das Verlangen nach Gerechtigkeit für Südtirol gegen das Gesetz ist.“

***

Nun laßt es stille werden in den Herzen!
Die Erde ruht von ihrem Alltag aus.
Der bunte Kranz der weihnachtlichen Kerzen
Erfüllt mit seinem Glanz das fernste Haus.

Die Nacht will Flügel über alles breiten,
da wandert unsre Sehnsucht endlos weit.
Und Kindesträume werden wach und gleiten
Durch stumme winterliche Einsamkeit.

Die lauten Stunden scheinen stillzustehen,
wir spüren ihren schnellen Herzschlag kaum.
Und alte langvertraute Lieder wehen
Auf hellen Schwingen klingend durch den Raum.

Millionen unsichtbare Hände tragen
Der Freude wunderbaren Feuerschein,
Und überall, wo treue Herzen schlagen,
will fromme Einkehr in den Menschen sein.

 




Südtiroler Landtag holt faschistische Bezeichnung „Alto Adige“ in ein Landesgesetz zurück

Ein weiterer Schritt zur Refaschistisierung Südtirols

Am 17. Oktober 2019 beschloss der Südtiroler Landtag ein Landesgesetz mit „Bestimmungen zur Erfüllung der Verpflichtungen der Autonomen Provinz Bozen, die sich aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union ergeben“

Dieses sogenannte „Europagesetz des Landes 2019“ wurde in der Folge von den italienischen Politikern in Rom und Bozen heftig kritisiert. Es gab eine italienweite Polemik, weil die deutsche Bezeichnung „Südtirol“ in der italienischen Übersetzung mit „provincia di Bolzano“ wiedergegeben und nicht der von dem Faschisten Tolomei eingeführte Name „Alto Adige“ verwendet worden war.

Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher ging sofort in die Knie und vergatterte seine Mannschaft im Landtag dazu, am 29. November 2019 in einer neuerlichen Abstimmung folgende Änderung am Text vorzunehmen:

Es gab aus der SVP-Fraktion keinen Widerspruch gegen die eilfertige Erfüllung der Wünsche Roms. Friedlich wie die Lämmer folgten die wohldotierten Abgeordneten ihrem italophilen Hirten und holten zusammen mit den Abgeordneten der italienischen Parteien und des „Team K“ und der Grünen den faschistischen Begriff des „Alto Adige“ als offizielle italienische Bezeichnung für Südtirol in ein Landesgesetz zurück.

Die negative Langzeit-Auswirkung

Man könnte nun meinen, es handle sich hier um keine allzu bedeutende Angelegenheit. Dem ist leider nicht so. Bislang hatten die deutschen und ladinischen Repräsentanten Südtirols stets öffentlich den von den Faschisten aufgezwungenen Namen „Alto Adige“ abgelehnt, weil dieser vor allem dazu dient, das Tirol-Bewusstsein zu verleugnen und zu verdrängen.

Mit der Zustimmung der Aufnahme dieses faschistischen Kampfbegriffes in den offiziellen Text eines Landesgesetzes untergräbt die SVP unter ihrem derzeitigen Rom-hörigen Landeshauptmann Kompatscher diese Linie.

Der Landeshauptmann Arno Kompatscher auf einem Wahlplakat aus dem Jahre 2018, mit welchem er um italienische Stimmen für sich warb: „Gemeinsam in die Zukunft. Arno Kompatscher“ (Wörtlich: „Gemeinsam in das Morgen“)

Wann immer in Zukunft Südtiroler sich gegen den Namen „Alto Adige“ und die damit repräsentierte „altoatesinische“ Geisteshaltung aussprechen, wird ihnen von italienisch-nationalistischer Seite höhnisch entgegnet werden, dass ihr eigener Landtag diesen Begriff akzeptiert hat.

Widerspruch und Minderheitenbericht

Heftigen Widerspruch und 2 Gegenstimmen gab es nur von den beiden Abgeordneten der „Süd-Tiroler Freiheit“, Myriam Atz Tammerle und Sven Knoll.

In ihrem Minderheitenbericht hielten die Abgeordneten der „Süd-Tiroler Freiheit“ fest:

„Es geht …  nicht darum, den italienischen Landesnamen zu streichen, sondern nur darum, den rechtlich korrekten italienischen Landesnamen für Süd-Tirol in Gesetzestexten zu verwenden. Dieser lautet nicht „Alto Adige“, sondern „Provincia di Bolzano“. Der Begriff Alto Adige existiert rechtlich nur für die Institution der Region „Trentino-Alto Adige“ nicht aber für das Land Süd-Tirol, das in italienischer Sprache offiziell nur „Provincia di Bolzano“ heißt. Ein Blick auf die Fassade des Landtages genügt, um dies zu beweisen, denn auch der Landtag heißt auf Italienisch nicht „Consiglio dell‘Alto Adige“, sondern „Consiglio provinciale di Bolzano“.

Doch Landeshauptmann Kompatscher entschied sich, sich auf die Seite der italienischen Neofaschisten und Nationalisten zu stellen und führt auf Provinzebene für Süd-Tirol flächendeckend „Alto Adige“ ein.“

Nicht erklärliche Haltung der Südtiroler Freiheitlichen

Es gab zwei Stimmenthaltungen, wahrscheinlich von den Freiheitlichen Abgeordneten.

Eine Nachfrage des SID bei den Südtiroler Freiheitlichen, weshalb sie sich nicht gegen diese Gesetzesänderung gestemmt hätten, blieb leider unbeantwortet.

Geschichtliche Dokumentation:

 Die nachstehende noch vor der Beschlussfassung durch den Landtag verfasste historische Abhandlung hat dankenswerter Weise ein Sprachwissenschaftler und ehemaliger Toponomast des Landes Südtirol zur Verfügung gestellt.

(Zwischentitel, Bilder und Bildtexte durch die Red. des SID beigestellt)

 „Südtirol“ – „Alto Adige“ – „Sudtirolo“.

 von Dr. Cristian Kollmann

 Historische, linguistische und namenpolitische Überlegungen

Mit dem Frieden von Pressburg im Jahr 1805 wurde die Gefürstete Grafschaft Tirol, die seit 1363 zu Österreich gehört hatte, an das neu gegründete Königreich Bayern abgetreten. Kurze Zeit später, im Jahr 1810, wurde das Gebiet des ehemaligen Tirols dreigeteilt: Ein nördlicher Teil verblieb bei Bayern, ein südlicher Teil kam zu Italien und ein östlicher Teil kam zu den Illyrischen Provinzen. Die Grenzlinie zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil verlief auf der Höhe nördlich von Gargazon und südlich von Kollmann. Der südliche Teil hieß auf Französisch „Département Haut-Adige“, auf Italienisch „Dipartimento dell’Alto Adige“ und auf Deutsch „Oberetsch-Department“ und umfasste große Teile Welschtirols und den Süden Deutschsüdtirols. Verwaltungseinheiten nach Flüssen zu benennen, entsprach dabei der napoleonischen Gepflogenheit. Der nördliche Abschnitt des geteilten Gebiets hieß dagegen „Südbayern“. Tirol existierte nicht mehr, allerdings nur vorübergehend.

Ettore Tolomei und das Argument der „natürlichen Grenze“

Mit dem Wiener Kongress im Jahr 1814 wurde Tirol als Ganzes wiederhergestellt und kehrte zurück zu Österreich. Doch bereits ab den 1840er Jahren kamen die italienischen Irredentisten ins Spiel. Immer lautstarker forderten sie eine neue Grenzziehung zwischen Italien und Österreich, und zwar entlang des Alpenhauptkammes. Bei diesem handelte es sich gemäß der irredentistischen Naturgrenztheorie um eine natürliche Grenze, die daher ebenso zu einer Völkergrenze, zu einer Staatsgrenze erhoben werden sollte.  Mit diesem Ziel gründete im Jahr 1890 der italienische Nationalist und spätere Faschist Ettore Tolomei die irredentistische Zeitschrift „La nazione italiana“. De facto handelte es sich dabei um eine Propagandazeitschrift, in der Tolomei die Forderung der Irredentisten nach der Brennergrenze offensiver als alle seine Vorgänger anging. Was sich für Tolomeis Gebietsansprüche besonders eignete, waren italienisch klingende geografische Namen, von denen nichts an Tirol erinnern durfte. So prägte Tolomei im Jahr 1890 für den im Einzugsgebiet der Etsch befindlichen deutschen und ladinischen Teil Tirols den Begriff „Alto Trentino“. Diesen propagierte er einige Jahre, doch 1906 ersetzte er ihn durch „Alto Adige“, als er in Florenz das „Istituto di studi per l’Alto Adige“ und die gleichnamige propagandistische Zeitschrift „Archivio per l’Alto Adige“ gründete. Bemerkung am Rande: Sowohl das Institut als auch die Zeitschrift existieren bis heute und betätigen sich als Sprachrohr der geistigen Erben Tolomeis – darunter finden sich zahlreiche Mitglieder der „Accademia della Crusca“ – die die faschistische Toponomastik Südtirols, angefangen bei „Alto Adige“, bis heute mit pseudowissenschaftlichen Argumenten verharmlosen und verteidigen. Doch kehren wir zurück ins Jahr 1906: Mit dem Begriff „Alto Adige“ machte sich Tolomei den ursprünglich napoleonischen Begriff zu Eigen, der über 90 Jahre davor nur vier Jahre lang existiert und ein ganz anderes Gebiet bezeichnet hatte. Für Tolomei war „Alto Adige“ nicht nur ein Name, sondern auch Programm.

Das Programm Tolomei’s sollte zu dem Entnationalisierungsprogramm des Faschismus werden – samt Einführung erfundener Namen für die Südtiroler Orte. Tolomei selbst trat der Faschistischen Partei bei, wurde zum Senator ernannt und zeigte sich gerne öffentlich mit dem “Duce” Mussolini – auch hoch zu Ross (ganz links) in Rom.

Der Faschismus führt den Namen “Alto Adige” ein und verbietet den Namen “Tirol”

Die Annexion Tirols südlich des Brenners und westlich von Arnbach durch Italien nach dem Ersten Weltkrieg sowie das Aufkommen des Faschismus markierte eine Sternstunde für Tolomeis „Alto Adige“. Der Begriff passte bestens ins Konzept der faschistischen Politik der Entnationalisierung der Südtiroler, zumal er nach Süden weist und jeden Bezug zu Tirol leugnet.

Am 12. März 1923 beschloss der Großrat des Faschismus „Maßnahmen für das Hochetsch zum Zwecke einer geordneten, schnellen und wirksamen Assimilierung und Italianisierung“. In Durchführung dieser Maßnahmen wurden mit einem Dekret aus dem Jahr 1923 die Namen „Süd-Tirol“, „Deutschsüdtirol“, „Tirol“ und Ableitungen verboten. Für einzig zulässig erklärt wurden im Italienischen die Bezeichnungen „Alto Adige“ und die Ableitung „Atesino“ sowie im Deutschen die Rückübersetzungen „Oberetsch“ und die Ableitung „Etschländer“.

Mit Dekret vom 8. August 1923 verbot der faschistische Trentiner Präfekt Gudagnini den Namen „Tirol“ sowie alle davon abgeleiteten Bezeichnungen. Es durften ab jetzt nur noch die Bezeichnungen „Alto Adige“ und auf Deutsch „Oberetsch“ und „Etschländer“ statt „Tiroler“ verwendet werden. Die Bozener Zeitung „Der Tiroler“ musste ihren Namen ändern in „Der Landsmann“.

Auch auf Postkarten musste nun die faschistische Bezeichnung „Alto Adige“ stehen.

Flächendeckend wurden nun in Südtirol der Bevölkerung die von dem Faschisten Tolomei erfundenen Ortsnamen aufgezwungen, die bis heute Gültigkeit haben.

Die Festschreibung des faschistischen Diktats nach 1945 in der Bezeichnung für die aufgezwungene gemeinsame Region mit dem Trentino

Mit dem ersten Autonomiestatut von 1948 entstand die Region „Trentino-Alto Adige“, zu Deutsch „Trentino-Tiroler Etschland“. Diese wurde mit dem zweiten Autonomiestatut von 1972 auf Deutsch in „Trentino-Südtirol“ umbenannt, auf Italienisch hieß sie weiterhin „Trentino-Alto Adige“. Seit der italienischen Verfassungsreform von 2001 heißt die Region im Italienischen „Trentino-Alto Adige/Südtirol“. Der genaue Wortlaut: „La Regione Trentino-Alto Adige/Südtirol è costituita dalle Province autonome di Trento e di Bolzano.“ „Alto Adige/Südtirol“ gilt also nur im Zusammenhang mit der Region, nicht mit der Provinz!

Nun könnte man argumentieren, dass sich die Kurzbezeichnungen der Provinzen automatisch aus der Teilbezeichnung „Alto Adige/Südtirol“ der Region ergeben und dass „Alto Adige“ und „Südtirol“ sich gegenseitig entsprechen. Dass dies nicht zwangsläufig so ist, zeigt die offizielle Bezeichnung „Trentino-Tiroler Etschland“, die zwischen 1948 und 1972 für die Region galt. Der deutsche Begriff „Südtirol“ fand, trotz dessen Unzulässigkeit auf institutioneller Ebene selbst mit dem Inkrafttreten des 1. Autonomiestatuts, als Bezeichnung für die Provinz immer wieder Verwendung von offizieller politischer Seite.

1958: Bemühungen der Südtiroler Volkspartei um völlige Abschaffung der Bezeichnung „Alto Adige“

Den besten Beweis dafür liefert der „Südtiroler Entwurf eines Autonomiestatuts für die Region Südtirol-Tirolo del Sud“, der von den drei Südtiroler SVP-Parlamentariern Toni Ebner, Otto von Guggenberg und Karl Tinzl am 4. Februar 1958 im italienischen Parlament eingebracht wurde.

Die drei Südtiroler SVP-Parlamentarier (v. l. n. r.): Toni Ebner, Otto von Guggenberg und Karl Tinzl

Von dem aus insgesamt 13 Kapiteln bestehenden Gesetzentwurf hervorzuheben ist der diesbezügliche Bericht. Punkt a) lautet nämlich: „Die Provinz Bozen wird zur autonomen Region mit Sonderstatut erhoben – das heißt natürlich jenes Gebiet, das heute die Provinz Bozen umfasst –, und zwar mit dem historischen und der Sprache der Mehrheit der Bevölkerung dieses Gebietes entsprechenden Namen unter Abschaffung der Bezeichnung ‚Alto Adige‘ napoleonischer Erfindung, womit endlich die Erinnerung an das faschistische Verbot, den Namen ‚Südtirol‘ zu gebrauchen, ausgemerzt wird.“

Aus dem Gesetzentwurf und insbesondere aus dem Bericht geht klar hervor, dass sich die Südtiroler Volkspartei für die Abschaffung des Begriffs „Alto Adige“ und die offizielle Einführung von „Südtirol“ – „Tirolo del Sud“ aussprach. Es sei an dieser Stelle erneut daran erinnert, dass der deutsche Name „Südtirol“ im Jahr 1958 in der Tat noch verboten war – von „Tirolo del Sud“ oder „Sudtirolo“ ganz zu schweigen. Erst zugelassen war „Südtirol“ mit dem Inkrafttreten des 2. Autonomiestatuts im Jahr 1972, und zwar als Teilbezeichnung für die Region, die bis dahin auf Deutsch „Trentino-Tiroler Etschland“ hieß – zu sehr hätte das Element „Süd“ an die Teilung Tirols erinnert.

Damaliges Eintreten der SVP und des österreichischen Außenminister Dr. Bruno Kreisky für die Bezeichnung „Südtirol“ – Italiener propagierten „Alto Adige“

Dennoch: Trotz des Verbots von „Südtirol“ ließen sich ranghohe Vertreter der Südtiroler Volkspartei nicht davon abbringen, den deutschen Namen „Südtirol“ bereits vor 1972 zu gebrauchen und für dessen amtliche Einführung zu kämpfen, ebenso für die Abschaffung von „Alto Adige“. All dies erinnert sehr stark an die nun wieder aufgeflammte „Alto Adige-Sudtirolo“-Diskussion. Was dabei jedoch verwundert: Früher waren es die Väter der Südtirol-Autonomie, die sich gegen die faschistische Toponomastik stark machte. Heute ist es die Süd-Tiroler Freiheit. Die SVP will die Süd-Tiroler Freiheit heute deswegen als Provokateure diskreditieren, also als etwas, was sie früher offensichtlich selbst einmal war.

Der heutigen Logik der Südtiroler Volkspartei zufolge müsste es dann auch eine Provokation gewesen sein, wenn der einstige österreichische Außenminister Bruno Kreisky – trotz des offiziellen Verbots des Namens „Südtirol“ – im Jahr 1960, als das Südtirolproblem vor die UNO kam, durchwegs von „Südtirol“, im Englischen von „South Tirol“, und nicht von „Tiroler Etschland“, sprach.

Der österreichische Außenminister Dr. Bruno Kreisky sprach 1960 vor der UNO ganz bewusst von „South Tyrol“.

Auch der Titel des Südtirolpakets, das im Jahr 1969 zwischen dem italienischen Außenminister Aldo Moro und dem österreichischen Außenminister Kurt Waldheim geschnürt wurde, führt in der deutschen Version den Begriff „Südtirol“. Der Titel lautet nämlich „Maßnahmen zugunsten der Bevölkerung Südtirols“. Als unglücklich zu bewerten ist dagegen die italienische Version des Titels, der da lautete: „Misure a favore delle popolazioni altoatesine“ – unglücklich deswegen, weil mit „Bevölkerung Südtirols“ und mit „popolazioni altoatesine“ nicht dieselben Inhalte transferiert werden, denn der Begriff für „Bevölkerung“ erscheint im Deutschen im Singular und im Italienischen im Plural, und mit „altoatesine“ wird der Minderheitenschutz offensichtlich konterkariert. Dass es zwar der Name „Südtirol“ in den Titel des Südtirolpakets schaffte, ist zweifellos als große Errungenschaft zu werten – dass jedoch aus der italienischen Sprachperspektive „Tirolo del Sud“ oder „Sudtirolo“ nach wie vor nicht gewünscht war, zeigt, dass Italien immer noch nicht bereit war, vom Standpunkt der Entnationalisierung Südtirols und der Südtiroler gänzlich abzurücken. Nur so und nicht anders lässt sich erklären, warum auch die Delegierten der italienischen Regierung vor der UNO durchwegs den Begriff „Alto Adige“ verwendeten bzw. regelrecht propagierten.

Autonomiestatut von 1972: Nur „Südtirol“ und „Provincia di Bolzano“ in Zusammenhang mit der Provinz

Das Ergebnis des Südtirolpakets ist bekannt: Das 2. Autonomiestatut für Südtirol, das 1972 in Kraft trat. Es ist zweifellos das Verdienst der Südtiroler Volkspartei, denn diese vermochte es immerhin zu erreichen, dass der Begriff „Alto Adige“ und die Ableitung „altoatesino“ im Zusammenhang mit der Provinz an keiner Stelle Erwähnung finden. Sehr wohl dagegen indes ist von „Südtirol“ und der Ableitung „Südtiroler“ die Rede. So heißt es in der deutschen Version „Landeshauptmann von Südtirol“, „Landesausschuss von Südtirol“ und „Südtiroler Landtag“, in der italienischen dagegen „Presidente della Provincia di Bolzano“, „Giunta provinciale di Bolzano“ und „Consiglio provinciale di Bolzano“. Die italienische Bezeichnung „Sudtirolo“ und die Ableitung „sudtirolese“ ist hingegen in keiner italienischen Rechtsquelle festgeschrieben. Genau dies gilt es, endlich in Angriff zu nehmen!

Schlussfolgerung

Fakt war und ist: „Alto Adige“ ist im Grunde nur eine Etikette und kein angemessener Begriff für Südtirol. Bis heute erfüllt „Alto Adige“ den Zweck, aus italienischer Sicht einen Tiroler Landesteil auf italienischem Staatsgebiet in Abrede zu stellen. Das inhaltlich korrekte Äquivalent zu „Südtirol“ kann im Italienischen daher nur „Tirolo Meridionale“, „Tirolo del Sud“ oder „Sudtirolo“ sein.

Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte. Was hat es mit „Tirolo Meridionale“, „Tirolo del Sud“ und „Sudtirolo“ aus historischer Sicht auf sich? Grundsätzlich gilt festzuhalten, dass der Begriff „Südtirol“ oder „Süd-Tirol“ vor der Teilung Tirols kaum eine politisch-administrative Komponente hatte, sondern allgemein das südliche Tirol beschrieb. Die Merkmale für das südliche Tirol waren dabei entweder die Italianität (demnach deckungsgleich mit „Welschtirol“ / „Tirolo Italiano“), klimatische oder geografische Besonderheiten (meist das Gebiet von Franzensfeste abwärts) oder, seltener, die Südseite des Alpenhauptkammes, wobei in diesem Fall meist auch der im Einzugsgebiet der Drau befindliche Teil Tirols (politischer Bezirk Lienz) dazu gehörte. Entsprechend lautete das italienische Äquivalent für „Südtirol“ ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts überwiegend „Tirolo Meridionale“, beispielsweise 1722 in einer Reisebeschreibung „Viaggi per Europa“.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begegnen die chronologisch jüngeren Bildungen mit „Sud“. Beispielsweise 1843 „Tirolo del sud“ in der „Gazzetta di Firenze“,

1874 „Sud-Tirolo“ im „Annuario della Società Alpina del Trentino“,

1894 „Sud Tirolo“ in „La Civiltà Cattolica“,

1898 „Sudtirolo“ in der „Gazzetta Ufficiale del Regno d’Italia“, also in einem Dokument, das offizieller nicht sein könnte.

Die zusammengeschriebene Variante „Sudtirolo“ hat sich im italienischen Sprachgebrauch indes als inhaltlich korrektes Äquivalent zu „Südtirol“ durchgesetzt – entsprechend gilt auch die Ableitung „sudtirolese“. Im maßgeblichen zweisprachig deutsch-italienischen / italienisch-deutschen Wörterbuch von Sansoni ist „Sud-Tirolo“ bzw. „Sudtirolo“ seit den 1970er Jahren verzeichnet.

Eine fundierte Forderung

Die Forderung, die Namen „Südtirol“ und „Sudtirolo“ als Kurzbezeichnung für die Provinz Bozen offiziell einzuführen, ist somit nicht neu und lässt sich auf eine solide historische Basis stellen, ebenso die Forderung nach der Meidung und somit Nicht-Einführung des irredentistischen und manipulativen Begriffes „Alto Adige“.

Solche Aufschriften konnte man ab 1945 in Bozen sehen. Dieses repressive Denken sollte heute langsam der Vergangenheit angehören.

Warnung

Vor einer gesetzlich festgelegten Gleichsetzung von „Südtirol“ und „Alto Adige“ muss eindringlich gewarnt werden, denn die bis heute der Entnationalisierung und Manipulation der Südtiroler dienende Etikette „Alto Adige“ würde dadurch von offizieller Südtiroler Seite ideologisch relativiert – eine Maßnahme, bei der die Väter der Südtirol-Autonomie sofort alarmiert gewesen wären. Zudem – und dies ist nicht minder bedenklich – würde die offizielle Einführung von „Alto Adige“ und der Ableitung „altoatesini“ auf Landesebene nicht nur de iure, sondern auch de facto einem Verbot von „Sudtirolo“ und „sudtirolesi“ gleichkommen. Dies ist insofern besonders gefährlich, als von den Gesetzestexten immer nur die italienische Version maßgeblich ist, und dann aus italienischer Sicht die „sudtirolesi“ definitiv verschwunden wären. Italien könnte langfristig argumentieren, dass das, was es im Italienischen nicht gibt, auch keines Schutzes bedarf! Hinzukommt letztlich die historische Dimension: Wenn in Gesetzestexten von „Südtirol“ und den „Südtirolern“ beispielsweise aus der Zeit der Habsburger Monarchie, des Faschismus oder im Zusammenhang mit dem Ringen um die Autonomie die Rede ist, wären die Übersetzungen „Alto Adige“ und „altoatesini“ schier gänzlich unpässlich, da nicht nur gegenwarts-, sondern auch geschichtsverzerrend und somit insgesamt sinnentstellend!

Nachstehend zur Veranschaulichung drei Beispiele:

  1. Die Südtiroler Orts- und Familiennamen, die aus wissenschaftlicher Sicht die tolomeisch-faschistischen, also „altoatesinischen“ Orts- und Familiennamen keineswegs inkludieren, können im Italienischen nur die „toponimi sudtirolesi“ oder „cognomi sudtirolesi“ sein.
  2. Die „Südtiroler Optanten“ oder die „Südtiroler Dableiber“, welche es zu entnationalisieren galt, können ins Italienische in beiden Fällen nur mit „sudtirolesi“ übersetzt werden, denn besonders in diesem Zusammenhang ist der Begriff „Alto Adige“, „altoatesini“ eindeutig faschistisch und nationalsozialistisch konnotiert; Letzteres deswegen, weil es auch für das nationalsozialistische Regime – im Sinne der Staatsräson mit dem faschistischen Schwesterregime – nur ein „Alto Adige“ und kein „Südtirol“ gab.
  3. Mit den Südtiroler Studenten, die in Österreich mit den österreichischen Studenten gleichgestellt sind, können im Italienischen unmöglich di „studenti altoatesini“ gemeint sein, da mit diesem Begriff der Bezug zu Österreich nicht gegeben ist.

Weitere Beispiele für Fehlübersetzungen ließen sich beliebig beibringen. Allesamt legen sie dar, dass „Südtirol“, „sudtirolese“ und „Alto Adige“, „altoatesino“ geschichts- und ideologiebedingt inhaltlich keine Äquivalente sein können. Dies zeigt zuletzt auch der Name der Südtiroler Volkspartei. Oder will sich die Südtiroler Volkspartei in letzter Konsequenz im Italienischen künftig tatsächlich als die Vertretung der „altoatesini“ präsentieren?

Forderung nach einer einenden Landesbezeichnung

Was Südtirol braucht, ist eine Landesbezeichnung, die nicht für unterschiedliche Konzepte steht, nicht spaltet, sondern eint. Es gibt nur ein Südtirol, ein Sudtirolo, ein South Tyrol, und es gilt, dieses Konzept als inklusiv und nicht ausgrenzend aufzufassen und zu vermitteln. Wenn Südtirol für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen als Landesteil Tirols repräsentieren will, muss es seinen authentischen Landesnamen verteidigen und Bemühungen unternehmen, dass er respektiert wird und dass sich tatsächlich auch alle Bevölkerungsgruppen mit diesem Namen identifizieren können – auch jene, die bis heute im „Alto Adige“ verharren.

Anmerkung der Redaktion des SID: Das Verhalten des Landeshauptmannes Kompatscher und der SVP-Fraktion im Landtag waren in dieser Frage ein leider bedeutender Schritt in die falsche Richtung!




Buchbesprechung: „Südtirol – Opfer politischer Erpressung“

Der Buchautor Helmut Golowitsch legt Österreichs bisweilen heuchlerisch betriebene Südtirolpolitik offen. Nachstehend eine wissenschaftliche Rezension durch Prof. Dr. Reinhard Olt, Historiker und Publizist.

Konspirative politische Händel

Prof. Dr. Reinhard Olt
Prof. Dr. Reinhard Olt

Ob unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich die Chance für die in eindrücklichen Willensbekundungen der Bevölkerung sowie in politischen und kirchlichen Petitionen zum Ausdruck gebrachte Forderung nach Wiedervereinigung des 1918/19 schandfriedensvertraglich geteilten Tirols bestand, ist unter Historikern umstritten. Unumstritten ist, dass sich das Gruber-De Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946, Grundlage für die (weit später erst errungene) Autonomie der „Provincia autonoma di Bolzano“, dem die regierenden Parteien sowie der zeitgeistfromme Teil der Opposition in Wien, Innsbruck und Bozen heute den Rang einer „Magna Charta für Südtirol“ zubilligen, laut Diktum des früheren Bundeskanzlers Bruno Kreisky (SPÖ) für Österreichs Politik mitunter als „furchtbare Hypothek“ erwies.

Das Gruber-De Gasperi-Abkommen („Pariser Abkommen“) vom 5. September 1946 Foto: R.O.

Gruber und De Gasperi

Denn allem Anschein nach fügte sich der österreichische Außenminister Karl Gruber seinerzeit in Paris ebenso seinem italienischen Gegenüber Alcide De Gasperi wie den drängenden Siegermächten, um überhaupt etwas mit nach Hause bringen zu können. Es waren jedoch nicht allein die aus der (geo)politischen Lage herrührenden Umstände und die Unzulänglichkeiten des damals zur Friedenskonferenz entsandten österreichischen Personals sowie das mitunter selbstherrliche Gebaren Grubers respektive der Druck, den die (west)alliierten Siegermächte auf die Beteiligten ausübten und schließlich ein anderes als das von den (Süd-)Tirolern erhoffte Ergebnis zeitigten. Eine soeben abschließend im Grazer

Stocker-Verlag erschienene, aus drei voluminösen Bänden bestehende Dokumentation des Linzer Zeithistorikers und Publizisten Helmut Golowitsch zeigt, dass vor und hinter den Kulissen Akteure am Geschehen beteiligt waren.

Fabrikant Rudolf Moser Foto: Archiv Golowitsch

Manche, wie insbesondere Rudolf Moser, Leiter der in Sachsenburg (Kärnten) situierten „A. Moser & Sohn, Holzstoff- und Pappenfabrik“, übten demnach einen bisher weithin unbekannten und im Blick auf das von der weit überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in beiden Tirol sowie in ganz Österreich erhoffte Ende der Teilung des Landes fatalen Einfluss aus. Mosers lautloses Mitwirken inkognito erstreckte sich nahezu auf den gesamten für den Südtirol-Konflikt zwischen Österreich und Italien bedeutsamen Geschehensablauf vom Kriegsende bis zur sogenannten „Paket“-Lösung Ende der 1960er Jahre, bisweilen lenkte er ihn in bestimmte Bahnen.

 Ein Emissär

Der 1901 in Wien geborene und in der christlich-sozialen Bewegung politisch sozialisierte Moser gehörte als Industrieller der vornehmlich auf die regierende Österreichische Volkspartei (ÖVP) stark einwirkenden Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft an. Mit dem ersten Bundeskanzler Leopold Figl, den er als seinen „engsten Jugendfreund“ bezeichnete, verband ihn, wie er vermerkte, „in allen Belangen …. stets gegenseitige und vollständige Übereinstimmung und Treue“. In Italien, wohin seine Firma gute Geschäftskontakte unterhielt, hielt sich Moser häufig für länger auf und kam mit namhaften Persönlichkeiten des Staates ebenso wie mit katholischen Kreisen und dem Klerus in engen Kontakt. Moser, den auch Papst Pius XII. mehrmals in Rom persönlich empfing, wirkte zudem als Vertrauensmann des Vatikans. Insofern nimmt es nicht wunder, dass sich der die italienische Sprache mündlich wie schriftlich nahezu perfekt Beherrschende und absolut diskret Agierende nach 1945 geradezu ideal für die Aufnahme, Pflege und Aufrechterhaltung einer trotz Südtirol-Unbill dennoch äußerst belastbaren Verbindung zwischen ÖVP und Democrazia Cristiana (DC) eignete, die sich weltanschaulich ohnedies nahestanden. Dazu passte, dass er sich der Rolle des (partei)politischen Postillons und verdeckt arbeitenden Unterhändlers mit geradezu missionarischem Eifer hingab.

Im österreichischen Ständestaat der Ersten Republik war Rudolf Moser (Bild links) „Gauführer“ der „Ostmärkischen Sturmscharen“ in Kärnten-Osttirol. Sein Freund, der spätere österreichische Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP), hatte die Funktion in Niederösterreich inne (Bild rechts). Fotos: Archiv Golowitsch
Im österreichischen Ständestaat der Ersten Republik war Rudolf Moser (Bild links) „Gauführer“ der „Ostmärkischen Sturmscharen“ in Kärnten-Osttirol. Sein Freund, der spätere österreichische Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP), hatte die Funktion in Niederösterreich inne (Bild rechts). Fotos: Archiv Golowitsch

Die verkaufte „Herzensangelegenheit“

Das erste für das Nachkriegsschicksal der Südtiroler bedeutende und in seiner Wirkung fatale Wirken Mosers ergab sich im Frühjahr 1946. Während nämlich die österreichische Bundesregierung offiziell – besonders Kanzler Figl, der in seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 vor dem Nationalrat gesagt hatte: „Eines aber ist für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache, das ist Südtirol. Die Rückkehr Südtirols nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers“ – die Selbstbestimmungslösung mittels Volksabstimmung verlangte, die Außenminister Gruber gegenüber den Siegermächten und dem Vertreter Italiens in Paris bis dahin einigermaßen aufrecht erhalten hatte, wurde Rom auf der Ebene parteipolitischer Beziehungen vertraulich darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich Wien gegebenenfalls auch mit einer Autonomielösung anstelle eines Plebiszits einverstanden erklären könne. Das Signal dazu gab Figl via Moser, der über Vermittlung eines Priesters aus Welschtirol (Trentino) den gebürtigen Trientiner De Gasperi am 3. April 1946 im Palazzo del Viminale, dem Amtssitz des italienischen Ministerpräsidenten, zu einer ausgiebigen Unterredung traf.

Als Kanzler Figl (Bild links) in Innsbruck 155.000 Unterschriften für die Rückkehr Südtirols zu Österreich entgegennahm und „Wir wollen unser Südtirol wieder!“ ausrief, hatte Emissär Rudolf Moser (links im rechten Bild) dem italienischen Ministerpräsidenten De Gasperi ( im Vordergrund des rechten Bildes ) bereits die Bereitschaft Wiens zum Verzicht auf Südtirol übermittelt. Fotos: Archiv Golowitsch

Dass es dem Kanzler primär um gutnachbarschaftliche politische (und wirtschaftliche) Beziehungen Wiens zu Rom sowie vielleicht mehr noch um freundschaftliche Verbindungen zwischen seiner ÖVP mit De Gasperis DC zu tun war und dass er damit der alldem entgegenstehenden Sache Südtirols – wider alle öffentlichen Bekundungen und Verlautbarungen – schadete, spricht Bände.

Widersprüchliches Gebaren

Dieses widersprüchliche politische Gebaren sollte sich, wie Golowitsch in Band 1 seiner Dokumentation – Titel „Südtirol – Opfer für das westliche Bündnis. Wie sich die österreichische Politik ein unliebsames Problem vom Hals schaffte“; Graz (Stocker) 2017, 607 Seiten; 34,80 € – zeigt, unter allen auf Figl folgenden ÖVP-Kanzlern bis in die für das österreichisch-italienische Verhältnis äußerst schwierigen 1960er Jahre fortsetzen, unter der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus ihren Kulminationspunkt erreichen und darüber hinaus – wie man als Beobachter späterer Phasen hinzufügen muss – gleichsam eine politische Konstante bilden, der in aller Regel die beanspruchte Schutz(macht)funktion Österreichs für Südtirol untergeordnet worden ist. Allen damals führenden ÖVP-Granden stand Rudolf Moser als emsig bemühtes, lautlos werkendes und wirkendes Faktotum zur Seite: Sei es als Organisator konspirativ eingefädelter Spitzentreffen inkognito – mehrmals in seinem Haus in Sachsenburg – , sei es als Emissär, mal als besänftigender Schlichter, mal als anspornender Impulsgeber. Mitunter war er verdeckt als Capo einer geheimen ÖVP-Sondierungsgruppe unterwegs oder auch gänzlich unverdeckt als Mitglied einer offiziellen ÖVP-Delegation auf DC-Parteitagen zugegen. Und nicht selten nahm er die Rolle eines Beschwichtigers von ÖVP-Politikern und -Funktionären wahr.

Geheime Treffen

Als der Nordtiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (Foto) erkennen musste, dass die Tiroler ÖVP von der Wiener Parteizentrale in Südtirol-Angelegenheiten ständig übergangen wurde, erwog er eine Abspaltung der Landespartei von der „Mutterpartei“ nach CSU-Vorbild. Foto: Archiv Golowitsch

So regte er eine geheime Begegnungen Figls mit De Gasperi im August 1951 im Hinterzimmer eines Gasthauses am Karerpass in Südtirol an, wohin der in Matrei (Osttirol) sommerfrischende österreichische und der in Borgo (Valsugana) urlaubende italienische Regierungschef reisten, um sich „auf halbem Wege“ und „nach außen hin zufällig“ zu treffen. Über Inhalt und Ergebnis, worüber es keine Aufzeichnungen gibt – und weiterer konspirativer Begegnungen mit anderen Persönlichkeiten – wurden weder Süd- noch Nordtiroler Politiker informiert. Während des gesamten Zeitraums, für die Golowitschs Dokumentation steht, agierten ÖVP-Kanzler und ÖVP-Parteiführung unter gänzlichem Umgehen der dem südlichen Landesteil naturgemäß zugetanen Tiroler ÖVP. Das ging sogar so weit, dass der legendäre Landeshauptmann Eduard Wallnöfer wegen „wachsender Unstimmigkeiten mit der Wiener Parteizentrale“ – insbesondere während der Kanzlerschaft des Josef Klaus, zu dem er ein „unterkühltes Verhältnis“ hatte – ernsthaft eine „Unabhängige Tiroler Volkspartei“ (nach Muster der bayerischen CSU) in Erwägung zog. Indes war der aus dem Vinschgau stammende Wallnöfer – nicht allein wegen der Südtirol-Frage, aber vor allem in dieser Angelegenheit – dem Außenminister und nachmaligen Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ) ausgesprochen freundschaftlich verbunden.

Beim zweiten Geheimtreffen Figls mit De Gasperi am 18. und 19. August 1952 sorgte Moser, der es arrangiert hatte, eigens dafür, den italienischen Regierungschef inkognito über den Grenzübergang Winnebach nach Osttirol zu schleusen und von dort aus auf sein Anwesen in Sachsenburg (Bezirk Spittal/Drau) zu geleiten. Während zweier Tage unterhielten sich De Gasperi und Figl bei ausgedehnten Spaziergängen unter vier Augen; niemand sonst war zugegen.

Moser (links im linken Bild) begrüßt den italienischen Ministerpräsidenten De Gasperi anlässlich eines Geheimtreffens mit Figl vor seinem Haus in Sachsenburg. Anschließend finden bei ausgedehnten Spaziergängen vertrauliche Unterredungen zwischen De Gasperi und Figl statt. Fotos: Archiv Golowitsch
Moser (links im linken Bild) begrüßt den italienischen Ministerpräsidenten De Gasperi anlässlich eines Geheimtreffens mit Figl vor seinem Haus in Sachsenburg. Anschließend finden bei ausgedehnten Spaziergängen vertrauliche Unterredungen zwischen De Gasperi und Figl statt. Fotos: Archiv Golowitsch

In einem späteren Rückblick, angefertigt zu Weihnachten 1973, vermerkte Moser: „Seit 1949 gab es in meinem Kärntner Landhaus gar viele Zusammenkünfte, Besprechungen, Beratungen und Konferenzen, aber nicht selten wurden auch in fröhlichem Zusammensein weitreichende Beschlüsse gefaßt. Im Gästebuch dieses ,Hauses der Begegnung‘, wie es vielfach genannt wurde, gibt es von den delikaten Besuchen fast keinerlei Eintragungen, weil ja jedwede Dokumentation vermieden werden sollte.“

Nach De Gasperi, mit dem sich Moser bis zu dessen Tod 1954 noch oft freund(schaft)lich austauschte, wechselten in Italien die Regierungschefs beinahe jährlich; bis 1981 war das Amt des „Presidente del Consiglio dei Ministri“ sozusagen ein „Erbhof“ der DC. Bis zum Abschluss des Südtirol-Pakets 1969 unter Mario Rumor, der zwischen 1968 und 1970 drei wechselnden, DC-geführten und dominierten (Koalitions-)Regierungen vorstand, hatten sieben DC-Regierungschefs 14 Kabinetten vorgestanden. Mit allen pflegte(n) Moser (und die ÖVP) mehr oder weniger enge Kontakte. Zu Mario Scelba, der später traurige Berühmtheit erlangte, weil unter seiner Billigung 1961 in Carabinieri-Kasernen politische Häftlinge aus den Reihen des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) gefoltert worden waren und er als damaliger Innenminister den Folterknechten dazu „freie Hand“ („mani libere“) gelassen hatte, waren sie ebenso intensiv wie zu Fernando Tambroni, Antonio Segni, Amintore Fanfani und Aldo Moro. 1962 hatte Moser ein geheimes Treffen zwischen dem stellvertretenden DC-Generalsekretär Giovanni Battista Scaglia sowie der DC-Fraktionsvizechefin Elisabetta Conci und ÖVP-Generalsekretär Hermann Withalm sowie Außenamtsstaatssekretär Ludwig Steiner eingefädelt, das in seinem Beisein am 12. Mai in der am Comer See gelegenen „Villa Bellini“ der mit ihm befreundeten Papierfabrikantin Anna Erker-Hocevar stattfand. Einmütiger Tenor des Treffens: Südtiroler „Friedensstörer“ seien „gemeinsame Feinde“ und als solche „unschädlich zu machen“.

Den Ministerpräsidenten und späteren Innenminister Mario Scelba (DC), der Südtiroler foltern ließ, nannte Moser seinen „guten Freund“. Foto: Archiv Golowitsch

In dieser Villa am Lago di Como fand 1962 ein von Moser arrangiertes Geheimtreffen österreichischer ÖVP-Politiker und italienischer DC-Politiker statt. Foto: Archiv Golowitsch

Mosers Engagement ging so weit, dass er sich nicht scheute, daran mitzuwirken, hinter dem Rücken des damaligen Außenminister Kreisky (SPÖ) sozusagen „christdemokratische Geheimdiplomatie“ zu betreiben und dessen mit Giuseppe Saragat ausgehandeltes „Autonomie-Maßnahmenpaket“ zu desavouieren, welches die Südtiroler Volkspartei (SVP) dann auch am 8. Januar 1965 für „zu mager“ befand und infolgedessen verlangte, es müsse nachverhandelt werden. Schon am 6. Januar 1962 hatte er in einer an zahlreiche ÖVP-Politiker und -Funktionäre verschickten „Südtirol-Denkschrift“ bemerkt, Kreisky betreibe „eine dilettantisch geführte Außenpolitik.“ Das bezog sich just auf den seit den verheerenden Auswirkungen des Gruber-De Gasperi-Abkommens ersten erfolgreichen Schritt der Wiener Südtirol-Politik, nämlich der Gang Kreiskys 1960 vor die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwang mittels zweier Resolutionen Italien zu „substantiellen Verhandlungen zur Lösung des Streitfalls“ mit Österreich, womit der Konflikt zudem internationalisiert und der römischen Behauptung, es handele sich um eine „rein inneritalienische Angelegenheit“, die Grundlage entzogen worden war.

Josef Klaus beugt sich römischem Druck

Der italophile Moser ist nicht selten als politischer Stichwortgeber auszumachen, wenn es um den Versuch der in Wien Regierenden – insbesondere der von der ÖVP gestellten Bundeskanzler der ersten 25 Nachkriegsjahre – ging, sich des mehr und mehr als lästig empfunden Südtirol-Problems zu entledigen. Dies trifft in Sonderheit auf die „Ära Klaus“ zu. Rudolf Moser fungierte just in der Südtirol-Causa als dessen enger Berater und wirkte, wie stets zuvor, als graue Eminenz. Die Regierung Klaus ließ sich – von Rom in der von Wien angestrebten EWG-Assoziierung massiv unter Druck gesetzt – auf (verfassungs)rechtlich äußerst fragwürdige (bis unerlaubte) Händel ein, so beispielsweise auf die auf sicherheitsdienstlicher Ebene mit italienischen Diensten insgeheim verabredete Weitergabe polizeilicher Informationen über Südtiroler, obwohl dies für politische Fälle unzulässig war. Das Wiener Justizministerium und die für Rechtshilfe zuständigen Institutionen wurden dabei kurzerhand übergangen. Für all dies und einiges mehr gab Klaus, der hinsichtlich der Südtirol-Frage offensichtlich ähnlich dachte wie sein deklarierter Freund Rudolf Moser, Forderungen der italienischen Seite bereitwillig nach. Moser hatte alles getan, um sowohl 1965 in Taormina, wo ein UECD-Kongress stattfand, als auch im Sommer 1966 ein geheimes Treffen in Predazzo, wohin Klaus im Anschluss an seinen üblichen Urlaub (in Bonassola an der Ligurischen Küste) reiste, mit Aldo Moro zustande zu bringen.

Josef Klaus (ÖVP) und Aldo Moro (DC) 1965 in Taormina Foto: Archiv Golowitsch
Josef Klaus (ÖVP) und Aldo Moro (DC) 1965 in Taormina Foto: Archiv Golowitsch

Aus dem Dunkel ans Licht

Mosers konspiratives Wirken endete 1969/70. Bevor er sich als Pensionist aufs Altenteil in seine Geburtsstadt Wien zurückzog, hinterließ er seine gesamten Aufzeichnungen, Dokumente und Photographien einem Kärntner Nachbarn. Begünstigt von einem glücklichen Zufall war es Helmut Golowitsch gelungen, an den zeitgeschichtlich wertvollen Fundus zu gelangen, in den zuvor noch nie ein Historiker ein Auge geworfen hatte.

Fotos: Archiv Golowitsch

Ergänzt durch Material aus dem im niederösterreichischen Landesarchiv verwahrten Nachlass Figls sowie durch einige Dokumente aus dem Österreichischen Staatsarchiv und dem Tiroler Landesarchiv hat er ihn umsichtig aufbereitet, ausgewertet und im 1. Band seiner voluminösen Dokumentation publiziert, worin er die für die Geschehenserhellung brisantesten Notizen Mosers erfreulicherweise faksimiliert wiedergibt. Alle Moser’schen Dokumente hat Golowitsch zudem zu jedermanns Einblick und Nutzung dem Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) übergeben. Aufgrund des zutage Geförderten scheint dem Rezensenten indes der Gedanke nicht ganz abwegig zu sein, dass es sich in Moser um einen italienischen Einflussagenten gehandelt haben könnte. Anhand womöglich vorhandener einschlägiger sicherheitsdienstlicher Befunde ad personam wäre es

interessant zu überprüfen, ob und wie ihn etwa die österreichische Staatspolizei (StaPo) einschätzte.

Ging es Golowitsch in Band 1 darum aufzuzeigen, wie es Rom gewissermaßen unter Mithilfe aus Wien ermöglicht wurde, die betrügerische Scheinautonomie von 1948 zu verfügen und wie das „demokratische Italien“ unter Führung der Christdemokraten (DC) skrupellos die faschistische Politik der Entnationalisierung der Südtiroler fortsetzte, so steht in den Bänden 2 – Titel „Südtirol – Opfer geheimer Parteipolitik“; 462 Seiten, 29,90 € – und 3 – Titel „Südtirol – Opfer politischer Erpressung“; 528 Seiten, 29,90 € – (beide ebenfalls erschienen im Stocker-Verlag Graz 2019) – das geheime politische Zusammenspiel zwischen ÖVP und DC sozusagen en Detail im Mittelpunkt. Dies samt und sonders während der für den hauptsächlich vom „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) mit anderen als „nur“ politischen Mitteln von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre und gelegentlich darüber hinaus getragenen Freiheitskampf. Hierin zeigt Golowitsch Punkt für Punkt die – ja, man muss es in aller Deutlichkeit vermerken – Ergebenheitspolitik der ÖVP(-geführten respektive Allein-)Regierung(en) gegenüber Italien anhand getroffener geheimer Absprachen zwischen ÖVP- und DC-Politikern und unter gezielter Umgehung staatlicher Institutionen sowie insbesondere Außenminister Kreiskys (SPÖ) auf.

Die römische Politik stand damals unter wachsendem Druck des BAS, dessen in Kleingruppen operierende Aktivisten Anschläge auf italienische Einrichtungen in Südtirol, vornehmlich Hochspannungsmasten, verübten. Trotz Massenverhaftungen und Folterungen von gefangenen BAS-Kämpfern in den Carabinieri-Kasernen wurden die italienischen Behörden dieser Bewegung nicht Herr. Innenminister Mario Scelba (DC), Gebieter über die Folterer, sah sich unter dem Druck der Ereignisse zur Einsetzung einer mehr oder minder paritätisch besetzten Studiengruppe zur Erarbeitung einer verbesserten Autonomie für den 1948 absichtlich in die vom italienischen Ethnicum majorisierte Region Trentino-Alto Adige gezwängten südlichen Teil Tirols gezwungen . Die mit der Kommissionstätigkeit verbundene römische Absicht, deren Tätigkeit allmählich einschlafen zu lassen, war angesichts der trotz vieler nach der „Feuernacht“ 1961 verhafteten und verurteilten Freiheitskämpfer fortgesetzten Tätigkeit von aus Österreich operierenden BAS-Aktivisten indes zum Scheitern verurteilt gewesen.

Rom erpresste infolgedessen Wien mit dem Einlegen seines Vetos gegen die anstehende EWG-Assoziierung Österreichs, indem es verlangte, in enger Zusammenarbeit mit den italienischen Sicherheitsdiensten den Südtiroler Widerstand zu brechen und gänzlich zu eliminieren. Dem diente ein angeblicher BAS-Anschlag am 25. Juni 1967 auf der Porzescharte, einem Gebirgsgrenzübergang zwischen Osttirol und der Provinz Belluno, der laut offizieller Darstellung Roms vier Italienern den Tod gebracht haben sollte. Am 29. Juni erklärte die italienische Regierung, Rom werde sich dem Beginn von EWG-Verhandlungen mit Wien so lange widersetzen, wie das Hoheitsgebiet Österreichs als „Zufluchtsstätte für Terroristen“ diene. Woraufhin die ÖVP-Alleinregierung unter Kanzler Klaus in Südtirol-Fragen zunehmend auf italienischen Vorstellungen einschwenkte.

Konstruierter „Tatort“ und fragwürdige Justizverfahren

Aufgrund überzeugender Archivstudien und Analysen des (Militär-)Historikers Hubert Speckner sowie dreier Gutachten öffentlich bestellter und vereidigter

Spreng(mittel)sachverständige besteht heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr daran, dass die offizielle Geschehensdarstellung für das „Porze-Attentat, das keines war“, als Konstrukt italienischer Dienste gelten muss. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit mussten aufgrund eines von einem bei einer Verminungsübung des italienischen Militärs auf dem nicht weit entfernten Kreuzbergsattel hervorgerufenen Unfalls die dortigen Toten dazu herhalten, Opfer eines vorgetäuschten BAS-Anschlages an einem eigens konstruierten und präparierten Tatort zu sein. Golowitsch breitet Speckners Erkenntnisse in einer eingängigen Dokumentation noch einmal minutiös und detailreichen vor uns aus. Und schildert vor allem die folgenreiche Entwicklung. für die aufgrund von erfolterten „Geständnissen“ zweier in Bozen inhaftierter österreichischer Verbindungsstudenten des „mörderischen Anschlags auf der Porzescharte“ von Italien beschuldigten und daher in Österreich inhaftierten BAS-Leute der „Gruppe Kienesberger“. Fatal war für Dr. Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon Kufner), dass sich am 5. Juli 1967 die österreichische Bundesregierung dem italienischen Druck beugte und – wider den parteilosen Justizminister, Univ.-Prof. Dr. Hans Klecatsky, der stets von einer „italienischen Manipultion“ überzeugt war – die italienische Version des Geschehens als zutreffend akzeptierte.

Den Beschuldigten wurde im Dezember 1968 der Prozess gemacht. Das österreichische Innenministerium, ja die Republik selbst, spielte dabei eine mehr als fragwürdige

Rolle. Dem Gericht wurden wesentliche Beweismittel vorenthalten. Es lagen ihm weder Blutgruppenbestimmungen noch Obduktionsbefunde respektive Todesscheine vor, aus

denen Näheres über die genaue Todesursache und deren Zustandekommen hätte festgestellt werden können. Anwaltliche Beweisanträge wurden abgelehnt. Ein hoher Sicherheitsbeamter machte darüber hinaus auch noch eine Falschaussage und verschwieg dem Gericht die dem Innenministerium vorliegenden gegenteiligen Augenzeugenberichte zum „Tatort“ auf der Porzescharte. Es kam zu einer erstinstanzlichen Verurteilung. Der Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil jedoch auf, und in zweiter Instanz konnte die Verteidigung anhand von Sachverständigengutachten nachweisen, dass die Tat in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum von den Angeklagten nicht hatte begangen werden können. Im Mai 1971 kam es zum endgültigen Freispruch in Österreich.

Einvernahme des Beschuldigten Kienesberger im 2. Wiener Porzescharte-Prozess 1971. Foto: Archiv Golowitsch
Einvernahme des Beschuldigten Kienesberger im 2. Wiener Porzescharte-Prozess 1971. Foto: Archiv Golowitsch

Nicht hingegen in Italien, wo in Florenz ein Gericht Hartung und Kienesberger zu lebenslänglicher, sowie Kufner zu 24 Jahren Haft verurteilte. Verfahren und Urteil, die von deutschen und österreichischen Höchstgerichten als wider die Menschenrechtskonvention verstoßend erklärte, da die Angeklagten weder anwesend, noch durch Anwälte vertreten waren, sind noch immer inkraft und würden die sofortige Inhaftierung für Hartung und Kufner – Kienesberger ist 2015 verstorben – bedeuten, sofern sie die Grenze zu Italien überschritten.

Von Italien Abhilfe zu erwarten, scheint ausgeschlossen; seit Antonio Salandra (Regierungschef von März 1914 bis Juni 1916) folgen alle römischen Polit-Onorevoli, ob links oder rechts, dessen Maxime des „Sacro egoismo“ („Heiliger Eigennutz“). Seine Geheimdienst-Archive öffnet es – secreto die stato – nicht, es könnten ja viele manipulierte „Wahrheiten“ ans Licht kommen, die man lieber im Dunkeln belässt. Peppino Zangrando, als Präsident der Belluneser Anwaltskammer von hoher Reputation, stellte schon 1994 in der „Causa Porzescharte“, in der er jahrelang recherchiert hatte, ein Attentat des BAS in Abrede. Er wollte damals schon den Fall neu aufrollen, sein Wiederaufnahmeantrag scheiterte indes an der Staatsanwaltschaft.

Erlittenes Unrecht

Was folgt aus all dem, was Golowitsch in drei ansprechend komponierten Dokumentations- und Dokumentenbänden eindringlich vor uns ausbreitet? Der BAS hat 1967 auf der Porzescharte kein Attentat verübt. Die dafür verantwortlich gemachten Personen (Prof. Dr. med. Erhard Hartung, Egon Kufner sowie der bereits verstorbene Peter Kienesberger) sind zu Unrecht verfolgt und von Italien zu gewissenlosen Terroristen gestempelt worden. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen, das sich offenkundig anders denn offiziell dargestellt abspielte, wäre es an der Zeit, das florentinische Schandurteil aus der Welt zu schaffen, mit denen sie gänzlich wahrheits- und rechtswidrig für eine offenkundig nicht begangene Tat verurteilt und damit zu blutrünstigen Mördern gestempelt worden sind. Es versteht sich daher eigentlich von selbst, dass die trotz Freispruchs (in Österreich) nach wie vor mit dem Makel der Täterschaft behafteten und in ihrer persönlichen (Reise-)Freiheit eingeschränkten Personen endlich offiziell und überdies öffentlich vernehmlich zu rehabilitieren sind.

Leisetreter am Ballhausplatz

Ein aus dem Österreichischen Nationalrat (Parlament) heraus an den damaligen Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) gerichteter dahingehender Versuch des FPÖ-Abgeordneten Werner Neubauer vom 17.12.2013 erwies sich als ergebnislos. Faymann gab sich in seiner schriftlichen Antwort vom 17.02.2014 (GZ: BKA-353.110/0008-I/4/2014) auf Neubauers umfangreichen Fragenkatalog ahnungslos – sowohl gegenüber den Erkenntnissen aus Speckners Forschungsergebnissen, als auch gegenüber Fragen nach eventuell vorliegenden Unterlagen zur „Intervention des Kanzlers Klaus bezüglich der Prozessführung durch den Richter Dr. Kubernat im Dezember 1968 beim Landesgerichtspräsidenten“. Und in allen anderen Fragen erklärte Faymann das Kanzleramt für unzuständig.

Auch an das österreichische Staatsoberhaupt gerichtete Anfragen erwiesen sich letztlich als nicht zielführend. Der damalige Bundespräsident Dr. Heinz Fischer hatte zwar, „Auftrag gegeben, dieses Buch eingehend zu studieren. Erst nachher wird die Beurteilung der Frage möglich sein, ob sich über den bisher schon bekannten Sachverhalt hinaus neue Gesichtspunkte in dieser Angelegenheit ergeben“, wie er am 28. August 2013 an den „sehr geehrten Herrn Klubobmann des Freiheitlichen Parlamentsclubs, Abg. z. NR Heinz-Christian Strache, FPÖ Bundesparteiobmann“ schrieb. Doch am 7. Februar 2014 teilte er diesem mit: „Wie ich in meinem Schreiben vom 28. August 2013 in Aussicht gestellt habe, wurde dieses Buch von Mitarbeitern der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei durchgelesen. Ein Beweis dahingehend, dass die vom italienischen Geschworenengericht verurteilten Personen nicht ,die Täter gewesen sein konnten‘, ist aus dem Buch nach Ansicht meiner Mitarbeiter nicht eindeutig abzuleiten. Was mögliche Begnadigungen anlangt, darf ich auf die Ihnen bekannten, bisher schon gesetzten Schritte hinweisen. Ich werde dieses Thema bei geeigneten Gelegenheiten auch in Zukunft im Auge behalten.“

Auf neuerliches Nachsetzen des Abgeordneten Neubauer (Schreiben vom 1. 12. 2014) ließ Fischer am 12.12. 2014 seinen „Berater für europäische und internationale Angelegenheiten“, Botschafter Dr. Helmut Freudenschuss, antworten (GZ S130040/221-IA/2014). Darin hieß es, es gehe „nicht um die Bewertung des Buches, sondern ausschließlich darum, ob die darin enthaltenen Ausführungen über die bereits gesetzten Schritte hinaus eine weitere Intervention gegenüber den italienischen Organen nahelegt. Sie wissen sicher, dass der Herr Bundespräsident das Thema der Begnadigungen immer wieder – zuletzt am 11. November 2014 – im Gespräch mit dem italienischen Staatspräsidenten zur Sprache gebracht hat. Die italienischen Vorbedingung – nämlich Gnadengesuche der Betroffenen – ist aber offenbar nicht erfüllbar.“

Unziemliche Empfehlungen und Schande für Österreich

Seit Jahren raten und/oder empfehlen regierende österreichische Bundes- und Landespolitiker (vornehmlich jene Tirols und zuvorderst jene von ÖVP und SPÖ), aber auch Politiker des 1919 von Italien annektierten südlichen Teils Tirols, vorzugsweise jene der Südtiroler Volkspartei (SVP), „Betroffenen“, deren Taten – seien sie bewiesen oder unbewiesen; seien sie begangen oder nichtbegangen; seien sie von BAS-Aktivisten verübt oder diesen durch italienische Manipulationen untergeschoben worden – bereits ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegen, mögen doch bitteschön Gnadengesuche einreichen. Mit Verlaub – das ist Chuzpe.

Abgesehen davon, dass italienische Staatsoberhäupter längst Terroristen aus den Reihen der „Roten Brigaden“ respektive aus dem rechtsextremistischen Milieu begnadigten, sich bisher aber stets ablehnend gegenüber den letzten verbliebenen Südtirolern, setzt der Gnadenakt für Südtirol deren Gnadengesuch voraus. Alle unrechtmäßig Beschuldigten und zudem menschenrechtswidrig Verurteilten – und um solche handelt es sich bei den Dreien der „Causa Porzescharte –, wären doch von allen guten Geistern verlassen, so sie um Gnade bettelten für eine Tat, die sie nicht begangen haben. Dass indes maßgebliche Organe der Republik Österreich, die sich damals schon hasenfüßig und Italien gegenüber unterwürfig verhielten, auch 50 Jahre danach noch ihrer Fürsorgepflicht für zwei ihrer jahrelang politisch und justitiell verfolgten Staatsbürger (offenkundig) nicht nachkommen (wollen), darf man mit Fug und Recht eine Schande nennen.

Eine Schande für die österreichische Politik war es auch, die von Rom unter ständigen Hinweisen auf das EWG-Veto verlangte „Präventivhaft“ – wie sie in Italien auf der Grundlage fortbestehender faschistischer Rechtsnormen möglich war – über geflüchtete Südtiroler zu verhängen und sogar deren Auslieferung zu verlangen, füglich zu umgehen. Weil sich besagter parteifreier Justizminister Klecatsky unter Hinweis auf die österreichische Rechtsordnung dem im Ministerrat allen Ernstes vorgetragenen Ansinnen anderer entschieden entgegentrat, womit die Sache formell erledigt war, hatte man jedoch im Wiener Innenministerium einen Rom entgegenkommenden Ausweg erdacht: Die von den italienischen Stellen namhaft gemachten Südtiroler wurden kurzerhand in Schubhaft genommen. Gelang es diesen Schubhäftlingen trotz enormer Schwierigkeiten, eine gerichtlich verfügte Aufhebung ihrer Inhaftierung zu erreichen, sperrte man sie unter einem neuen Schuldvorwurf wieder ein.

Derartige und andere unschöne Vorgehensweisen stehen in Golowitschs drittem Band im Zentrum. Dazu gehört samt und sonders die politische Preisgabe einer fundamentalen, auf internationalem Recht fußenden Absicherung des Südtiroler Autonomie- „Pakets“. Und dazu gehört nicht zuletzt die dokumentarisch belegte Schilderung von Winkelzügen, die im diplomatischen Hintergrund, somit im Geheimen (also der Öffentlichkeit und den Südtirolern als Betroffenen verborgen bleibend) abliefen und politische Händel ermöglichten.

Dr. Bruno Hosp war als junger Student mit führenden BAS-Kämpfern wie beispielsweise Jörg Klotz und Luis Amplatz befreundet. Hosps Wort ist auch aufgrund langjähriger Mitwirkung an der politischen Gestaltung Südtirols in der „Paket- und Nachpaket-Ära“ – als SVP-Landesparteisekretär unter Silvius Magnago; sodann viele Jahre Landesrat für deutsche und ladinische Kultur sowie Denkmalpflege; sohin auch als Zeitzeuge aus der Erlebnisgeneration – von Gewicht. In seinem von persönlichen Erfahrungen geprägten und von den jüngeren zeitgeschichtlichen Forschungsergebnissen beeinflussten Geleitwort „Südtirolpolitik mit Makeln“ zu Golowitschs drittem Band stellt er sich und allen Betroffenen sowie Interessierten die Frage: „Wie sah die österreichische Südtirolpolitik jener Jahre wirklich aus?“ Räsonierend beantwortet er sie: „Generell vermisst man das österreichische Selbstbewusstsein gegenüber dem italienischen Staat, der seinerseits ,Freundschaft‘ gegenüber Österreich im Falle Südtirols meist vermissen ließ. Es ist eine weiterwirkende politische Konstante. Die österreichische Konstante dagegen ist die Grundtendenz, lieber Wohlverhalten zu zeigen als strategisch-entschlossene Politik im Landesinteresse, zu dem auch Südtirol zählt, zu betreiben.“

Bruno Hosp als Student und der mit ihm befreundete BAS-Kämpfer Jörg Klotz im Jahre 1965 Foto: privat
Bruno Hosp als Student und der mit ihm befreundete BAS-Kämpfer Jörg Klotz im Jahre 1965 Foto: privat

Ernüchternd fährt der ernüchterte Hosp fort: „Der unvoreingenommene Leser der Darstellung von Helmut Golowitsch kommt nicht umhin festzustellen, dass die Südtirolpolitik der ÖVP und der Regierung Dr. Josef Klaus in ihrer Grundorientierung zwar Südtirol helfen wollte, doch der Wunsch Österreichs nach dem Beitritt zur EWG zu oft sehr peinlichen Unterwerfungsgesten gegenüber der italienischen Staatsmacht im Allgemeinen und der Democrazia Cristiana (DC) mit ihrer zentralistisch-nationalistischen Ausrichtung im Besonderen führte. Dies wurde Südtirol natürlich verheimlicht. Eingestanden hat man es bis heute nicht. Das viel beschworene ,Herzensanliegen Südtirol‘ blieb in seiner politischen Ausrichtung oft halbherzig. Man wollte alles für Südtirol tun, aber zugleich nichts, was die italienische Staatsmacht störte. Die Regierung in Wien umging auch oft genug das Bundesland Tirol, dessen Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP), sein Stellvertreter Dr. Hans Gamper (ÖVP), Landesrat Rupert Zechtl (SPÖ) und einige andere herausragende politische Persönlichkeiten stets strategisch- konsequent Südtiroler Lebensinteressen vertraten. Die Regierung Dr. Josef Klaus umging aber auch ihren SPÖ-Außenminister Dr. Bruno Kreisky, der diplomatisch-weitsichtig und kämpferisch-unbeugsam für Südtirol eintrat, die Südtirolfrage vor die UNO brachte und in seiner Zeit als Bundeskanzler wohlbedacht keine Anstalten machte, den zweifelhaften IGH-Vertrag zu ratifizieren.“

Diesen Feststellungen Hosps ist uneingeschränkt zuzustimmen, weshalb der Rezensent zu seiner Schlussfolgerung gelangt: Historische Forschung ist stets ein Ringen um Wahrheitssuche, und Geschichtsschreibung ist ausschließlich der Wahrheit verpflichtet, nicht einer Ideologie, einem sogenannten „erkenntnisleitenden Interesse“, welches direkt zu einer mitunter staatlichen Interessen entsprechenden Geschichtspolitik führt: Wie sie heutzutage nicht selten unter der Vorgabe, allein „dem Humanen verpflichtet“ zu sein, die Regel statt die Ausnahme ist. Und worunter das unbestechliche Urteil leidet. Geschichtsforschung und -schreibung hat jedweder Versuchung zu widerstehen, aus berufspolitischem oder akademischem Opportunismus oder beidem, bisweilen gepaart mit Sendungsbewusstsein und/oder Eiferertum, (politisches, wirtschaftliches, soziales, gesellschaftliches) Geschehen anders zu schildern als es wirklich war und zu bewerten, wie es politischer Korrektheit Zeitgeist und Mainstream frommt.

Helmut Golowitschs dreibändige historisch-politische Dokumentation zur Südtiroler Zeitgeschichte folgt den Maximen von Wahrheit und Gerechtigkeit, zeigt auf, was andere ignorier(t)en und/oder (un)bewusst ausblende(te)n. „Jeder wahrheitsbewusste und weltoffene österreichische Patriot und jeder Südtiroler, der sich aus guten Gründen als Österreicher fühlt, wird das Vaterland Österreich nicht weniger lieben, wenn er

unverfälscht die ganze Wahrheit erfährt, wie die österreichischen Regierungen jener Jahre es mit Südtirol wirklich hielten. Vaterlandsliebe, die die Wahrheit nicht ausblendet, wird sich vielmehr mit einem sehr nüchternen Sinn verbinden, der zur politischen Klarsicht befähigt“, schreibt Hosp zurecht. Golowitschs quellengesättigte Tatsachenschilderung und seine Beschreibung der Zusammenhänge in drei ins sich geschlossenen und mit unzähligen Originaldokumenten angereicherten Bänden führen zu einer notwendigen vertieften, korrigierenden Sicht auf die österreichischen Südtirolpolitik, der weite Verbreitung zu wünschen ist.

Weitere Informationen und die Möglichkeit das Buch zu bestellen, finden Sie hier: Stocker-Verlag




Vorstellung einer bedeutenden Buchtrilogie in Wien

Am 14. November 2019 stellte der Leopold Stocker Verlag in Wien eine für Südtirol zeitgeschichtlich bedeutsame Buchtrilogie des Autors Dr. Helmut Golowitsch vor.

Nach einleitenden Worten des Verlagsleiters Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker (links im Bild) stellte der Autor Dr. Helmut Golowitsch (rechts im Bild) das Ergebnis seiner zeitgeschichtlichen Forschungen vor.

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Der ehemalige Südtiroler Regionalratspräsident, Regionalrats- und Landtagsabgeordnete Dr. Franz Pahl (Südtiroler Volkspartei – SVP) war eigens zu dieser Buchpräsentation nach Wien gekommen und fand lobende Worte:

Der Autor der drei Bände der „Schriftenreihe zur Südtiroler Zeitgeschichte“ hat sich durch seinen neuen dritten Band, „Südtirol – Opfer politischer Erpressung“ erneut als Autor von hohem Rang erwiesen. Die drei Bände stellen ein „Jahrhundertwerk“ dar durch das unerschütterliche, akribische Bemühen um die historische Wahrheit. Der Autor hat in umfassendem Studium bisher unbekannter Dokumente die von anderen immer ausgeblendete Wahrheit über die Politik der Regierungspartei ÖVP in den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beweiskräftig und gegen den opportunistischen Zeitstrom ans Licht gebracht. Jede staatstragende Partei ist vor ihrem politischen Gewissen verpflichtet, sich der Wahrheit ihrer Politik auch in der Vergangenheit zu stellen. Die heutige ÖVP sei nicht verantwortlich für die bedenklich opportunistische und willfährige Politik gegenüber den nationalistischen Forderungen der wechselnden italienischen Regierungen auf Kosten der Südtiroler in jener Zeit. Wenn die ÖVP  von einem menschenrechtlich-rechtsstaatlichen Geist getragen sei, müsse sie sich um der historischen Wahrheit und ihrer Glaubwürdigkeit willen ihrem Versagen, ihrer Unredlichkeit und ihrem schwerwiegenden Opportunismus besonders der Regierungen Klaus stellen, die sogar Außenminister Kreisky in seiner entschlossenen Verteidigung der Südtiroler Interessen zu umgehen versucht habe. Wie die vorausgehenden Bände ist der dritte Band von großer Bedeutung für die unbestechliche historische Tatsachenschilderung der österreichischen Regierungspolitik in der Zeit des Südtiroler Freiheitskampfes.“

Der österreichische Militärhistoriker Oberst Mag. Dr. Hubert Speckner schilderte, wie er anhand bislang unbekannter und von ihm erstmals ausgewerteter Dokumente nachweisen hatte können, dass die offiziellen italienischen Behauptungen bezüglich des sogenannten „Porze-Scharte-Attentats“ von 1967 falsch waren und falsch sind. Dieses angebliche „Attentat“, das Österreichern in die Schuhe geschoben worden war, hatte dazu gedient, die österreichische Politik unter Erpressungsdruck zu setzen. Italien hatte 1967 mit einem Veto den Zugang Österreichs in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) blockiert und erst wieder freigegeben, als Wien alle Wünsche Roms bezüglich der Verfolgung Südtiroler Freiheitskämpfer und durch einen Verzicht auf eine international-rechtliche Verankerung des Südtirol-Autonomiepakets erfüllt hatte.

Speckners Forschungsergebnisse, die er in einem eigenen Buch veröffentlicht hatte, stellten mit eine bedeutende Grundlage für die zeitgeschichtliche Darstellung des Autors Golowitsch dar.

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Der Zeitzeuge Egon Kufner schilderte als damals in der Causa „Porze-Scharte“ aufgrund der falschen italienischen Behauptungen in Österreich unschuldig Inhaftierter, was er in seiner Haft auch an Schikanen hatte mitmachen müssen, bis ein österreichisches Schwurgericht ihn freisprach, weil er und seine Mitangeklagten einer klaren Beweislage mit Sachverständigengutachten zufolge das ihnen angelastete „Attentat“ nicht begangen haben konnten.

Auch Univ.-Prof. Dr. Erhard Hartung (links im Bild – hier im Gespräch mit Oberst Mag. Dr. Speckner) schilderte als damals Mitangeklagter in der Causa „Porze“ und sodann Freigesprochener, wie die unter italienischer politischer Erpressung stehende österreichische Bundesregierung sich damals verhalten hatte.

Auch er würdigte als Zeitzeuge die Forschungsergebnisse von Speckner und Golowitsch.

Buchbesprechung in den „Dolomiten“:

Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ vom 12. November 2019 über Band II:

Weitere Informationen und die Möglichkeit das Buch zu bestellen, finden Sie hier: Stocker-Verlag

 




Vor 80 Jahren – Die aufgezwungene Option und der Weg in den Untergang

Bild von Thomas Walch: „Die Heimatlosen“. 

Eine traurige Erinnerung

Der Südtiroler Schützenbund (SSB) nimmt seine sozialen und kulturellen Aufgaben ernst und hat mit einer nachdenklich machenden Aktion daran erinnert, dass vor 80 Jahren – am 21. Oktober 1939 – Hitler und Mussolini ein Abkommen zur Umsiedlung der deutschsprachigen Südtiroler vereinbart hatten, das nach dem Willen der beiden Diktatoren die kulturelle Auslöschung der deutschen Volksgruppe hätte bewirken sollen.

Bild: Fotomontage des SSB

In einer Aussendung schrieb der Schützenbund am 21. Oktober 2019:

Rund 274.000 Südtiroler waren gezwungen sich bis zum 31. Dezember 1939 zu entscheiden, ob sie deutsch bleiben und ins Deutsche Reich auswandern wollten, oder in der Heimat blieben und „walsch wählten“. Wer sich fürs „Gehen“ entschied, hatte die Heimat unwiderruflich zu verlassen.

Es wurde ihm eine Ansiedlung in teilweise noch zu erobernden Gebieten in Aussicht gestellt. Wer sich hingegen fürs „Bleiben“ entschied, ging ebenso einer ungewissen Zukunft entgegen.

Eine Zwangsumsiedlung in den Süden Italiens stand – vor allem zum Zwecke einer Mobilisierung für die Auswanderung im Raum, erinnert der Südtiroler Schützenbund.

„Die Option spaltete das Land, entzweite Familien. Dableiber wurden als Volksverräter, Optanten als Heimatverräter bezeichnet. Aufrufe und Stellungnahmen für das Verbleiben in der Heimat gab es ebenso wie Flugblätter und Kundgebungen für das Abwandern“, so der SSB-Landeskommandant Jürgen Wirth Anderlan.

Das Ergebnis: 86 Prozent der Südtiroler entschieden sich für das Gehen. Tatsächlich abgewandert sind rund 75.000. An die 20.000 Optanten kehrten nach Kriegsende zurück, 130.000 waren staatenlos, weil sie zwar für Deutschland gestimmt hatten, aber nicht ausgewandert sind.

Sie alle haben eines gemeinsam: ihre Geschichte, ihr Schicksal geprägt von der Entscheidung 1939. Der Entscheidung von Hitler und Mussolini. Ihrer eigenen Entscheidung.

Optanten verlassen die Heimat

160 rote Koffer im ganzen Land

Die Südtiroler Schützen erinnerten nun an diese schreckliche Zeit mit einer landesweiten Aktion.

Im ganzen Land wurden 160 rote Koffer mit der Aufschrift „schicksal39.com – Option, Gehen oder Bleiben“ an zentralen Stellen in allen Gemeinden aufgestellt.

An den roten Koffern waren Postkarten mit Gedichten und Liedern der Dableiber als auch der Optanten angebracht.

Weitere Informationen zu dieser Aktion und zu dem Thema Option finden sich im Internet unter: https://schicksal39.com/

Dokumentation zum Optionsabkommen:

Geschichtlicher Rückblick – Wie war es zu der Katastrophe von 1939 gekommen?

von Jürgen Fingeller

Hitlers Kurswechsel

Vor Mussolinis Machtantritt hatte Hitler in öffentlichen Reden durchaus noch die Rückgabe Südtirols gefordert gehabt. Das stand im Einklang mit dem Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920, in welchem es hieß:

„1. Wir fordern den Zusammenschluss aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker … “

In den parteiamtlichen Erläuterungen dazu hatte es geheißen: „Wir verzichten auf keinen Deutschen im Sudetenland, in Südtirol, in Polen, in der Völkerbundkolonie Österreich und in den Nachfolgestaaten des alten Österreich.“ (G. Feder: „Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken“, München 1933, S. 42)

Als Benito Mussolini jedoch Ende Oktober 1922 begann, Italien in eine Diktatur umzuwandeln, wurde er zum großen Vorbild Adolf Hitlers, der ein Bündnis mit ihm anstrebte. Hitler betonte ab nun die Freundschaft mit dem Faschismus und erklärte ab 1922 wiederholt in Reden und Zeitungsinterviews, dass er die Brennergrenze als endgültig betrachte.

Unter der Federführung des vor den Faschisten aus Südtirol geflüchteten Univ.-Prof. Dr. Eduard Reut-Nicolussi wurde damals von der „Arbeitsstelle für Südtirol“ in Innsbruck eine Zeitung mit dem Namen „Der Südtiroler“ herausgegeben. In einem Sonderdruck dieser Zeitung aus dem Jahr 1932 kritisierte Reut-Nicolussi das Verhalten Hitlers und zitierte aus dessen abfälligen Äußerungen über Südtirol.

Am 10. Oktober 1923 konnte die italienische Zeitung „Corriere Italiano“ ein Gespräch mit Hitler veröffentlichen, in welchem dieser erklärte: „Als Nationalist vermag ich mich durchaus in die italienischen Gedankengänge zu versetzen und verstehe sogar den italienischen Anspruch auf eine gesicherte Grenze.“ (Wiedergegeben in: Karl Heinz Ritschel: „Diplomatie um Südtirol“, Stuttgart 1966, S. 130)

Göring verkauft Südtirol gegen Geld

 Am 8. November 1923 scheiterte der NS-Putsch in München und Hitler bezog für eine kurze Zeit eine Zelle in der Festung Landsberg. Der Führer der SA, Hermann Göring, ging 1924 für eine Zeit lang nach Italien ins Exil. Dort nahm er im Juni 1924 Kontakt mit dem Diplomaten Giuseppe Bastianini auf, welcher Mitglied des „Gran Consiglio del Fascismo“, des „Faschistischen Großrats“ und ein Vertrauter von Benito Mussolini war.

Links: Adolf Hitler und sein Gefolgsmann Hermann Göring. Rechts: Der italienische Diplomat und hochrangige Faschist Giuseppe Bastianini.

Göring erbat ein Zwei-Millionen-Lire-Darlehen für die NSDAP und verpflichtete in seiner Eigenschaft als „NS-Generalbevollmächtigter in Italien“ im August 1924 in einem Vertragsentwurf seine eigene Partei zu Folgendem:

„… klar zu machen, dass es für sie keine Alto-Adige-Frage gebe und dass sie absolut und ohne Umschweife den Status quo der italienischen Besitzungen anerkenne … Die NSDAP wird ab sofort alles tun, um revisionistischen Bestrebungen in Bezug auf Alto Adige in Deutschland entgegenzutreten …“ (Vertragsentwurf im Nachlass von Dott. Leo Negrelli von Mussolinis Regierungs-Presseamt. Wiedergegeben in: David Irving: „Göring – Eine Biographie“, Kiel 1986, S. 61f)

 Görings erneutes Angebot, den „Südtiroler Irredentismus auszumerzen“

Am 9. März 2006 berichtete die Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ über einen sensationellen Fund. Das Südtiroler Landesmuseum Schloss Tirol hatte soeben aus dem Nachlass eines früheren Göring-Freundes, des Hoteliers Rodolfo Walther in Venedig, ein Schriftstück erworben, aus dem die „Dolomiten“ nun zitierten.

Aus „Dolomiten“ vom 9. März 2006

Es handelt sich um ein weiteres Memorandum in italienischer Sprache, welches Göring im November 1924 in Venedig für seinen Gastgeber und Freund Rodolfo Walther verfasste, der dem „Duce“ nochmals das Projekt eines Abkommens zwischen der NSDAP und der Faschistischen Partei unterbreiten sollte.

Göring verwies in dem von ihm persönlich unterzeichneten Memorandum darauf, dass die Nationalsozialisten bereit seien, ein für alle Mal auf Südtirol offiziell zu verzichten. Wiederum erbat Göring auch finanzielle Hilfe. Dadurch würde man ermuntert sein, so berichteten die „Dolomiten“ über den Inhalt des Schriftstücks, „sich für eine Annäherung an das faschistische Italien weiterhin einzusetzen und jedwede Art des Südtiroler Irredentismus auszumerzen. Hermann Göring schließt mit ‚… della S. E. Ill.ma obbligatissimo Hermann Göring, rappresentante incaricato della Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Deutschlands.“ (Auf Deutsch: „ … der Ihrer hervorragendsten Exzellenz zutiefst ergebener Hermann Göring, beauftragter Repräsentant der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Deutschlands.“)

Das italienische Geld fließt

Nun begann das italienische Geld für die NSDAP zu fließen. Der ehemalige Diplomat Pietro Quaroni berichtete dazu: „Die Hitler-Bewegung wurde von der italienischen Seite her mit Sympathie betrachtet. Sie wurde auch zumindest einige Male seitens Italiens mit bedeutenden Geldmitteln unterstützt“. (Zitiert in: Jens Petersen: „Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933 – 1936“, Tübingen 1973, S. 24f)

Hitler dankt und bezeugt seine Treue

Im 1926 veröffentlichte Adolf Hitler im Münchner Eher-Verlag, in welchem vor einem Jahr bereits der erste Band von „Mein Kampf“ erschienen war, eine Broschüre. Diese trug den Titel „Die Südtiroler Frage und das deutsche Bündnisproblem“, und stellte einen teilweisen Vorabdruck aus dem zweiten Band von „Mein Kampf“ dar, welcher im Dezember 1926 erscheinen sollte. Hitler hatte es aber eilig, seine unwandelbare Treue zu dem Faschismus und Mussolinis Italien zu betonen. Er veröffentlichte daher die Südtirol betreffenden Abschnitte vorweg als Sonderdruck.

In seinem Vorwort bezeichnete er Mussolini als „den Mann, der als überragendes Genie das nationale Gewissen Italiens verkörpert.“ Man müsse zu Opfern bereit sein. „Die Südtiroler Frage ist für uns ein Problem, das nur im Rahmen der für Deutschland möglichen europäischen Bündnispolitik die richtige Lösung finden kann.“ (Adolf Hitler: „Die Südtiroler Frage und das deutsche Bündnisproblem“, München 1926, S. 6f)

Hitler: „Der Jude“ reitet das Steckenpferd Südtirol

 Die richtige Lösung, so führte Hitler weiter aus, sei das Bündnis mit dem faschistischen Italien. (Adolf Hitler: a. a. O., S. 43) Um aber solche Bündnisse mit Deutschland zu verhindern, reite „der Jude mit außerordentlicher Geschicklichkeit“ ein besonderes Steckenpferd: „Südtirol“. Er werde dabei unterstützt von „jenem allerverlogensten Pack, das, auf die Vergeßlichkeit und Dummheit unserer breiteren Schichten bauend, sich hier anmaßt, eine nationale Empörung zu mimen”. (Adolf Hitler: a. a. O., S. 30)

Hitler verkündet öffentlich den Verzicht auf Südtirol

Am 15. Juli 1928 unterstrich Hitler seine politische Linie in Bezug auf Südtirol und Italien in einer von der Parteileitung der NSDAP einberufenen Versammlung vor 3.000 geladenen Gästen. Er hielt eine Rede, über welche die Innsbrucker Tageszeitung „Tiroler Anzeiger“ einen Tag später berichtete:

„Hitler … trat für ein Bündnis mit Italien ein … Um zum Bündnis mit Italien gelangen zu können, will Hitler Südtirol preisgeben. Südtirol ist, wie er sagte, nicht von mir, sondern von jenen verraten worden, die Deutschland jahrzehntelang so geschwächt haben, daß es unfähig geworden ist, seine sämtlichen Brüder zu verteidigen. Außerdem ist in bindenden Staatsverträgen ein Verzicht auf Südtirol bereits niedergelegt.“

Im Gespräch mit Ettore Tolomei: Bekräftigung des Verzichts

Der faschistische Senator Ettore Tolomei (ganz links) hoch zu Ross mit Benito Mussolini bei einer Parade in Rom.

Am 14. August 1928 traf sich Hitler über Vermittlung des italienischen Generalkonsulats in München mit dem faschistischen Senator Ettore Tolomei. Das Treffen mit dem Architekten der faschistischen Entnationalisierungspolitik in Südtirol, dem Erfinder der italienischen Ortsnamen in Südtirol und engen Vertrauten Benito Mussolinis fand in einer versteckt gelegenen Villa in Nymphenburg am Stadtrand von München statt.

Aus den handschriftlichen Notizen Tolomeis. (Karl Heinz Ritschel: „Diplomatie um Südtirol“, Stuttgart 1966, S. 135)

Tolomei fertigte handschriftliche Notizen über sein Gespräch mit Hitler an und berichtete anschließend an Mussolini in Rom:

Hitler äußerte sich zu dem Thema der „italienischen Assimilierung des Alto Adige“ zur Freude Tolomeis eindeutig: „Er sprach sich sehr rüde in Worten, die ich geradezu als grob bezeichnen könnte, aus. („ganz wurst“, „ich pfeif darauf“); jene vier Älpler von Bozen und Meran dürfen Deutschland nicht hindern, das im Spiel seiner außenpolitischen Beziehungen frei sein will, für seine großen Interessen in der Welt … zu sorgen, … wobei man sich von der Behinderung durch kleine gefühlvolle Rückstände befreien muss, wie es gerade die irritierende Frage des Alto Adige ist. …

Er legt sich Rechenschaft ab, dass in einem kurzen Zeitraum die größeren Zentren des Alto Adige soweit italianisiert werden, dass sogar die Pangermanisten den Eindruck einer verlorenen Partie erhalten werden und dass folglich die Assimilierung der Hochtäler und der abgelegenen Täler nur eine Frage der Zeit sein wird.“ (Wiedergegeben in deutscher Übersetzung in: Karl Heinz Ritschel: „Diplomatie um Südtirol“, Stuttgart 1966, S. 134ff)

Ständige Bekundungen der Freundschaft

 Nun kam es zu laufenden Freundschaftbekundungen von beiden Seiten, die bald den Protest der österreichischen Sozialdemokraten hervorriefen. Diese prangerten Anfang 1932 in einer Broschüre mit dem Titel „Südtirol verrecke!!“ die „restlose Preisgabe der Deutschen Südtirols durch die Nationalsozialisten“ an.

Die anklagende Broschüre der österreichischen Sozialdemokraten.

Nachstehend ein interessanter Auszug aus dieser Schrift:

Die anklagende Broschüre der österreichischen Sozialdemokraten.

 

Der 28. Oktober 1932 war der 10. Jahrestag des faschistischen „Marsches auf Rom“. Aus diesem Anlass begrüßte der Herzog von Pistoia, ein Vetter des italienischen Königs, auf dem „Siegesplatz“ vor dem „Siegesdenkmal“ in Bozen eine nationalsozialistische Delegation. Nach der Feier zur Erinnerung an die faschistische Machtergreifung posierten dann die Faschisten und Nationalsozialisten gemeinsam vor dem Siegesdenkmal für Erinnerungsfotos.

NS Abordnung 28 Okt 1932 vor Siegesdenkmal Bozen

Am 30 Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Am 3. Februar 1933 versicherte er dem italienischen Generalkonsul in München, er könne „voll und ganz die strategischen Notwendigkeiten verstehen, die Italien die Aufrechterhaltung der Brennergrenze als unerlässlich erscheinen ließen.“

Jedenfalls dürfe das Schicksal einiger Tausend früherer österreichischer Bürger die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland nicht beeinflussen. (Wiedergegeben in: Jens Petersen: „Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933 – 1936“, Tübingen 1973, S. 68)

Bei einem Staatsbesuch erklärte der preußische Ministerpräsident Göring am 7. November 1933 in Rom gegenüber Mussolini, er könne auch im Namen seines Kanzlers die feierliche Erklärung abgeben, dass die Südtirolfrage niemals von deutscher Seite aufgerollt werden würde. (Mario Toscano: „Storia diplomatica della questione dell’Alto Adige“, Bari 1968, S. 124f)

Die Achse Berlin – Rom

 Nachdem Hitler Italien im Abessinien-Krieg unterstützt hatte, schlossen der italienische Außenminister Graf Ciano und der Reichaußenminister Von Neurath am 22. Oktober 1936 ein Abkommen über enge Zusammenarbeit beider Staaten und Regime. Der „Duce“ erklärte in einem Interview für den „Völkischen Beobachter“ vom 17. Januar 1937: „Wir haben die Achse Berlin-Rom geschmiedet.“

Hitler: Die unantastbare ewige Grenze!

Am 2. Mai 1938 traf Adolf Hitler zu seinem zweiten Staatsbesuch in Italien in einem Sonderzug am Brenner ein und wurde von dem Herzog von Pistoia, einem Vetter des italienischen Königs Vittorio Emanuele III. begrüßt. Bei der Weiterfahrt nach Rom ließ Hitler die Vorhänge vor den Fenstern seines Salonwagens während der Fahrt durch Südtiroler Gebiet zuziehen.

In Rom feierten der „Duce“ und der „Führer“ am 7. Mai 1938 nach einer Reihe von Veranstaltungen und Paraden bei einem Abendessen im Palazzo Venezia in Rom die deutsch-italienische Freundschaft.

Hitler und Mussolini in Rom.

Hitler sagte in einem Trinkspruch: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, dass es … die von der Natur zwischen uns beiden aufgerichtete Alpengrenze für immer als eine unantastbare ansieht, die die Vorsehung und Geschichte unseren beiden Völkern ersichtlich gezogen haben.“ (Zitiert nach: Paul Bruppacher: „Adolf Hitler und die Geschichte der NSDAP“, Teil 2: 1938 bis 1945“, 2. Auflage, Norderstedt 2013, S 39)

Der „Stahlpakt“ für den eigenen Untergang

Am 22. Mai 1929 schlossen das Deutsche Reich und das Königreich Italien zur Besiegelung ihrer unzerstörbaren Freundschaft einen militärischen Beistandspakt, der als „Stahl-Pakt“ in die Geschichte einging.

Mit diesem Abkommen verpflichteten sich beide Seiten, dem jeweiligen anderen Partner militärisch zu Hilfe zu kommen, wenn dieser „in kriegerische Verwicklungen mit einer anderen Macht oder anderen Mächten gerät“.

Der Bündnisfall war diesem Abkommen zufolge auch dann gegeben, wenn einer der Bündnispartner einen Angriffskrieg begann, ohne zuvor die Zustimmung des anderen Partners einzuholen. Das war der Weg in den Untergang.

Das letzte Kapitel: Option und Bevölkerungsaustausch als endgültige „Lösung“ der Südtirol-Frage

Nach wie vor war Südtirol ein Stolperstein auf dem gemeinsamen Weg der beiden Diktatoren in das Unglück ihrer Völker.

Der katholische Klerus Südtirols mit dem Brixener Fürstbischof Johannes Geisler an der Spitze hatte sich dabei als Fels in der Brandung erwiesen. In Südtirol sicherte die Kirche den deutschen Gottesdienst, den deutschen Religionsunterricht und einen Restbestand an deutschem Vereinsleben. Mit Unterstützung zahlreicher Priester förderte sie den heimlichen „Katakombenunterricht“ in deutscher Sprache und die kulturelle Tätigkeit katholischer Jugendgruppen.

Mit der Hilfe der Priester: Geheimer Schulunterricht in deutscher Sprache im Wald.

Um dem ein Ende zu bereiten, vereinbarten am 23. Juni 1939 nationalsozialistische und faschistische Delegierte unter dem Vorsitz des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, bei einem geheimen Treffen im Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei in Berlin die Umsiedlung der Südtiroler durch das sogenannte Optionsabkommen.

Das Dokument ist zur Gänze wiedergegeben in: Benedikt Erhard (Hrsg.): „Option Heimat Opzioni – Eine Geschichte vom Gehen und vom Bleiben“, Wien 1989, S. 139)

Dieses sollte in der Folge die Südtiroler vor die schreckliche Wahl stellen, entweder das Volkstum zu bewahren und dabei die Heimat aufzugeben oder in der Heimat zu bleiben und dabei der Italianisierung ausgeliefert zu werden.

Der Priester Kanonikus Michael Gamper widersetzte sich mit aller Kraft dem Umsiedlungsprogramm.

Als das schändliche Abkommen Ende Juni 1939 in Südtirol bekannt wurde, wurde der Gedanke der Auswanderung in Südtirol von Vertretern deutscher Verbände, die sich bei Kanonikus Michael Gamper im Bozner Marieninternat zu einer Beratung getroffen hatten, entschieden abgelehnt. Man war sich einig, geschlossen für den Verbleib in der Heimat zu stimmen.

Faschistische Pläne und Drohungen – das NS-Regime will die „Dableiber“ dem nationalen Untergang überlassen

Am 1. August 1939 wurde im Verlautbarungsblatt der Staatsbahnen angekündigt, daß in nächster Zeit Transporte von Personen und Sachen aus Südtirol in südliche Provinzen abgehen sollten. Der Präfekt Mastromattei verkündete im Augustheft der Zeitschrift „Atesia Augusta“, daß nur jene, „die immer Treue zu Italien und zu den Einrichtungen des Regimes bewiesen haben“, im angestammten Lande bleiben dürften.

Der faschistische Präfekt Mastromattei 1939 bei einem öffentlichen Auftritt in Brixen.

Dies bedeutete, daß die Mehrzahl der keineswegs faschistisch eingestellten Südtiroler von der Deportation in die südlichen Provinzen bedroht war.

Am 2. August 1939 hatten sich verzweifelte Südtiroler direkt an den Reichsführers-SS Heinrich Himmler gewandt, der ihnen nun bei einem Treffen unverblümt erklärte, daß das Deutsche Reich die Italienoptanten – die sogenannten „Dableiber“ –  ihrem Schicksal, dem unabwendbaren nationalen Untergang, überlassen werde.

Ende August 1939 erklärte der faschistische Senator Ettore Tolomei, die Italienoptanten müssten ihre „ursprünglichen lateinischen Familiennamen wieder annehmen“ und die Regierung werde mit allen Mitteln die Abwanderung der „Fremdsprachigen“ betreiben, um sie durch Italiener zu ersetzen.

Man sah sich nun auf Gedeih und Verderb der römischen Willkür ausgeliefert.

Option und Rettung – warum das Volk bei dem Einmarsch deutscher Truppen jubelte

Die Geschlossenheit des Widerstandswillens zerbrach nun angesichts der um sich greifenden Überzeugung, daß Italien Mittel und Wege suchen und finden werde, die Italienoptanten aus dem Lande zu drängen. Es begann in Südtirol eine Werbung für eine möglichst geschlossene Option für das Deutsche Reich. So hoffte man, bei Verlust der Heimat zumindest das Volkstum zu retten.

Kanonikus Michael Gamper und sein Freundeskreis hingegen waren überzeugt, daß man im Lande bleiben und auf eine Änderung der Verhältnisse hoffen müsse.

Die emotionalen Auseinandersetzungen führten zu einer tiefgreifenden Spaltung der Bevölkerung, die durch die Dörfer und teilweise auch durch die Familien ging.

Das Optionsergebnis ist bekannt: Rund 86 Prozent optierten in ihrer Verzweiflung für Deutschland. Nach verlässlichen Statistiken hatten sich von den 246.036 Abstimmungsberechtigten in der damaligen Provinz Bozen sowie dem damals zur Provinz Trient gehörenden Unterland 211.799 für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit zum Verlassen der Heimat entschieden. (Zahlen aus: Südtiroler Landesregierung (Hrsg.): „Südtirol Handbuch 2005)

Nun begann die Umsiedlung nach Norden über den Brenner. Etwa 75.000 Südtiroler verließen die Heimat.

Eine später in Österreich von Optanten aufgelegte Gedenkpostkarte.

Aussiedler am Bahnhof

Der Fortgang des Weltkrieges mit dem Kriegseintritt Italiens brachte dieses Unheil im Jahre 1940 zum Stehen, die Aussiedlung wurde gestoppt und die Fortführung auf die Nachkriegszeit vertagt.

Für die Südtiroler war das ein Glück. Für das deutsche Volk insgesamt und für eine Reihe anderer Völker bedeutete dieser Krieg jedoch die denkbar größte Katastrophe.

Der Abfall Italiens vom gemeinsamen Bündnis im Jahre 1943 und der Einmarsch der deutschen Truppen nach Südtirol befreiten das Land von dem Albtraum einer Vollendung der Aussiedlung.

Nur dadurch ist die Begeisterung zu erklären, mit welcher die einlangenden deutschen Truppen begrüßt wurden. Die katholischen Südtiroler jubelten mit wohl wenigen Ausnahmen nicht der nationalsozialistischen Ideologie zu. Die Freude galt der Hoffnung, nun als Tiroler mit eigener Sprache und Kultur endgültig in der angestammten Heimat bleiben zu dürfen.

Nur rund ein Drittel der Ausgesiedelten konnte zurückkehren

Nach 1945 versuchte der italienische Präfekt De Angelis, ein Mann mit faschistischer Vergangenheit, auch die Aussiedlung der noch im Lande verbliebenen Optanten zu erreichen. Die Alliierten erlaubten dies aber nicht und im „Pariser Vertrag“ von 1946 wurde das Rückkehrrecht der bereits Ausgesiedelten vereinbart.

Rom verzögerte jedoch mit allen Kniffen und Tricks die Durchführung, so daß schließlich nur etwa 21.000 bis 22.000 bis zum Jahre 1952 wieder in die Heimat zurück kehrten. Das war nur rund ein Drittel der Ausgesiedelten. (Zahlen aus: Adolf Leidlmair: „Bevölkerung und Wirtschaft seit 1945“, in: Franz Huter (Hrsg.): „Südtirol – eine Frage des europäischen Gewissens“, Wien-München 1965, S. 564)

Welche Methoden dabei angewandt wurden, zeigte im Jahre 1949 die Beschlagnahme des Vermögens jener Deutschlandoptanten, denen Italien die Wiederverleihung der Staatsbürgerschaft verweigerte. Damit hoffte man weitere Rückwanderungswillige abzuschrecken.

Der NS-Verfolgte und ehemalige KZ-Häftling Dr. Friedl Volgger erreichte die Aufhebung der Vermögensbeschlagnahme der Optanten.

Erst im Jahre 1951 gelang es dem „Dableiber“, Gamper-Vertrauten, ehemaligen KZ-Häftling und nunmehrigen Südtiroler Parlamentsabgeordneten Dr. Friedl Volgger, mithilfe einer von ihm organisierten alliierten Unterstützung die römische Regierung dazu zu zwingen, die Vermögensbeschlagnahme wieder aufzuheben.

Das Versöhnungswerk Gampers und das endgültige Scheitern des faschistischen Vernichtungsplans – Südtirols Freiheitskämpfer verhinderten 1961 den letzten Anschlag auf ihre Volksgruppe

Der groß angelegte faschistische Plan der Zerstörung und Auflösung der deutschen und ladinischen Volksgruppe war so gut wie gescheitert.

Kanonikus Gamper leitete nun das Versöhnungswerk zwischen „Dableibern“ und Optanten ein. Durch sein leuchtendes Beispiel der Nächstenliebe und Toleranz führten er und seine Freunde die Südtiroler nach Kriegsende wieder zu einer entschlossenen und handlungsfähigen Schicksalsgemeinschaft zusammen. Ohne diese Versöhnung wäre das Land nach 1945 ein willenloser Spielball der Fortführung der faschistischen Spaltungs- und Entnationalisierungspolitik geworden.

Südtiroler Priester bemühten sich in aufopfernder Weise um die Rückkehr ausgesiedelter Optanten.

Ein letzter bedrohlicher Anschlag auf den Bestand der Südtiroler Volksgruppe fand am 6. Februar 1961 statt, als italienische Senatoren ein Ausbürgerungsgesetz im Senat in Rom einbrachten, welches ehemaligen Optanten die willkürliche Ausbürgerung und damit die Vertreibung über die Grenze auf rein administrativem Wege bringen hätte sollen.

Eine Durchführung dieses perfiden Plans hätte mit einem Schlag die rasche Herbeiführung einer italienischen Mehrheit im Lande ermöglicht.

Am 27. April 1961 wurde das Gesetz im Senat beschlossen, nun fehlte nur noch die Bestätigung durch die römische Abgeordnetenkammer.

In dieser Situation entschlossen sich die Südtiroler Freiheitskämpfer zu dem großen Schlag der Feuernacht, welcher die Aufmerksamkeit der Welt auf das ungelöste Problem Südtirol lenkte und das verbrecherische Vorhaben der Fortsetzung der faschistischen Aussiedlungspolitik endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte beförderte. Es kam nie zur Bestätigung des Schandgesetzes durch die Abgeordnetenkammer, sondern stattdessen zur Aufnahme von Autonomieverhandlungen mit der Südtiroler Volkspartei.

An der römischen Heuchelei hat sich nichts geändert

Am Wochenende des 23. und 24. November 2019 weilte der italienische Staatspräsident Mattarella in Bozen und wurde von lokalen Politikern untertänig bejubelt. Über die aufgezwungene Option von 1939 und deren politische Behandlung nach 1945 wusste er Erstaunliches zu vermelden.

Am 25. November 2019 stand in der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ zu lesen:

„Sergio Mattarella hat als erstes italienisches Staatsoberhaupt in seiner Rede offen gesagt, dass den Südtirolern in der Geschichte mehrmals Unrecht angetan wurde. Mattarella hat aber auch sachlich darauf verwiesen, dass Italien nach dem Zweiten Weltkrieg das einzige Land in Europa war, das Flüchtlingen (den Optanten, also italienischen Bürgern, die freiwillig auf die italienische Staatsbürgerschaft verzichtet und die deutsche angenommen hatten) die Rückkehr in die Heimat mit Gewährung aller Bürgerrechte zugestand.“

Es hat sich an der römischen Heuchelei nichts geändert. Kein Mensch kann uns erzählen, dass dem politischen Beraterstab rund um den italienischen Staatspräsidenten nicht bekannt sei, dass den Optanten die Rückkehr mit allen möglichen Schikanen erschwert worden war und daher nur rund ein Drittel der Optanten wieder in die Heimat hatte zurückkehren können.




Erinnerung an einen der bedeutendsten Künstler Tirols: Heinrich Natter (1844 – 1892)

Auf dem Bergisel in Innsbruck erinnert ein großes Denkmal an den Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer, der hier vor 210 Jahren als Sieger aus einer bedeutenden Schlacht hervorging. Dieses Denkmal auf geschichtsträchtigem Boden ist seitdem Zeuge großer Versammlungen und großer Protestkundgebungen gewesen, die alle in Zusammenhang mit der nach wie vor ungelösten Südtirol-Frage standen und stehen.

Kundgebung für die Rückkehr Südtirols nach Österreich am 2. Mai 1946

Der Schöpfer dieses großartigen Denkmals ist jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten und nur wenige Landsleute wissen, dass es sich bei ihm eine herausragende Persönlichkeit der österreichischen Kunstgeschichte handelt.

Sein Urenkel, Dr. Norbert Freiherr van Handel, hat dem SID dankenswerter Weise nachstehende Biographie seines Urgroßvaters zur Verfügung gestellt.

Über den Autor:

Dr. Norbert Freiherr van Handel (*6.4.1942) ist in Steinerkirchen (Oberösterreich) im Schloss Almegg zu Hause. Von Beruf ist er Unternehmer. Die Familie van Handel kam im 13. Jh. aus der Ortschaft Handel im holländischen Nordbrabant und stand bis 1806 im Dienste des Deutschen Ordens, zuletzt mit Sitz in Mergentheim.

In der Folge trat Paul Anton Freiherr von Handel, Ministerresident des deutschen Bundes in Frankfurt, in kaiserliche Dienste. Er und seine Nachfahren waren mit den Herrschaften Hagenau und Almegg erbliche Mitglieder des „ob der ennsischen Herren- und Ritterstandes“. Die Familie diente dem kaiserlichen Haus und Österreich in zahlreichen militärischen und politischen Funktionen. Sehr bekannte Persönlichkeiten der Familie sind vorzuweisen: u.a. die Autorin Enrica von Handel-Mazetti, der Schriftsteller Clemens Brentano, sowie der berühmte Bildhauer Heinrich Natter, Urgroßvater des Autors, dem der heutige Beitrag gilt. Auch als Buchautor ist Norbert van Handel zu erwähnen: „Doppelmord. Sommer 1914: Von Sarajewo bis zur Kriegserklärung“, erschienen im Eigenverlag.

2008 erfolgte durch Norbert van Handel eine Neugründung des „St. Georgs-Ritterordens“, dessen Großmeister Karl v. Habsburg und dessen stellvertretender Großmeister Georg v. Habsburg ist. Bekannte Politiker aus verschiedenen Parteien gehören diesem Orden an: Landeshauptmann a.D. Dr. Luis Durnwalder, Landeshauptmann a.D. Dr. Erwin Pröll, Landeshauptmann a.D. Dr. Josef Pühringer, Bundesminister a.D. Dipl.-Ing. Andrä Rupprechter, Landeshauptmann a.D. Univ. Prof. Dr. Franz Schausberger, Landeshauptmann a.D. Univ. Prof. DDr. Herwig van Staa, Landeshauptmann von Oberösterreich Mag. Thomas Stelzer, Bundesminister a.D. Dr. Werner Fasslabend, NR-Abg. Dr. Karlheinz Kopf, NR-Abg. Dr. Reinhold Lopatka, Bgm. Mag. Siegfried Nagl, Bundesminister a.D. Mag. Karl Schlögl, Bundesminister a.D. Dr. Harald Ofner, Vizekanzler a.D. Mag. Herbert Haupt, FPÖ-Bundesparteiobmann Ing. Norbert Hofer, Abg. Dr. Ursula Stenzel und viele andere mehr.

Dr. Norbert van Handel war Mitglied der ÖVP, wechselte jedoch vor kurzem zur FPÖ.

 Der Tiroler Bildhauer Heinrich Natter (1844 – 1892)

von Dr. Norbert Freiherr van Handel

Als Heinrich Natter am 13. April 1892 starb, kam Gustav Klimt, der Natter besonders schätzte, gerade nach Wien von einer Auftragsreise zurück.

Er eilte direkt vom Bahnhof zu Natter, den er Meister nannte und entwarf das rührende Bildnis des dem Leben Entrissenen.

Das von Gustav Klimt gemalte Bild des Verstorbenen

Mein Urgroßvater wurde nur 48 Jahre alt. Er war nicht nur der bedeutendste Tiroler Bildhauer, sondern auch einer der namhaftesten Vertreter seiner Zunft im Kaiserreich und in den umliegenden Ländern.

Wie viel er noch geschaffen hätte, weiß man nicht, wie das bei allen jung verstorbenen Künstlern der Fall ist. Da er aber bis zuletzt zahlreiche Pläne hatte, darf man wohl erwarten, dass der Kunstwelt vieles entgangen ist.

Sehr gut wird Natter von seinen Freunden nach seinem Tod beschrieben:

„Er konnte so recht von Herzen lachen und mit seiner echten Lustigkeit mitreißen. Manchmal ein heftiger Berserker, oft ein Kind, das auch in launigen Märchen und Legenden aus dem Stegreif seinen natürlichen Kindersinn kundgab. Andreas Hofer ist Natters eigenes Denkmal, so stämmig stand er selber da, so fest hielt er das Banner und mit so entschiedener Geste wies er auf sein Gebiet, die Kunst (das er beherrschte) hin“.

Familie und Kindheit

 Die Familie Natter kam ursprünglich aus dem Schwabenland, wo sie sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. 1629 ließ sie sich in Rietz im Oberinntal nieder.

Der Vater des Künstlers, Anton Natter, studierte Biologie und Medizin und wurde Gemeindearzt im Südtiroler Graun. Dort übte Dr. Natter über 40 Jahre seinen Beruf aus, (sein Ruf als tüchtiger Arzt hatte sich verbreitet und er wurde auch zu gefährlichen Operationen in die Schweiz berufen).

Nach achtjähriger Trauzeit heiratete er 1837 die Gerberstochter Maria Stanger – die Mutter unseres Künstlers Heinrich – der das dritte von fünf Kindern war und am 16. März 1844 zur Welt kam.

Schon drei Jahre später aber ereilte die Familie ein tragisches Geschick. Auf dem Rückweg von einem Kirchenbesuch stürzte Maria mit ihrem achtjährigen Sohn Josef in einen reißenden Bach und konnte nur noch tot geborgen werden.Die Kinder hatten ihr gute Mutter verloren – der Vater eine liebende Gattin.

Da die vier übriggebliebenen Kinder eine weibliche Hand benötigten, heiratete Dr. Natter ein zweites Mal. Auch seine zweite Frau bemühte sich, die temperamentvollen Kinder entsprechend zu erziehen, was sicher nicht ganz leicht war. „Ich tausche mit keinem wohlbehüteten Stadtkind meine freie, schöne Jugendzeit, die ich am Lande verlebt habe. Dort werden die Kinder manuell geschickt, man sieht oft Fünfjährige weiches Holz spalten. Sie lernen sich selbst helfen, werden findig, bekommen frühzeitig Selbstvertrauen.“, pflegte Heinrich Natter in Erinnerung an seine Jugend zu sagen.

Als Heinrich schulpflichtig wurde, wurde er in die Volksschule nach Rietz geschickt, wo er einen besseren Unterreicht als in Graun genießen konnte. Er besuchte später das Realgymnasium in Innsbruck.

Da der Schulerfolg nicht entsprach, beschloss Heinrich aus Angst vor der Strafe des Vaters durchzubrennen und begab sich mit seinem Bruder auf Wanderschaft, die sie bis nach Italien brachte. Endlich, nach zweimonatigem Herumziehen, sahen sich die Knaben gezwungen, heimzukehren, denn der jüngere Bruder Natters, Eduard, war erkrankt. Die Aufnahme des Vaters war liebevoll, obwohl die Buben eine harte Strafe fürchteten.

Lehrjahre

Jetzt schon zeigte Heinrich eine auffallende Geschicklichkeit beim Schnitzen, sodass er für fünf Jahre in die Lehre zum Steinmetz und Bildhauer Pendel in Meran gegeben wurde.

(Sein Bruder Eduard, mit dem er von der Schule ausgerissen war, wanderte nach Mexiko aus, wo er unter Kaiser Maximilian am Bürgerkrieg teilnahm und seitdem verschollen blieb.)

Heinrich zeigte sich sehr talentiert und renovierte vorerst vor allem Kapellen, schnitzte Heiligenfiguren und bewegte sich immer häufiger in höheren Kreisen.

Wir hören von Vladimir von Rilsky, einem jungen polnischen Aristokraten oder von Romet von Atzwang aus einer alten Tiroler Adelsfamilie mit hübschen jungen Töchtern, die Heinrich verehrte. Das Verhältnis zu seinem Lehrherren Pendel wurde aber immer schlechter und Heinrich sehnte das Ende der Lehrzeit herbei. Es war ihm klar geworden, dass nur ein richtiges Kunststudium seine Talente entfalten konnte.

Natter zog es an die Akademie nach München. Dort angekommen wurde der 19-Jährige zwar aufgenommen, gleichzeitig wurde ihm aber bedeutet, dass ihm eine gediegene Vorbildung im Zeichnen fehle. Diese Ausbildung holte er an der Polytechnischen Schule in Augsburg nach.

Gleichzeitig verdiente er aber durch Holzschnitzarbeiten, die ihm sein polnischer Freund Vladimir von Rilsky vermittelte – ein lateinisches Kreuz wurde sogar als Geschenk an den Bischof von Lemberg gesandt. Auch der Bischof von Augsburg kaufte einen Christus am Kreuz und auch profane Werke fanden ihre Abnehmer.

Im Frühjahr 1864 kehrte Natter nach München zurück, erkrankte aber an einem schweren Hungertyphus, wie man damals sagte, und schwebte zeitweise zwischen Leben und Tod. Um sich gänzlich zu erholen reiste er in seine Heimat, verweilte bei seinen Freunden Atzwang in Meran und besuchte seine Schwester Agnes in Riva, die kürzlich den Oberstleutnant Heinrich Seidl geheiratet hatte.

In die Akademie nach München, damals unter der Leitung Wilhelm von Kaulbachs, zurückgekehrt, lernte Natter auch Moritz von Schwind kennen. In Ferienzeiten fand Natter, nun Akademiker, im Kloster Pfaffenhofen in Tirol Beschäftigung. Pater Lener, der dem Kloster vorstand, ließ große Schnitzwerke von ihm ausführen und entlohnte ihn reichlich.

Durch die Freigiebigkeit des Paters kam schließlich ein ansehnliches Sümmchen zustande und Natter beschloss, nach Venedig zu gehen. Doch dort ging ihm bald das Geld aus und die Rettung war das Zusammentreffen mit dem Engländer Josef Geldart. Geldart war Maler und beschäftigte sich vor allem mit den Geheimnissen der Farben der großen Italiener des 16. Jahrhunderts.

Die Begegnung mit Geldart vertraute Natter später seinem Freund, dem bekannten Kunstkritiker Ludwig Speidel an, ebenso wie ein märchenhaftes Jugenderlebnis das Natter lebenslang begleitete:

Er, Natter, sei einmal, so berichtet Speidel, wie es Landessitte in Tirol ist, an einem Sonntag mit einer Speckschwarte und einem Stück Brot in den Wald gegangen und habe an einer Quelle, die den Trunk bot, mit anderen jungen Leuten seinen Imbiss verzehrt. Auf einmal hörte er einen fremden Vogel singen, der sich immer tiefer in den Wald verzog. Er sei ihm neugierig nachgegangen und endlich sei der große, bunt befiederte Vogel, den er nachmals vergeblich in der Naturgeschichte gesucht habe, auf einer Buche sitzen geblieben und habe ihm gar wunderliche Dinge zugesungen. ‚Merk auf, Heini’, habe er ihm zugerufen, ‚Was ich dir sage: In zehn Jahren werde ich silberne Eier legen und wieder in zehn Jahren goldene. Wenn du nicht dumm bist, so wirst du sie finden.’ Und damit sei der Vogel verschwunden. „Natter“, so Speidel, „meinte, dass alles eingetroffen sei. Nach zehn Jahren verweilte er als armer Handwerksbursche in Venedig. Ein fremder Mann, ein Engländer, habe sich seiner aus eigenem Antrieb hilfreich angenommen. Nach wieder zehn Jahren aber habe er in München seine Existenz als Mann und Künstler begründet.“

Kunstreisen

Die Zeit nach 1866, also nach der Niederlage von Königgrätz, war der Anfang der längsten Friedensepoche der Monarchie. Man kann vielleicht von einem zweiten Biedermeier oder auch von einer zweiten Romantik sprechen, die vor allem sensible künstlerische Menschen in ihren Bann zog.

Im Krieg gegen Italien, 1866, wurde Natter dem Tiroler Jägerregiment zugeteilt, wo er sich sehr tapfer verhalten haben muss, denn ihm wurde die Tapferkeitsmedaille verliehen.

Natter arbeitete nun rastlos. Er ging nach Florenz und fand rasch Zutritt zur künstlerischen Gesellschaft der Hauptstadt der Toskana, wo er neben vielen anderen auch den großen Architekten Gottfried Semper – den Erbauer der Semperoper in Dresden – kennen lernte.

Nach Florenz ging Natter nach Rom, um die Wunderwerke der bildenden Kunst in der italienischen Hauptstadt zu studieren. Ständig stand der junge Tiroler mit seinem Vater in Kontakt, der einmal resigniert schrieb:

„Es ist mir unendlich leid, dass ich Dich wieder ohne Hilfe in der weiten Welt wissen muss.“

Und mit leisem Humor ergänzte er:

„Indessen bist Du mit den Launen der Fortuna so gut bekannt und daher kommt es, dass Du Dich in alle Lagen schicken kannst.“

Erste Erfolge 1868-1874

 Im Herbst 1868 begab sich Natter wieder nach München. Viele Freunde waren bemüht, den jungen Künstler – Natter war 24 Jahre alt – zu fördern.

In kürzester Zeit hatte Natter einen Freundeskreis, worunter nicht nur Richard Wagner, Franz Liszt oder Richard Nietzsche, sondern auch Herzog Max in Bayern, der Vater der Kaiserin Elisabeth von Österreich, waren.

Mit Max von Bayern pflegte er regelmäßig an bestimmten Abenden in einem Trio die Flöte zu blasen. Die Aufträge des jungen Bildhauers mehrten sich rasch. Im Erdgeschoss des Münchner Kunstvereins fand er ein passendes Atelier, wo Werk um Werk entstand.

Portraits wechselten sich mit Fantasiegestalten, Ernstes sich mit Heiterem ab. Immer freier wurde der Künstler in seiner Manier, immer größer in seiner Auffassung. Mit der Büste der Pianistin Sophie Menter zeigte er erstmalig sein vollendetes Können im Portraitfach.

Büste der Sophie Menter

In kürzester Zeit fand sich sein Atelier im Mittelpunkt der öffentlichen Anerkennung. Auch Prinz Luitpold versäumte es nie, dem Künstler – übrigens auch später in Wien – die Ehre seines Besuches zu schenken.

Es war die Zeit, in der die Verherrlichung des Deutschtums nach dem Tag von Sedan von der allgemeinen Stimmung getragen wurde. Wagners Ring der Nibelungen beschäftigte die Menschen und Natter beschäftigte sich mit den germanischen Heldensagen. Er erfüllte sich seinen größten Wunsch, eine Kollosalfigur des Wotans im Kehlheimer Marmor auszuführen, die im Jahr 1873 nach Wien in die Weltausstellung geschickt wurde.

Zahlreiche Portraitbüsten entstanden. Für den plastischen Schmuck von Gebäuden modellierte Natter Karyatiden, dekorative Kollosalbüsten. Die zahlreichen Aufträge aus Deutschland und der österreich-ungarischen Monarchie machten aus Natter einen fahrenden Bildhauer:

In Wien, in Prag, in Leipzig, in Darmstadt, in Frankfurt und in zahlreichen anderen Orten hatte er Bestellungen erhalten. Anlässlich einer sommerlichen Rast in Graun modellierte er das rührende Bild seines Vaters.

Bildnis von Anton Natter, Gemeindearzt im Südtiroler Ort Graun

Natter arbeitete mit unglaublicher Schnelligkeit. Damals war er noch lebensstark, schuf gewaltig, trank gewaltig und genoss das Leben.

Wotan stellte er in düsterer, protziger Kraft als Urgott der Deutschen dar. Den Flügelhelm auf dem gesenkten Haupte blickt er finsteren Auges aus dem bartumhüllten Antlitz.

Die aus Marmor gefertigte überlebensgroße Statue des Gottes Wotan.

Familiengründung

Es war nun die Zeit gekommen, wo Natter ernstlich daran dachte, seinem unsteten Künstlerleben ein Ende zu bereiten und eine eigene Familie zu gründen. Seine Wahl fiel auf Ottilie Porges die junge Witwe, geb. Hirschl, die aus einem künstlerischen Haus stammte, in dem Natter nicht nur häufig verkehrte, sondern das auch von Anfang an in Natter den gottbegnadeten Künstler sah, der wie ein Wirbelwind durch die damals so lebendige Kunstgesellschaft stürmte.

Natters zukünftige Frau beschreibt in der Sprache der damaligen Zeit berührend, wie sie den Vater des Künstlers, Dr. Anton Natter, kennenlernte. Lassen wir sie in eigenen Worten sprechen:

„Wir verabredeten ein Zusammentreffen in Martinsbruck, nebst der Heimat meines Verlobten. Heinrich und ich langten vor dem Vater dort ein. Um dem alten Herren ein Stück entgegen zu gehen, stiegen wir die steilen Windungen der Poststraße hinan. An einer Biegung des Weges kam ein Landwägelchen zum Vorschein. Sogleich erkannte ich den Vater an seinem breiten, von weißen Haaren und Bart umrahmten Gesicht. Er lenkte selbst sein berüchtigtes Maultier, und ihm zur Seite saß sein Freund, der hagere Bürgermeister von Graun, in seiner bäuerlichen Kleidung. Das gemütlich trabende ‚Muli’ wollte bei unserer Begegnung nicht halt machen. Es sträubte sich, schlug aus, versuchte Ansätze zu einem Galopp, bis Heinrich ihm in die Zügel fiel und es anhielt. Der Starrsinn des ‚Muli’ gab der Förmlichkeit unserer ersten Begegnung eine humorvolle Wendung. Das Bild, das ich mir vom Vater gemacht hatte, wurde durch ihn selbst weit übertroffen. Eine patriarchalische Vornehmheit und eine herzliche Güte lagen in dem strammen, selbstbewussten Wesen des ehrwürdigen Mannes. In wohlgesetzten Worten sprach er seine heimische Mundart. Er beglückte mich mit seiner ganzen väterlichen Liebe, wodurch der Herzensbund zischen Heinrich und mir erst seine Weihe erhielt.“

Nicht so leicht war, die Einwilligung der Eltern der Braut zu erhalten. Der Vater, Moritz Hirschl, ein erfolgreicher Industrieller, hielt an hergebrachten Anschauungen fest, die nicht leicht zu erschüttern waren. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen ihm und Heinrich fand in Salzburg statt. Es war eine harte Werbung. Schließlich gelang es Natter aber, den besorgten Vater durch den Ernst seines Auftretens für sich einzunehmen – nach einer vierstündigen Unterredung hatten sich die beiden geeinigt. Nicht so leicht war es bei der Mutter: Sie konnte nicht an das Glück ihres Kindes an der Seite eines Künstlers glauben. Schließlich gab sie aber kurz vor der Heirat, die am 17. Oktober 1874 in Wien stattfand, ihre Zustimmung.

Das Ehepaar Natter

Professor Caspar Zumbusch, von dem wir noch hören werden, war der Trauzeuge Natters. Gleich nach der Vermählung fuhr das junge Ehepaar nach München und Natter stürzte sich wieder in die Arbeit. Die Natters führten ein offenes Haus und zahlreiche Künstler und Freunde nahmen gerne ihre nie versiegende Gastfreundschaft an.

Oft saßen die Freunde bis spät in die Nacht bei einem Krug Tiroler Rotwein zusammen, deklamierten Gedichte, wobei vor allem das „Trinklied eines fahrendes Landsknechtes“ mit dem Refrain „Herr Wirt noch eine Kanne, noch eine Kanne her“ den Höhepunkt bildete, wenn der Humor bereits in eine bacchantische Stimmung übergegangen war.

Fast mit allen bedeutenden Künstlern seiner Zeit, vor allem auch mit Franz Defregger und Franz Lenbach, verband Natter eine tiefe Freundschaft.

Aus Wien erreichte Natter erstmals die Nachricht, dass man für ein Standbild Walthers von der Vogelweide sammelte. Alte Dichtungen der Minnesänger Zeit wollte man neu aufleben lassen. Gleichzeitig arbeitete Natter an einem Siegfried-Denkmal.

Immer mehr wandte sich Natter aber Wien zu, das damals glänzende Hauptstadt, nicht nur eines großen Reiches, sondern auch eines Mekkas der Kunst war. Sein Schwiegervater stellte ihm in Aussicht, ein passendes Atelier zu bauen, in dem seine Schaffenskraft entsprechend zur Geltung kommen würde. Auch Gmunden, wo seine Schwiegereltern eine Villa hatten, besuchte Natter oft.

Neben dem kunstsinnigen Anton Sartori knüpfte der Künstler vor allem mit Graf und Gräfin Prokesch-Osten und dem Hofschauspieler La-Roche weitere Beziehungen an. Kurze Zeit später wurde La-Roche von ihm modelliert.

Haydndenkmal

Nachdem Natter seinen Wohnsitz nach Wien verlegt hatte, dauerte es einige Zeit, bis er dort wirklich Fuß fasste. Die ungezwungene Geselligkeit in der Kaiserstadt sagte seinem frischen Temperament zu. Auch sein alter Vater reiste von Tirol an und wohnte bei ihm. Mit dem Komponisten Karl Goldmark, der zu der Zeit in Fusch im Glocknergebiet wohnte, verband ihn eine herzliche Freundschaft, die in dessen Portrait zum Ausdruck kam.

Goldmark liebte die Einsamkeit, nannte sich „Der Alte vom Berge“ und gesellte sich nur hie und da zu seinen Freunden, die ihn besuchen kamen.

Nun stellte Natter auch das schon in München vorbereitete Siegfried-Denkmal fertig, das später im Parke des Fürsten Wilhelm von Hanau, des Sohnes des letzten Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. von Kassel, seinen Platz fand.

Am wichtigsten aber war in jenen Tagen, dass sich ein Haydnkomitee bildete und man Natter um eine Skizze für ein mögliches Denkmal bat. Vorbild war ein Wachsminiaturenbildnis, vor dem Haydn selbst im Jahre 1803 gesessen hat und das sich noch in Familienbesitz befindet. Natter gelang es auch, die Totenmaske des großen Komponisten ausfindig zu machen, die im Privatbesitz der berühmten Tänzerin Fanny Elßler war.

Als Fanny Elßler erfuhr, dass Natter sich die Maske ausgeborgt hatte, schrieb ihre Nichte sehr höflich unter anderem:

„Meiner Tante wäre es deshalb sehr angenehm, wenn Herr Natter ihr das Vergnügen seines Besuches geben wollte. Freitag und Sonntag ist sie von 11 bis 3 Uhr immer zu sprechen. Herr Natter würde ihr dann am besten sagen können, wann und ob sie sein Atelier besuchen könnte.“

Man kann sich vorstellen, mit welcher Freude der Künstler Fanny Elßler besuchte, die schon zu Lebzeiten eine Legende war.

Natters Entwurf fand in allen Punkten die Zustimmung des Haydnkomitees, das sich um die Finanzierung bemüht hatte, sodass es dem Künstler zur Ausführung übergeben wurde. Seine künstlerische Stellung in Wien endgültig war endgültig gefestigt.

Fürst Bismarck

 Nun häuften sich die Anfragen für Aufträge. Von einem Freund im Rheinland kam die Anfrage, ob Natter eine Bismarck-Büste modellieren könnte.

Er begab sich nach Berlin und berichtete: „Berlin ist teuer, hat lange nicht den fröhlichen, heiteren Charakter von unserem Wien. Gewaltige, großartige Bauten, herrliche Architekturen, festliche Frauen und brummige Herren, sehr schmutzige Gassen. Umgebung gräulich. Plätze herrlich, Auslagen geschmackvoll“.

Und über Bismarck: „Den Allgewaltigen habe ich heute morgens 9 ¼ Uhr gut und deutlich gesehen, auch später noch durchs Fenster, wo er mit dem Kaiser sprach, die beiden nebeneinander; Hinter ihnen eine Menge hoher Militärs, gewaltige und großartige Menschen. Hier sind die meisten Menschen um zwei Köpfe höher als unser österreichischer Schlag, ich habe großen Respekt vor diesem Militär. Die armen Franzosen, die solche Fäuste spüren mussten!“

Es war aber nicht leicht für Natter, Bismarck persönlich zu treffen. Hören wir ihn selbst:

„Es ist vollbracht, ich bin gestern im Abgeordnetenhaus dem Bismarck vorgestellt worden, und konnte ihn durch volle vier Stunden studieren. Er war sehr erregt, hat mich aber sehr freundlich, soweit es seine Zeit erlaubte, gesprochen. Und er hielt eine prachtvolle Rede. Grandios! ‚Herr Natter’, sagte der Gewaltige zu mir, ‚Genieren Sie sich nicht, schauen Sie mich nur gut an. Aber ich muss arbeiten.’“

Nach Wien zurückgekehrt überließ sich der Künstler temperamentvoll und freudig seinen zwei schönen Aufträgen, der Bismarck-Büste und der endgültigen Ausführung der Haydn-Statue, die 1887 fertig gestellt wurde und heute noch an ihrem ursprünglichen Platz an der Mariahilfer Straße bewundert werden kann.

Immer wieder zog es Natter im Sommer, als die Stadt zu heiß wurde, nach Tirol. Heitere Gesellschaften, lokale Feste, Jagden, führten Natter in das Milieu seiner Heimat zurück, mit der er im Grunde genommen immer, so sehr er auch Weltmann geworden war, vom Herzen her verbunden war.

Die Büste des Fürsten Bismarck

Erzherzog Franz Karl

 In Wien kam Fürst Hohenlohe, der Obersthofmeister des Kaisers, auf Natter zu, der eine Büste des Erzherzogs Franz Karl in Marmor als Geschenk für Kaiser Franz Joseph ausführen sollte. Das Portrait gelang vorzüglich. Der liebe, gütige Gesichtsausdruck war von sprechender Ähnlichkeit und besonders gut getroffen.

Ottilie, die Frau des Künstlers, erinnerte sich an den Erzherzog, „wenn er im Prater langsam daher schritt oder im großen, goldgelben Glaswagen mit den sechs Schimmeln und dem Vorreiter die Praterstraße entlang fuhr und mit unbedecktem Haupte immerfort grüßend, seinen Wienern freundlich zunickte.“

Büste des Erzherzogs Franz Karl

Ottilie Natter erinnerte sich vor allem auch an eine lange zurückliegende Begegnung mit dem Erzherzog, der sie als Kind einmal im Prater liebreich ansprach: „Du sollst nicht gegen den Wind laufen“, sagte er, „sonst kriegst an Husten, Mäderl.“

Nun kam es aber zur großen Enttäuschung: Die Frühlingsausstellung im Künstlerhaus sollte die Büste des Erzherzog Franz Karl an einem günstigen Platz präsentieren. Der Obmann der Ausstellung, Professor Zumbusch – obwohl sein Trauzeuge –  der eifersüchtig auf Natter war, veranlasste jedoch, dass vor dem Rundgang des Kaisers die Werke Natters weggeschafft wurden. Natters offener, fröhlicher Charakter war den Intrigen des Künstlerlebens in Wien schutzlos ausgeliefert.

Zwingli Denkmal in Zürich

 Eines der bedeutendsten künstlerischen Ereignisse im Leben Natters sollte die Ausschreibung eines Zwingli-Denkmals in Zürich werden. 41 Künstler reichten ihre Entwürfe ein. Natter schrieb: „Es wäre unter solchen Verhältnissen vermessen, anzunehmen, dass ich gewinnen würde.“

Am 15. Juni 1882 erreichte ihn, der gerade in Gmunden weilte, die telegraphische Nachricht eines Freundes: „Du hast den ersten Preis!“

Seine Frau Ottilie schreibt: „Ich vergesse den Augenblick nie, als ich meinem Gatten, der gerade in unser Höfchen trat, das Telegramm mit den Worten übergab: ‚Heinrich, du hast den ersten Preis.’ Bleich wie eine Statue bleib er stehen, nahm den Hut ab, feierlich wie zum Gebete: ‚Gott sei Dank’, bracht er mit gepresster, tiefer Stimme hervor und Tränen rollten über seine Wangen.“

Die Plätze nach Natter wurden vom Erzgießer und Bildhauer Ferdinand von Miller junior aus München und dem Schweizer Bildhauer Ferdinand Schlöth, die Natter aus Rom kannte, besetzt. Diese drei Künstler wurden nun vom Zürcher Auswahlkomitee, das noch einige Änderungswünsche hatte, für die endgültige Errichtung des Denkmals in Aussicht genommen.

Natter reiste mit etwas modifizierten Skizzen nach Zürich, wo der als zweiter in die engere Auswahl Einbezogene, der Schweizer Bildhauer Ferdinand Schlöth, einen neuen Vorschlag für das Monument vorgelegt hatte. Natter meinte „Nun habe ich meinen Gegner gesehen, die Statue des Herrn Schlöth, und finde diese durchaus nicht schön und noch weniger bedeutend.“

Auch das Zwingli-Komitee war dieser Meinung „Ihre Statue hat einstimmig gesiegt, kommen Sie beförderlichst hier her.“

Natter reiste also froh gestimmt mit seiner Frau wieder nach Zürich, wurde dort festlich empfangen, der Vertrag wurde sofort geschlossen: Er war kurz, klar und vorteilhaft.

Am 27. August 1885 fand mit großen geistlichen und weltlichen Feiern die Enthüllung des Zwingli Denkmals in Zürich statt.

Das aus Bronze gefertigte Zwingli-Denkmal

Das Zwingli Komitee schrieb an Natter: „Ihnen war es gegeben ein Meisterwerk zu schaffen, das allen unseren Intentionen den schönsten und würdigsten Ausdruck gab. Ihre Zwingli Statur, das erste große Denkmal, das in Zürich errichtet worden ist, bildet nicht nur einen herrlichen Schmuck unserer Stadt, sondern es ist auch bereits die Freude aller Zürcher geworden. Ihr Name aber wird mit dem Denkmal unzertrennlich verbunden bleiben.“

Im Atelier

 Immer mehr Prominente des Wiener Kunstlebens, darunter vor allem auch Gustav Klimt, schlossen sich dem Freundeskreis um Natter an.

Der berühmte und gefürchtete Kritiker Gottlieb Speidel, der Natter besonders schätzte und ihn oft besuchte, schilderte später: „Von beiden Seiten des Weges zu Natters Atelier rüsten üppige Ranken wilden Weins. Und vor die Schwelle des bescheidenen Gebäudes kam mir der kaum mittelgroße, stämmige Hausherr, das Schurzfell um die Lenden und die Hände vor Lehm starrend, mit freundlicher Mine entgegen. Wie er nur lacht und aus dem dunklen Vollbart ein Mund voll herrlicher Zähne hervorblickt! Mit solchem Sonnenschein betritt man die Werkstatt, die nicht zum Prunke, sondern zur Arbeit geschaffen ist.“

Die germanische Zeit

 Ein Auftraggeber, der begeisterter Anhänger von Richard Wagner war, ließ Natters Fantasie über die heidnische Götterwelt Hand in Hand mit seinem christlichen Glauben wachsen.

Einerseits war es der wälderdurchschreitende finstere Kraftgott Thor, andererseits ein berührender Christus, mit denen Natter sich nun beschäftigte.

Christus – Zwingli – Thor, welche Kombination!

Die Statue des Thor

Zwischen seinen Arbeiten erholte sich Natter auch immer wieder in Tirol und besuchte regelmäßig den alten Vater.

Kaiserlicher Besuch

Nach Fertigstellung des Haydndenkmals besuchte Kaiser Franz Josef das Atelier Natters, was mit einem Schlag den Ruf des großen Künstlers in Wien begründete. Dem Beispiel des Monarchen folgten auch die Erzherzöge und Persönlichkeiten aus allen Schichten der Bevölkerung.

In hellen Scharen zogen die Wiener herbei, um Natters Werke zu sehen. Im großen Saal trafen sich alle: aus dunklem Erz, in schlichtem Priestergewande, hoch aufgerichtet der Reformator Ulrich Zwingli, nicht weit von ihm, in glänzend weißem Marmor Josef Haydn, neben diesen beiden sah man Siegfried aus rauem Stein gebildet, auf seinem erschlagenem Lindwurm sitzen.

Fremdartig wirkten Gott Wodan, der finster dahinstürmende Gott Thor und die drei furchterregenden Gestalten. Die Büste des gütigen alten Kaiservaters Erzherzog Franz Karl, mit seinem freundlichen Lächeln, ergänzte die des gefeierten Burgtheater Schauspielers La Roche. Aus allen Ecken des Ateliers lachten liebliche Genre Köpfe, Bachanten, Faune, Nymphen dem Besucher entgegen.

Walter von der Vogelweide

 Nun konzentrierte sich Natter vor allem auf das Walter Denkmal. Seine Frau Ottilie schreibt:

„Walter von der Vogelweide, der in Österreich Singen und Sagen gelernt, der Dichterfürst, sollte Wacht halten an der Grenze der Südmark, dort, wo die weingesegneten Gefilde Südtirols das Auge erfreuen, wo stolze Burgen steile Höhen krönen, welche ja die Wiege so mancher Minnesänger bargen“.

Seit 1875 bemühten sich die Bozner um das Denkmal. Der vaterländische Germanist Ignaz Zingerle, Professor in Innsbruck, aber auch Professor Julius von Ficker unterstützten mit warmen Worten die Bemühungen.

Sieben verschiedene Gesangvereine vom Süden bis zum Norden sammelten für das nationale Unternehmen. Bozens deutsche Frauen riefen ihre Schwestern in allen deutschen Gauen zur Beteiligung auf. Und auch in der Kaiserstadt Wien verpflanzte sich die Bewegung, welche von hervorragenden Männern Wiens getragen wurde. Der Obmann des Bozner Walter Komitees, Dr. G. von Kofler, war einer der treibenden Kräfte.

Natter verstand Walter als Boten seines Volkes zur Zeit des beginnenden Verfalls der Hohenstauffen. Die Sammlungen für das Denkmal wurden von Männern, wie Ludwig Anzengruber, Johannes Brahms, Felix Dahn, Franz von Defregger, Peter Rosegger und vielen anderen unterstützt.

Bei der endgültigen Entscheidung des Komitees war Natter an vielen Fronten tätig. Besonders die beiden Welfen Figuren Heinrich der Löwe und Ernst August, das Schloss des Herzog Ernst August von Cumberland in Gmunden, so wie die Porträtstatuen Laube und Dingelstädt für das Wiener Burgtheater beschäftigten ihn.

Nachdem er den endgültigen Auftrag zur Errichtung des Walter Denkmals erhalten hatte, begab er sich, wohl um seine Gedanken für das Monument zu sortieren, nach Prag, Weimar, Dresden und Berlin, um mit erneuter Kraft im Atelier tätig zu werden.

Das, was ihn bei Walter so beschäftigte war, dass ihn die starre Darstellung des Sängers des 13. Jahrhunderts, die er in alten Holzschnitten im Münchner und Nürnberger Nationalmuseum gesehen hatte, nicht befriedigten. Er wollte Lebenswahres, Individuelles finden, bemühte sich Walter zu einer einheitlichen, lebensnahen Charaktererscheinung zu verwirklichen. Es war ihm gelungen.

Kein Lob freute ihn mehr, als die Worte des großen deutschen Hermann Grimm, der meinte:

„einfacher kann ein blühender männlicher Mann nicht hingestellt werden. Die Echtheit einer Persönlichkeit ist dem Steinbilde aufgeprägt.“

Inzwischen fand endlich auch die Enthüllung des Haydn Denkmals am 31. Mai 1887 in Gegenwart des Kaisers, des Kronprinzen Rudolf, einiger Erzherzöge und anderer hoher Persönlichkeiten statt.

Das aus Marmor geschaffene Joseph Haydn-Denkmal

Nach einer bewegenden Feier verlieh der Kaiser dem Künstler den Franz Josef Orden. Eine Ehre, die nur selten Künstlern widerfahren war. Wichtig war es Natter gewesen, dass Haydn an einer der stärksten Verkehrsadern der Stadt stand, weil dies trefflich zu einem Manne „der aus dem Schoße des Volkes hervorgegangen und der volkstümlichsten Tonkünstler unter unseren Klassikern ist“ passte.

Kaiser Franz Josef empfing Natter zu einer Privataudienz und meinte: „So oft ich nach Schönbrunn fahre, werde ich das Haydn Monument mit Vergnügen sehen“. Haydn hatte ja auch die österreichische Volkshymne geschrieben „Ein Lied, das so stark ist, wie unsere bewaffnete Macht“, schrieb die Neue Freie Presse.

Andreas Hofer – ein Höhepunkt in Natters Schaffens

Natter war international berühmt geworden. Nicht nur Bozen, sondern auch Innsbruck wollte nun ein Werk des Künstlers und wer wäre da eher in Frage gekommen, als der Volksheld Andreas Hofer?

Das Andreas Hofer Komitee hatte 25 Millionen Gulden gesammelt und schrieb unter anderem an Natter: „Es ist begreiflich, dass das Komitee hiebey in erster Linie an Euer Wohlgeboren, als den hervorragendsten Meister plastischer Kunst und zugleich opferwilligsten Landsmann gedacht hat, daher das selbe durch den ergebenst Unterzeichneten sich die höfliche Anfrage erlaubt, ob Euer Wohlgeboren überhaupt geneigt wären, diesem vaterländischen Unternehmen, wenn auch für dasselbe keine glänzenden Mittel zu Gebote stehen, den Stempel Ihrer und außer der Heimath gepriesenen Kunst aufzudrücken.“

Der einfache Mann aus Tirol wurde nun mit „Euer Wohlgeboren“ angeredet, was wohl nicht nur aus der Höflichkeit der Zeit zu verstehen war, sondern vor allem auch, weil man wusste, dass die Gunst des Kaisers dem Künstler galt. Das Schreiben des Komitees war von Karl Adam, dem Altbürgermeister unterschrieben.

Natter stand am Höhepunkt seines Lebens und dennoch rief er mitten in sprudelnden Tätigkeiten aus:

„Meine Jahre sind gezählt!“.

In der Tat, nur fünf Jahre waren im noch vergönnt, nur drei davon in voller Lebenskraft. Aber auch damals schon und je größer der Ruf des Künstlers wurde, versammelten sich seine Gegner.

Als bekannt wurde, Natter solle den Andreas Hofer zur Ausführung erhalten, brauste ein böser Sturm auf. Sogar als abtrünniger Sohn seiner Kirche wurde er angegriffen; hatten ja schon im Jahr 1884 die öffentlichen Worte: „Das Zwingli Denkmal von einem Tiroler“ das Zeichen dazu gegeben. „Ein Heer von Feinden trat auf den Kampfplatz. Seine Kunst wurde herabgesetzt, seine Ehre verletzt, die Familie nicht geschont“, schreibt seine Gattin.

Diese Anfeindungen führten wohl auch dazu, dass die erste schwere Krankheit den Künstler überfiel und ihn an den Rand des Grabes brachte. Die Kraftnatur siegte, doch das Herz blieb geschwächt.

Andreas Hofer blieb sein letztes Werk, sein Vermächtnis war in Bronzeguss vollendet, sodass das Monument ganz im Sinne des Meisters errichtet werden konnte.

Um die Persönlichkeit Andreas Hofers näher zu erforschen, traf sich Natter mit einem der letzten Überlebenden, die den Wirt in Passeier noch persönlich kannten, der Josef Schwarz hieß und als „Steiner-Josele“ bekannt war.

Natter begab sich bei strömendem Regen auf fast ungangbaren Wegen zum Gasthaus „Zum Sand“, dem Geburtshaus Hofers. Der damalige Wirt, ein entfernter Verwandter Hofers, verwies ihn zum Steiner-Josele, der eineinhalb Gehstunden entfernt in der Ortschaft Walten wohnte.

Er war schon 96, aber immer noch in seiner Landwirtschaft tätig. Das Gespräch ging bald zurück in die Zeit von 1809. Lebendig wusste der alte Mann zu erzählen von der Aufregung, vom Zusammenhalten im ganzen Tale, dann von den Kämpfen und dem darauffolgenden Elend.

„War der Hofer ein großer Mann?“, fragte Natter. „Ja, sell woll, dös war a starker Mann; solchene san im Tal wenig gwochsn.“

„Habt Ihr oft mit ihm verkehrt?“, fragte Natter. „O ja, wie oft hon i die Staffetn übern Jaufn noch Sterzing trogn. I wor a flinker Bua, wie i nu jung gwesn bin und hon so viel guat laffn konnt. Do hobns ollwei mi gschickt.“ Erzählte er weiter. „Seppele, geh nu gschwind und loss di net dawischn. Hot da Hofer gsogt. Gib des Papier beim Wirt in Sterzing ab und wenn si dir wos mitgebn, kimmst wieda boid zruck. Einmoi hot er mir an Sübazwanzga geschenk, den hon i heit nu.“

Natter berichtet weiter: „Ich erfuhr weiter vom Josele Auskunft über die Kleidung Hofers und Farbe derselben; Am liebsten is er in Hemsärmeln gwesn, der Hofer, meinte Josele.

Das Gedächtnis von Josele war ausgezeichnet. Auf viele Kleinigkeiten und Eigentümlichkeiten erinnert er sich und ich habe Manches von ihm erfahren, wofür ich heute noch dankbar bin. Plötzlich erhob sich der alte Mann ‚Jetzt muss i zur Orbeit‘ sagte er.

Ich merkte wohl, dasses sein Ernst war und fragte noch schnell: ‚Es muss wohl ein trauriger Tag gwesn sein, an dem man Hofer gefesselt aus dem Tal schleppte‘.

‚Jo Herr‘, entgegnete Josele, ‚Dos wor woi da loadetste Tog in mein Leben.‘“

Natter drückte ihm ein paar Silbergulden in die Hand, die er nicht annehmen wollte: „‘Füa wos gebt ihr mirs Göd?‘ fragte er. Ich erwiderte, dass er Zeit verloren habe und die möchte ich ihm vergüten. So nahm er das Geld und behielt es in der Hand. Sein letztes Wort war: ‚Gelobt sei Jesus Christus.‘ Er griff auf der Türschwelle noch in den Weihbrunn und verschwand“.

Natter arbeitete immer an verschiedensten Kunstwerken zugleich.

In dieser Zeit erhielt er auch eine Einladung des Fürsten Wilhelm von Hanau, mit dem er eine fröhliche Wagenfahrt durch das Salzburgische bis nach Tirol hinein machte.

Auch eine Bergwanderung machte er mit dem Fürsten, bei der er Bergknappen begegnete, die einen eben gebrochenen großen schönen Kristall herab trugen, den er erwarb und im Denkmal „Gnom mit dem Kristall“ einbaute, das heute am Beginn der Esplanade in Gmunden steht.

Der Gnom mit dem Kristal

Im Sommer 1888 mietete sich Natter am Achensee das einsame sogenannte „Fischerhaus“. Auch dort fand er nicht die Ruhe, die er brauchte und viele Freunde besuchten ihn. Vor allem suchte Fürst Wilhelm von Hanau des Meisters Nähe. Er hatte sich in der Nachbarschaft eingemietet.

Erst im Herbst 1888 erhielt Natter den endgültigen Auftrag, der durch zahlreiche Intrigen in Tirol und Wien verschleppt worden war, um das Andreas Hofer Denkmal zu errichten. Aber auch das Walter Denkmal war noch nicht fertig. Im Frühjahr 1889 besprach Natter mit dem Architekten Hieser die Walter Postamentarbeiten in Südtirol.

Danach meldete sich wieder Fürst Hanau, berief ihn auf seinen Besitz nach Horowitz, um ihm eine Reihe von Aufträgen zu übergeben: „Erstens ein überlebensgroßes Standbild des Kurfürsten, Vater des Fürsten, zweitens eine überlebensgroße Walküre, drittens einen Wodan, viertens eine Richard Wagner Büste und fünftens die Büste des verstorbenen Bruders des Fürsten.“

Man kann sich kaum vorstellen, wie in jener Zeit, da die Verkehrsmöglichkeiten ja noch langwierig und beschränkt waren, die weiten Wegstrecken bewältigt werden mussten.

Wieder nach Wien gekommen, musste der Künstler noch das Antlitz der Walter Statue ausführen.

Dann aber widmete er sich zur Gänze dem Andreas Hofer Denkmal. Diese arbeitsreiche Zeit hielt den übermenschlich tätigen Meister fast den ganzen Sommer in Wien zurück.

Auch das Interesse des Kaisers, der der Enthüllung der Walter Statue nicht beiwohnen konnte, war groß.

Natter fuhr dann unmittelbar wieder nach Horowitz zum Fürsten von Hanau, um die Skizze für das Monument des verstorbenen Kurfürsten vorzustellen.

Plastisch beschreibt seine Frau die Ereignisse in Horowitz: „Drei der ältesten Beamten wurden befohlen, die noch bei dem Kurfürsten gedient hatten und ihn genau kannten. Jeder musste einzeln erscheinen, feierlich im Frack und auf die Frage des Fürsten: ‚Wissen Sie, wer das sein soll?‘, war die Antwort sofort, wie aus einem Mund: ‚Seine königliche Hoheit, der hochselige Fürst.‘

‚Lieber Herr Natter, Sie haben die Probe glänzend bestanden. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen und machen Sie uns das Standbild ganz so, wie ihn diese kleine Skizze darstellt.‘“

Aber der Fürst ließ den Künstler nicht sogleich zu seiner Arbeit eilen, er wünschte dessen Begleitung nach Bayreuth zur Vorstellung des „Parzival“. Dieser hohe Genuss ward Natter gerade noch gegönnt, als ein angekündigter Besuch des Kaisers ihn schnellstens nach Wien berief.

Im Herbst 1889 fand die Enthüllung des Walter Denkmals in Bozen statt.

Das Waltherdenkmal in Bozen war in der Folge auch ein beliebtes Postkartenmotiv

Tiefblauer Himmel mit glänzender Sonne überwölbte den großen langgestreckten Johannesplatz, der tausende von Menschen umschloss. Im Hintergrund umringten die Berge mit ihren spitzen Kirchlein, Burgen und Gehöften die Festversammlung.

Erzherzog Heinrich war als Vertreter des Kaisers erschienen.

Als die Hülle fiel, erstand, wie die Frau Natters schreibt: „das schlanke, weiß schimmernde Marmorbild Walters in seiner hehren Schönheit.“

Die Menge brach in Jubel aus, Natter wurde von allen umringt, beglückwünscht, Freunde und Fremde wollten ihn sehen und sprechen – das bald darauf folgende Festessen mit seinen langatmigen Reden wirkte beruhigend. Die Vogelweider – eine damals sehr bekannte Gruppe Südtiroler Musiker – mussten immer wieder singen. Dem Meister wurde zugetrunken, der schäumende Wein kreiste. Die Gläser erklangen von einem zum anderen und alle verband höchste Freudseligkeit.

An die Schaffenskraft Natters wurden immer neue Anforderungen gestellt.

Fürst Wilhelm von Hanau hatte sich beim Kaiser die Gnade erbeten, dessen Büste, nach dem Leben, von Natter modellieren lassen zu dürfen.

Als Natter mit dem Kaiser allein war, um die Büste anzufertigen, entspann sich bald ein lebhaftes Gespräch. Korrekt, wie der alte Kaiser war, verhielt er sich musterhaft ruhig und im Eifer der Arbeit vergaß der Künstler seine Majestät daran zu erinnern, sich auszuruhen. Erst als das Gespräch verstummte, blickte Natter auf und merkte, wie der Kaiser ganz ermüdet aussah. Völlig erschrocken entschuldigte er sich und gütig erwiderte der Monarch: „Sie waren so im Eifer, Herr Natter, ich wollte Sie nicht stören.“

Da der Künstler mit seiner Arbeit noch nicht fertig geworden war, bat er um eine zweite Sitzung, die ihm huldvoll gewährt wurde.

Büste von Kaiser Franz Joseph

Später schrieb er an den Fürsten Hanau: „Dass es mir gegönnt worden ist, die Majestät, unseren lieben Kaiser, so kennenzulernen, wie er in seiner ganzen liebenswürdigen Menschlichkeit ist, wenn er alles Zeremoniell abstreift, ist wohl das tiefgehendste Ereignis meines Lebens, was ich nur Ihnen, verehrte Durchlaucht, zu danken habe.

Der Kaiser sprach von Tirol und den dortigen Lokalverhältnissen, wie ein Eingeborener; Er hat ein unglaubliches Gedächtnis und interessierte sich für die kleinsten Verhältnisse. Reizend war es, wie er von sich und der Kaiserin erzählte: ‚Ich habe leider den einzigen schönen Tag, den wir in Meran hatten, so viel zu arbeiten gehabt, dass ich nicht einmal hab können mit der Kaiserin spazieren gehen.‘ Dann weiter: ‚Ich hab das Schloss Planta mit seinem schönen Efeu schon vor Jahren in Erinnerung gehabt und habe die Kaiserin hinführen wollen. Der Weg ist lang, wir haben uns gefürchtet ihn zu verfehlen und da war am Weg ein Mädel mit Kühen, die hab ich gefragt: Da oben ischt´s ja, hat sie gesagt und ist ein Stück mit hinaufgegangen, das war doch nett.‘“

Künstler und Herrscher verstanden sich ausgesprochen gut. Franz Josef durfte froh gewesen sein, dem steifen Hofzeremoniell zu entkommen und einen waschechten Tiroler bei sich zu haben.

Natter schrieb weiter an Hanau:

„Ich habe meinen Kaiser kennengelernt, wie kaum einer seiner Untertanen. Er hat sich mir in seiner ganzen leutseligen Herzensgüte erschlossen.“

Noch im Nachhinein kann man feststellen, wie sehr die Persönlichkeit Kaiser Franz Josefs die Menschen beeindruckte und wie sehr auch heute noch das Bild des alten Kaisers die seltsamen Maßnahmen, die die Republik gegen die Habsburger für richtig hält, überstrahlt.

Seine ganz Kraft widmete Natter nun dem Andreas Hofer Denkmal. Es wurde am 9. März 1890 begonnen, konnte aber wegen einer Erkrankung des Meisters erst im Frühjahr 1891 beendet werden. Wie akribisch Natter arbeitete, geht daraus hervor, dass er extra noch einmal zum Sandwirt fuhr, der noch Kleider des Freiheitshelden hatte. Natter bat, dass ein Knecht, der in etwa die Größe Hofers hatte, die Kleider anziehen sollte, um ein möglichst exaktes Bild Hofers aus seiner Zeit modellieren zu können.

Die Zeiten der Krankheit wurden jedoch häufiger und ließen vielfach Natter leidend zurück, was ihn nicht daran hinderte, sich ins Atelier bringen zu lassen, um zu korrigieren und Arbeiten für seine Leute vorzubereiten.

Dem Rat seines Arztes, den Winter im Süden zu verbringen, folgte er leider nicht.

Wohl vorausahnend, beschäftigte er sich schon mit seiner eigenen Grabstätte. Als Ergänzung zum anstrengenden Leben eines Bildhauers, beschäftigte sich der vielseitige Künstler auch mit Fabulieren und Schreiben. Seine „Kleinen Schriften“, sowie sein Bericht über das Steiner Josele, den Meldegänger Hofers, ernteten ungeahnten öffentlichen Erfolg, der von seinem Freund Speidel entsprechend begleitet wurde.

Die Gesundheit Natters verschlechterte sich nun zusehends. Im Sommer 1891 war er noch in der Schweiz, um als Preisrichter für ein Denkmal zu fungieren. Er traf dort auch seinen alten Freund, den berühmten Schweizer Maler, Zeichner, Grafiker und Bildhauer des Symbolismus, Arnold Böcklin.

Nach Wien zurückgekehrt, war er wieder rastlos tätig und fuhr im Herbst nach München, wo er sich das bunte Treiben, das sich auf der Oktoberfestwiese entfaltete, gönnte und auch mit Defregger einige schöne Stunden verbrachte.

Auch sein Haus in Gmunden besuchte er noch, soweit es seine Zeit zuließ.

In Innsbruck nahm er an stürmischen Komiteesitzungen, die das eine oder andere Detail seiner Andreas Hofer Statue besprochen haben wollte, teil.

All dies strengte ihn an, da er überall mit der vollen Kraft seiner Persönlichkeit seine künstlerischen Vorstellungen einbrachte.

In der Folge wurde er bettlägerig und verfolgte vom Krankenlager aus den Verlauf seiner Arbeiten. Anfangs empfing der Meister noch seine Freunde am Krankenlager und ergötzte sich an ihren harmlosen Scherzen.

Anfang April verschlimmerte sich sein Zustand. Nur mehr kurze Besuche durften vorgelassen werden. Eine junge Verehrerin überreichte ihm noch duftende Rosen und er freute sich: „So, jetzt kommt gar noch der Frühling zu mir herein.“

Zu ihm aber kam mit eilenden Schritten der Tod. Seine letzten Worte waren:

„Ich habe keinen Willen mehr.“

Zwei Tage, nachdem der Meister die blühenden Rosen empfangen hatte, am 13. April 1892, hauchte er seine Seele aus.

Es war ein endloses Abschiednehmen, als der zu früh aus seinem Schaffen gedrängte Künstler jetzt seine Fahrt zur Feuerbestattung nach Zürich antrat.

Vom verödeten, für immer verlassenen Heim hinweg, zog der lange Zug durch sein liebes Wien, da und dort senkten sich breite schwarze Flaggen grüßend zum Trauerwagen nieder. Eine erdrückende Fülle von Blumen und Kränzen begleite den verstorbenen Künstler.

Zürich hatte für den Erbauer des Zwingli Denkmals die Ehrenbestattung vorbereitet. Aus allen Orten kamen die Freunde heran.

Die Enthüllung des Andreas Hofer Denkmals, die in Gegenwart seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. stattfand, erlebte der Meister nicht mehr.

Zeitgenössisches Bild des Andreas Hofer-Denkmals auf dem Bergisel nach dessen Einweihung im Jahre 1893 – ein Jahr nach dem Tod seines Schöpfers

Es war ein überwältigendes Bild, die Volksmassen zu sehen, welche im wohlgeordneten Zug, angetan mit ihrer nationalen Kleidung, in schwerem rhythmischen Gange, mit hochgehobenen wehenden Kriegsfahnen die breite Straße zum Iselberg hinanschritten.

Zu ihrem Helden hinauf zogen sie, vor ihren Kaiser hin, der sein Volk erwartete und es leutselig empfing.

Hofer steht auf der Stätte seines Ruhmes, wie er seinerzeit als Befehlshaber dagestanden haben mag, mit dem rechten vorgestreckten Arm, auf den Feind unten hinweisend.

Natter war wohl der größte Bildhauer Tirols

 Bildhauer sind zum Unterschied von Malern, Architekten oder Komponisten eher weniger bekannt. Heute kennen viele Natters Namen nicht mehr.

Diese Lebensbeschreibung möge dazu beitragen, die Erinnerung an diesen bedeutenden Tiroler Landsmann wach zu halten.




Ein trauriges Jubiläum und eine mahnende Erinnerung an Österreichs Pflichten

Vor 100 Jahren wurde Südtirol von Österreich abgetrennt

Als der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen war, hatte die italienische Besatzungsmacht begonnen, überall die Tricolore zu hissen und die althergebrachten Tiroler Fahnen zu verbieten und zu beschlagnahmen.

Die deutschen Ortstafeln wurden abmontiert und durch italienische Ortnamensschilder ersetzt. Sogar auf Postkarten musste der verordnete Aufdruck „Alto Adige“ gestempelt werden.

Der Austausch der Ortsschilder

Verordneter Aufdruck „Alto Adige“ auf einer Postkarte

Proteste aus der Bevölkerung

Es zeichnete sich ab, dass Südtirol als Kriegsbeute bei Italien verbleiben würde. Nun regte sich erster Protest, der sich angesichts der italienischen Repressionsmaßnahmen einschließlich zahlreicher Verhaftungen freilich nur versteckt und nicht in großen Volkskundgebungen äußern konnte.

Protestaufschrift auf dem Musikpavillon auf der Promenade in Meran.

Vier Meraner Bergsteiger beschlossen, auf der Santnerspitze, der steilen Felsnadel am Schlern, eine weiß-rote Fahne aufzuhängen.

In das Santner-Gipfelbuch schrieben sie hinein: „Treu deutsch immerdar“.

Dann nahmen die Bergsteiger noch ein Erinnerungsbild auf und stiegen bei Nacht wieder ab. Am nächsten Tag war die Tiroler Fahne auf dem Santner zur Freude der Landsleute und zum Ärger der Italiener weithin im Seiser Mittelgebirge und auch drüben am Ritten sichtbar.

Petition aller Südtiroler Gemeinden mit der Forderung nach Selbstbestimmung – Großkundgebung in Innsbruck

Im Februar 1919 richteten sämtliche Gemeinden Deutsch-Südtirols sowie die zwölf ladinischen Gemeinden von Gröden, Enneberg, Buchenstein und Fassa eine Petition an den US-Präsidenten W. Wilson mit der flehentlichen Bitte, unserem Volkstum, unserem Lande der gerechte Richter“ zu sein.

In einem Memorandum teilte die Tiroler Landesregierung am 26. Februar 1919 W. Wilson mit: „…hat… die Tiroler Landesversammlung in ihrer Sitzung vom 21. Februar 1919 den einstimmigen, feierlichen Beschluss gefasst: ,Die Frage der ungeteilten Erhaltung der gesamten deutschen und ladinischen Gebiete Tirols erfüllt das ganze Volk mit schwerer Besorgnis. Wir Tiroler erklären, daß wir unter keiner Bedingung in eine Abtretung Südtirols willigen und lieber alle, auch die schwersten Opfer bringen, bevor wir auf die Zugehörigkeit mit unseren Brüdern im deutschen Südtirol verzichten.

Alle Protestmaßnahmen wie eine Großkundgebung auf dem Bergisel in Innsbruck am 13. Juni 1919 und alle Bitten waren jedoch vergeblich.

Die Großkundgebung auf dem Bergisel in Innsbruck am 13. Juni 1919

Auch als dankenswerter Weise der italienische Sozialistenchef Filippo Turati am 16. Juli 1919 eine von allen 173 deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler Gemeinden unterzeichnete Petition gegen die Annexion und mit der Forderung nach Selbstbestimmung im italienischen Parlament einbrachte, änderte dies nichts.

Die Ententemächte blieben dabei, dass Österreich den aufgezwungenen Diktatfrieden am 10. September 1919 unterzeichnen musste, mit welchem Südtirol an das Königreich Italien fiel.

Abschied vom Vaterland

Am 6. September 1919 nahm der aus Lusern stammende und nun vom Land Tirol nach Wien entsandte Nationalrat Dr. Eduard Reut-Nicolussi im österreichischen Parlament Abschied von dem Vaterland. Der mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnete Kaiserjäger sagte unter anderem: „Der Tiroler Landesrat hat nun seinen Standpunkt zu diesem Friedensvertrage vor einigen Tagen in folgenden Worten niedergelegt:

Entscheidend erscheint der Vertretung des Landes Tirol, dass kein Rechtsfriede, sondern ein Gewaltfriede vorliegt … Tirol erkennt daher den Zustand, der durch den Frieden geschaffen werden soll, nicht als Rechtszustand an und wendet sich schon jetzt an den Völkerbund, damit er dem, betreffs Südtirol mit Füßen getretenen Selbstbestimmungsrechte Anerkennung verschaffe und … das schwere Unrecht beseitige, das dem Land Tirol widerfahren ist.“

Dr. Eduard Reut-Nicolussi

Gegen Ende seiner Rede eröffnete Reut-Nicolussi einen düsteren Ausblick: „Es wird jetzt in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof, um jedes Stadthaus, um jeden Weingarten. Es wird ein Kampf sein mit allen Waffen des Geistes und mit allen Mitteln der Politik. Es wird ein Verzweiflungskampf deshalb, weil wir – eine Viertelmillion Deutscher – gegen vierzig Millionen Italiener stehen, wahrlich ein ungleicher Kampf.“

Bei Stimmenthaltung der Tiroler Abgeordneten musste sodann der Nationalrat notgedrungen die Unterfertigung des Friedensvertrages beschließen. Der Staatskanzler Dr. Renner fuhr nach St. Germain – das Beil der politischen Guillotine war gefallen.

Protest des Tiroler Landtages gegen den Raubfrieden

Am 23. September 1919 fasste der Tiroler Landtag nach dem bereits von Dr. Reut-Nicolussi zitierten Beschluss des Tiroler Landesrates, welcher aus den Abgeordneten des Tiroler Landtages und den Mitgliedern der Landesregierung bestand, in einer Protestsitzung einen weiteren einstimmigen Beschluss, in welchem er feststellte, dass er in dem „sogenannten Friedensvertrage“ eine „unerhörte Vergewaltigung des Landes Tirol“ erblicke.

In dem Beschluss hieß es weiter:

„Vor Gott und der Welt bekundet der verfassungsgebende Landtag von Tirol, dass er nicht ruhen und rasten wird, bis diese Schändung der Freiheit des Landes wieder gut gemacht ist und sich Norden und Süden des Landes in gemeinsamer Staatlichkeit zu friedlicher Kulturarbeit vereinigt haben werden.“

Hundert Jahre später eine mahnende Erinnerung an Österreichs Pflichten durch einen Nationalratsbeschluss

Einhundert Jahre später, als heimatbewusste Südtiroler der Tragödie gedachten, indem sie Fahnen mit Trauerflor hissten, kam es auf Initiative des freiheitlichen Südtirol-Sprechers und Nationalratsabgeordneten Werner Neubauer am 19. September 2019 zu einem denkwürdigen Beschluss des Österreichischen Nationalrats für die Ermöglichung einer doppelten Staatsbürgerschaft für Südtiroler.

Zähe Verhandlungen mit der ÖVP

Vorangegangen waren lange und zähe Verhandlungen mit der ÖVP, welche sich anfangs heftig dagegen gesträubt hatte. Es gab Bestrebungen gewisser „Granden“ in der Volkspartei, die um Gottes Willen das gute Klima mit Rom nicht gestört haben wollten

Dort lehnten nämlich alle namhaften Politiker dieses Vorhaben ab, obwohl Italien zehntausenden von Auslandsitalienern die italienische Staatsbürgerschaft zusätzlich zuerkannt hat, ohne die anderen Staaten deshalb um Erlaubnis gefragt zu haben. In Bezug auf die Südtiroler freilich hatten die politischen Spitzen im Rom gemeint, dass eine Doppelstaatsbürgerschaft gegen den Willen der italienischen Regierung nicht gewährt werden dürfe.

Widerstand aus der Südtiroler Volkspartei (SVP) und der Nordtiroler ÖVP

Dieser Haltung gegenüber waren der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) und sein Nordtiroler Kollege Günther Platter (ÖVP) eingeknickt.

Am 9. Mai 2019 hatte das Büro des Nordtiroler Landeshauptmannes Günther Platter dem Obmann des Südtiroler Heimatbundes (SHB), Roland Lang, unter korrekter Verwendung des Binnen-I für „SüdtirolerInnen“ per Email mitgeteilt: „…dürfen wir Ihnen mitteilen, dass dieses Thema aktuell von Herrn Landeshauptmann nicht forciert wird, denn eine Einführung darf nur im Einvernehmen zwischen allen Beteiligten passieren. Dieses Einvernehmen gibt es momentan nicht, wie Aussagen von Minister Salvini und Landeshauptmann Kompatscher zeigen. Deshalb birgt der Doppelpass für SüdtirolerInnen mit deutscher und ladinischer Muttersprache momentan mehr Gefahren als Potenzial in sich.“

Und am 13. Mai 2019 hatte die Austria Presse Agentur (APA) vermeldet, dass der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher das Thema offenbar gerne in eine unendliche Zukunft verschoben hätte: Doppelpass – Kompatscher sieht EU-Staatsbürgerschaft als Lösung“ (APA0283 5 AI 0337 II)

Der FPÖ-Südtirol-Sprecher setzte sich durch

Letztendlich war es dem freiheitlichen Mandatar Werner Neubauer unter Hinweis auf das seinerzeitige Türkis-blaue Regierungsabkommen dann doch gelungen, die ÖVP zu einer eher zähneknirschenden Zustimmung zu gewinnen. In dem seinerzeitigen Regierungsübereinkommen hatte es nämlich geheißen:

„Doppelstaatsbürgerschaft Südtirol und Alt-Österreicher: Im Geiste der europäischen Integration und zur Förderung einer immer engeren Union der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten wird in Aussicht genommen, den Angehörigen der Volksgruppen deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, für die Österreich auf der Grundlage des Pariser Vertrages und der nachfolgenden späteren Praxis die Schutzfunktion ausübt, die Möglichkeit einzuräumen, zusätzlich zur italienischen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben.“

Werner Neubauer – Nationalratsabgeordneter

Sich jetzt davon zu distanzieren, fiel offenbar doch ein wenig schwer. Am 19. September 2019 konnte der FPÖ-Abgeordnete Werner Neubauer daher im Österreichischen Nationalrat an das Rednerpult treten und auch im Namen des ÖVP-Südtirol-Sprechers Hermann Gahr folgenden Entschließungsantrag einbringen:

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Der Bundesminister für Inneres und der Bundesminister für Europa, Integration und Äußeres werden aufgefordert, zeitnah mit ihrer italienischen Kollegin und ihrem italienischen Kollegen sowie den Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung in Südtirol in bilaterale Gespräche zu treten, um das Thema ,Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler‘ zu erörtern. Nach diesen Gesprächen wird der Bundesminister für Inneres aufgefordert, dem Nationalrat einen Gesetzesvorschlag für eine Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler vorzulegen.“

Der Antrag wurde mit den Stimmen der FPÖ und ÖVP angenommen, von den anderen Parteien kam keine Zustimmung.

Ablehnung aus Rom

Meldung der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ vom 24. Jänner 2019:

„Der Staatssekretär im Außenministerium, Guglielmo Picchi (Lega), unterstrich am Montag die ablehnende Haltung des Kabinetts Conte. Man habe keine Absicht, mit Wien über die österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler zu sprechen, wird der Staatssekretär zitiert.“

„Danke Österreich!“

Grundsätzlich ist die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler eine souveräne Angelegenheit des österreichischen Staates. Auch Italien hat zehntausenden Auslandsitalienern eine doppelte Staatsbürgerschaft zuerkannt, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu bitten. Es geht daher in Österreich darum, über wie viel Rückgrat die Politiker verfügen, um trotz Unmutsäußerungen aus Rom das Richtige zu tun.

Der Entschließungsantrag hat keine rechtliche Bindewirksamkeit für die jetzige und für künftige österreichische Bundesregierungen, tatsächlich einen entsprechenden Gesetzesantrag einzubringen. Es handelt sich um eine Aufforderung.

Daher können die altbekannten Kräfte in der ÖVP, denen das herzliche Einvernehmen mit Rom an wichtigster Stelle steht, eine rasche Umsetzung unter vielerlei Bedenken und Vorwänden verhindern. Mit der Begründung, es müsse auf jeden Fall die – nicht erreichbare – Zustimmung Roms erreicht werden, kann das Thema natürlich auf den Sanktnimmerleinstag verschoben werden.

Immerhin gibt die Annahme des Antrages aber allen Engagierten in Südtirol und in Österreich die Möglichkeit, nicht locker zu lassen und das Thema in der österreichischen Innenpolitik immer wieder zur Sprache zu bringen.

Freude der SVP-Altmandatare

Der ehemalige SVP-Landessekretär, Landtags- und Regionalratsabgeordnete und Landesrat für deutsche und ladinische Kultur, Dr. Bruno Hosp ist Vorsitzender im SVP-Club der Altmandatare. Diese vertreten in der SVP eine volkstumspolitische Linie und erheben ihre Stimme, wann immer es ihnen im öffentlichen Interesse als notwendig erscheint.

Eine Presseaussendung aus Südtirol vom 20. September 2019:

„SVP-Altmandatare erfreut über Zustimmung für Doppelpass in Wien – Die geplante Wiederverleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler sei ein „bedeutendes europäisches Zeichen des österreichischen Vaterlandes. Die Resolution des Nationalrates sei „richtungsweisend und eine klare politische Willensbekundung.“ Dies stellt der Vorsitzende des SVP-Clubs der ehemaligen Mandatare, Dr. Bruno Hosp fest. Der Nationalrat habe damit zum ersten Mal für Österreich das Prinzip der Doppelstaatsbürgerschaft vorgegeben.“

Südtiroler Heimatbund (SHB): Freude und Vorsicht

Roland Lang, Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB)

Roland Lang, der Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB), einer von ehemaligen Freiheitskämpfern und politischen Häftlingen gegründeten Vereinigung für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes, hat in einer Presseaussendung erklärt:

„Auch wenn sich im österreichischen Parlament eine große Mehrheit für die Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft für die Südtiroler ausgesprochen hat, muss man das Ganze politisch vorsichtig sehen. Ein Grund zur überschwänglichen Freude besteht leider noch nicht, aber es war ein wichtiger Schritt, so SHB-Obmann Roland Lang. Das gekonnte Intrigenspiel italienischer Politik hat bisher ja verhindert, dass Österreich in Sachen Doppelstaatsbürgerschaft jene Freiheit hat, die Italien seit Jahrzehnten ohne jedes Bedenken anwendet.“

Es könne, sagt Lang, der Beschluss letztendlich auch „in den Schubläden der Politik fern der Tagesaktualität verschwinden … Daher muss man warten, wie sich die Lage entwickelt. … So kann der weitere Weg zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft für Südtiroler leider lang und beschwerlich werden. Trotzdem ein aufrichtiger Dank an unser Vaterland Österreich.

Freudige Zustimmung der deutschen Oppositionsparteien im Südtiroler Landtag

Der Landtagsabgeordnete Sven Knoll von der „Süd-Tiroler Freiheit“

Der Südtiroler Landtagsabgeordnete Sven Knoll von der „Süd-Tiroler Freiheit“ erklärte in einer Pressemitteilung: Für Südtirol eröffnet sich mit dem Beschluss des österreichischen Parlaments eine historisch einmalige Chance, die es zu nutzen gilt. Die Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft brächte für Südtirol eine unverrückbare Absicherung der Autonomie, die Spaltung der Tiroler Gesellschaft nördlich und südlich des Brenners könnte überwunden werden und völlig neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit würden sich ergeben.“

Der Parteiobmann der Südtiroler Freiheitlichen, Andreas Leiter Reber, zeigte sich ebenfalls erfreut über den Nationalratsbeschluss und sprach in einer Pressemitteilung von einem „bedeutenden Schritt zur Verwirklichung eines parteiübergreifenden Südtirolanliegens … Wenngleich der Entschließungsantrag nicht bindend ist, besitzt er doch großes politisches Gewicht.“

SVP – ÖVP – „Grüne“: Vielsagendes Schweigen im Walde

Man darf gespannt sein, wie sich die ÖVP als künftige Regierungspartei verhalten wird. Man sollte sie aber nicht aus der Pflicht entlassen.




Trauerndes Gedenken an Sepp Innerhofer – einen Freiheitskämpfer der ersten Stunde

Die traurige Nachricht von dem Ableben

Am 16. Mai 2019 musste Roland Lang, Obmann des von Südtiroler ehemaligen politischen Häftlingen gegründeten „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB), der Öffentlichkeit eine traurige Mitteilung übermitteln:

„Es erreicht uns eine traurige Nachricht: Im Alter von 91 Jahren ist Sepp Innerhofer, Gojenbauer in Schenna und Träger des Tiroler Verdienstkreuzes, von uns gegangen. Er war das letzte noch lebende Gründungsmitglied des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS). Nacht auf den 30. Jänner 1960 sprengte er zusammen mit Kurt Welser, Heinrich Klier, und Martl Koch ein besonders verhasstes Symbol faschistischer Herrschaft, das damals immer noch bestehende Reiterstandbild des „Duce“ vor dem Kraftwerk in Waidbruck.

Nach den Anschlägen der Herz-Jesu-Nacht des Jahres 1961 auf Strommasten wurde er verhaftet und in der Carabinieri-Kaserne in Eppan schwer gefoltert. In einem aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten Brief an Landeshauptmann Dr. Magnago schilderte Innerhofer am 22. September 1961 die erlittenen Misshandlungen: Stehen vor einer Glühlampe direkt vor dem Gesicht – Faustschläge und Schläge mit Gewehrriemen und Gewehrkolben ins Gesicht und auf den nackten Körper – ein Zahn ausgeschlagen – ohne Essen und Trinken 24 Stunden im Keller – neuerliche Misshandlungen an den Geschlechtsteilen – Bewusstlosigkeit – zuletzt Unterschrift unter ein vorgelegtes „Geständnisprotokoll“, ohne dieses gelesen zu haben.

Magnago reagierte nicht auf diesen Brief.

Sepp Innerhofer saß 3 Jahre im Gefängnis und hatte nach seiner Entlassung 35 Jahre lang keine Bürgerrechte. Er durfte keinen Besitz haben, keine öffentlichen Ämter bekleiden und musste sich regelmäßig bei den Carabinieri melden. Erst im Jahre 2000 durfte er wieder sein Wahlrecht ausüben.

Innerhofer trat stets öffentlich für das Recht auf Selbstbestimmung ein und hielt noch im hohen Alter zahlreiche Vorträge an Schulen und auf Abendveranstaltungen. Damit erfüllte er im Dienste der Wahrheit eine Aufgabe, welche von der Landespolitik nicht wahrgenommen wurde. Innerhofer berichtete den Schülern über den Faschismus, die Katakombenschule, die aufgezwungene Option von 1939, den Pariser Vertrag, die Gründung des BAS, die Anschläge der Feuernacht, die Verhaftungswelle, die schrecklichen Folterungen und die Gerichtsverhandlungen in Mailand. Am 20. April 2018 hatte die Tageszeitung „Dolomiten“ ein ausführliches Interview mit dem Freiheitskämpfer gebracht und diesen damit gewürdigt.

Wir nehmen voll Bewegung Abschied von einem mutigen und aufrichtigen Tiroler und trauern mit den Angehörigen.“

Auch der Südtiroler Schützenbund (SSB) ehrte Sepp Innerhofer mit einem Nachruf, in welchem es hieß:

„Nun aber ist Sepp Innerhofer, der zu Recht als einer der wichtigsten Freiheitskämpfer Südtirols bezeichnet werden kann, zu Gott heimgekehrt. Sein Mut, seine Tapferkeit und seine Überzeugung für Gerechtigkeit werden jedoch niemals in Vergessenheit geraten.“

 

 Auch die Tageszeitung „Dolomiten“ veröffentlichte am 17. Mai 2019 einen würdigen Nachruf:

Innerhofer und die Entstehung des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS)

 Über die Gründung des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) berichtete Sepp Innerhofer in einem Video-Interview, welches die Landtagspartei „Süd-Tiroler Freiheit“ auf ihre Internetseite gestellt hat.

 Nachstehend einige Auszüge aus diesem Interview (Mundartausdrücke sind der besseren Verständlichkeit halber hier durch hochdeutsche Formulierungen ersetzt):

Ausschlaggebend für die Entwicklung in jenen Jahren sei die politische, kulturelle und soziale Entrechtung der Südtiroler durch den italienischen Staat gewesen. Darauf habe der Kanonikus Michael Gamper, „eine bekannte Südtiroler Widerstandspersönlichkeit“ mit seiner berühmten Aussage „Wir befinden uns auf dem Todesmarsch“ hingewiesen. „Da hat er auch Recht gehabt. Ich habe das selbst mitgekriegt. Ich habe zufällig eine gute Bekanntschaft gehabt mit dem Friedl Volgger. Wir haben zusammen in Schenna auf einem Berghof immer Urlaub gemacht und der hat mir dann die frischen Notizen von der Partei und von der Zeitung überbracht. Er war ja Politiker. Er hat dann gesagt: Was wirst denn Du einmal mit deinen Buben tun? Jetzt haben wir 12.000 bis 15.000 junge Südtiroler, die in der Schweiz, Österreich und Deutschland auf Arbeitssuche sind, weil wir da keine Arbeit mehr haben. Die Arbeit nehmen uns die zugewanderten eingeschleusten Italiener weg. Wir haben keine öffentlichen Arbeitsstellen mehr, wir kriegen Garnichts mehr. Alles was im Pariser Vertrag zugesagt worden ist, ist uns vorenthalten worden. … Das war dann der Grund, dass einige von uns sich auf irgendeiner Versammlung in Fran gart oder Bozen getroffen haben. Da waren der Sepp Kerschbaumer, der Jörg Pircher, Franz Muther vom Vinschgau und noch einige vom Unterland, vom Eisacktal. Da hat man sich zusammengesetzt und wir waren reifere junge Leute, alle schon verheiratet. Und da hat man gesagt: Wir müssen etwas unternehmen, so geht es nicht mehr weiter. Da werden unsere Familien und unsere Jugend kaputt, wenn wir keine Arbeit, keine Wohnung, keine Sprache und keine Schulen – das war das Schlimmste –  mehr haben.

Dann hat man sich das erste Mal in Frangart getroffen, das war 1956 im November und später dann einmal in Eppan oben.

Wir haben gewusst, dass wir im Untergrund arbeiten müssen, wenn wir etwas tun müssen und dass wir nicht offiziell auftreten können. Da wären wir ja gleich polizeilich verfolgt worden.

… Bei den ersten Treffen ist nie gesprochen worden über Sprengstoff oder über Anschläge. Überhaupt nicht. Im ersten Jahr ist darüber überhaupt nicht gesprochen worden. … Der Kerschbaumer war der Älteste von uns. Dem haben wir die Führung übergeben. Der hat gleich am Anfang einmal gesagt: Meine lieben Freunde, wenn wir etwas tun, – ihr könnt zur Verteidigung alles tun – dann passt mir auf … den Menschen darf nichts zugefügt werden. Dieser Vorsatz ist Gottseidank geblieben.“

Sepp Kerschbaumer
Die in Gründung befindliche Widerstandsgruppe übergab die Führung an Sepp Kerschbaumer aus Frangart

Innerhofer berichtet sodann, wie diese Widerstandsgruppe durch das Verteilen von Flugzetteln und durch organisatorische Arbeit tatkräftig mitgeholfen hat, die große Volksversammlung von Sigmundskron im Jahre 1957 zu einer machtvollen Protestveranstaltung des Landes gegen die Unterdrückung zu gestalten.

„Wir haben dann gewartet und gehofft und gehofft. Es ist 1958 geworden, passiert ist nichts. da ist uns die Geduld ausgegangen. Und da ist dann das erste Mal bei verschiedenen Zusammenkünften … beschlossen worden: Jetzt müssen wir lauter werden, sonst hören die uns nicht.“

Es sei nun zu den ersten Protestanschlägen der Widerstandsgruppe gegen Objekte wie unbewohnte Rohbauten von Volkswohnbau-Blocks für zuwandernde Italiener gekommen. Diese Anschläge hätten von 1959 bis 1960 zugenommen.

Politiker der Südtiroler Volkspartei (SVP) waren über die bevorstehenden Widerstandshandlungen informiert

In der Video-Aufzeichnung finden sich einige zeitgeschichtlich wichtige Aussagen Innerhofers. In der Südtiroler Volkspartei (SVP) seien damals einige Spitzenpolitiker durchaus darüber informiert gewesen, dass es zu Widerstandshandlungen kommen werde. Der Obmann-Stellvertreter der Südtiroler Volkspartei (SVP), Hans Dietl, habe diesbezüglich ein Gespräch zwischen dem österreichischen Außenminister Dr. Bruno Kreisky und den BAS-Leuten Sepp Kerschbaumer und Jörg Pircher vermittelt. Dabei habe Kreisky nach einem einstündigen Gespräch zu den Südtiroler gesagt:

„Ich sage euch nicht, tut etwas, aber ich sage auch nicht, tut nichts!

Dies sei für die Südtiroler letztendlich „der Startschuss“ für die Herz-Jesu-Nacht des Jahres 1961 gewesen.

Am 20. April 2018 veröffentlichte die Tageszeitung „Dolomiten“ ein ausführliches Interview mit Sepp Innerhofer, in welchem dieser weitere tiefe Einblicke in die Entstehungsgeschichte des BAS gab. Sensationell ist seine Mitteilung, dass der damalige Obmann-Stellvertreter der Südtiroler Volkspartei (SVP), Dr. Friedl Volgger, sogar führend an der Gründung des BAS beteiligt gewesen war.

Innerhofer berichtete: Ich bin das letzte lebende BAS-Gründungsmitglied. Politiker und Journalist Friedl Volgger hat mich damals telefonisch zur Gründungsversammlung in Frangart eingeladen.

Ich habe ihn persönlich kennengelernt, als er und seine Frau und meine Frau und ich 1955 und 1956 unseren Urlaub am Taserhof in Schenna verbrachten.

Der SVP-Obmann-Stellvertreter Dr. Friedl Volgger war an der Gründung des BAS führend beteiligt

Die Gründungsversammlung im Herbst 1956 in Frangart und die zweite Versammlung des Befreiungsausschusses im Frühjahr 1957 im Lanserhaus in Eppan waren noch nicht geheim. Volgger und Sepp Kerschbaumer waren der Kopf des Ausschusses. Volgger rief dazu auf, dass wir uns zusammentun müssen, um wirkungsvoll für unsere Rechte, die im Pariser Vertrag festgeschrieben sind, einzustehen. Als Volgger bei der zweiten Versammlung aber gemerkt hat, dass wir zu schärferen Mitteln greifen wollen, verabschiedete er sich aufgrund seiner Stellung als Politiker und Journalist. Er hat sich von uns aber nie distanziert. Dann hat Sepp Kerschbaumer alleine die Leitung übernommen.

Dolomiten: Welche Rolle haben Sie in der Feuernacht 1961 gespielt?

Innerhofer: „In dieser Nacht war ich – so wie viele andere – dafür zuständig, ein Objekt zu sprengen. Ich habe mit 2 Kameraden einen Strommast in Sinich in die Luft gesprengt. Es war uns immer wichtig, mit unseren Sprengungen ein Zeichen zu setzen und aufzurütteln, damit wir zu unseren Rechten kommen. Es war aber von vorneherein ausgemacht, dass unsere Aktionen keine Menschenleben kosten dürfen.

In der „Feuernacht“ von 1961 gesprengter Mast

Besonders stolz bin ich auf die Sprengung des Mussolini-Denkmals beim E-Werk in Waidbruck im Jahr 1961 – einige Monate vor der Feuernacht. Heinrich Klier und Kurt Welser aus Nordtirol, Martl Koch aus Bozen und ich waren an der Sprengung beteiligt. Mit dieser Aktion haben wir viel Aufsehen erregt. Trotz der Folterungen bei den Verhören in den Carabinieri-Kasernen in Meran, Lana, Eppan und Bozen habe ich nie eine Sprengung zugegeben. Irgendwie wurde dann aber bei Verhören bekannt, dass ich bei Sprengungen mit dabei war.“

Am 30. Jänner 1961 flog unter Mithilfe Sepp Innerhofers in Waidbruck der reitende „Duce“ Mussolini von seinem Sockel. Dieses verherrlichende Denkmal hatte während der Faschistenzeit die Widmung getragen: „Dem GENIUS des FSCHISMUS“.

Verhaftung und Folterung – Der SVP-Obmann  und Landeshauptmann Magnago war informiert und schwieg

Am 17. Juli 1961 wurde Sepp Innerhofer von den Carabinieri abgeholt. Was ihm dann in den Carabinieri-Kasernen wiederfuhr, schilderte er in einem Brief, welchen er nach überstandener Folter und anschließender Einlieferung in das  Gefängnis an Dr. Silvius Magnago schrieb:

„Sehr geehrter Herr Dr. Magnago!

 Entschuldigen Sie nochmals, daß ich Ihnen durch mein Schreiben noch mehr Arbeit bereite, aber da ich gehört habe, daß die Öffentlichkeit über die Art und Weise der Mißhandlungen nicht im Bilde ist, möchte ich durch eine, nur die wichtigsten Angaben umfassende Schilderung, Ihnen diesen Brief schreiben.

Nach meiner Verhaftung am 17. Juli (Montag. nachts) mußte ich den ganzen Dienstag und Mittwoch ununterbrochen aufrecht stehen, ohne Essen und Trinken. Bin immer wieder inzwischen vorgeführt worden, um verhört zu werden. Gleich am Dienstag schon bekam ich die ersten Schläge ins Gesicht und in den Rippen.

Da ich von der ganzen Sache überhaupt nichts wußte, habe ich jedes Mal auf ihre Fragen verneinen müssen. 2 Stunden wurde ich dann unter eine starke Glühlampe gestellt. Beim nächsten Verhör hatte mir dann ein bestimmter Herr Pozzer (in Zivil) mit der Faust so stark ins Gesicht geschlagen, daß mir die Lippe aufsprang und ein Oberzahn losgeschlagen wurde. Dann mußte ich wieder im Gang stehen, und die Wache wurde beauftragt, mir bei  unaufrechtem Stehen, die Fußspitzen zu treten, was auch etliche Male geschehen ist, da ich fast nicht mehr imstande war aufrecht zu stehen. Nach meiner Verneinung am Mittwoch vor dem Staatsanwalt wurde ich 24 Stunden in den Keller, auch wieder ohne Essen und Trinken, gesperrt. Am Donnerstag nachts wurde ich dann zu einer „Sonderbehandlung“ nach Eppan gebracht. Wurde nach einem weiteren Verhör in eine Kammer gebracht, wo ich mich vollständig nackt ausziehen mußte. Wurde dann mit Hosen und Gewehrriemen furchtbarüber dem ganzen Körper über geschlagen. Als ich um Wasser bat, wollte man mir etwas Anderes (Gelbes Wasser) einschütten. Da ich den Mund nicht auftat, wurden mir bei den Geschlechtsteilen die Haare ausgezupft!! um mich dadurch zum Schreien zu bringen. Da alle meine Kraft zu Ende war, hab ich um ein Verhör gebeten, und habe mich dann durch eine ausgedachte Lüge, vor weiteren Mißhandlungen geschützt. (In d) Am Freitag früh kam ich dann wieder nach Meran und glaubte, daß ich endlich Ruhe finden würde. Jedoch ging es gleich mit Verhören und weiteren Schlägen wieder weiter. Am Freitag Mittag bekam ich das erste Mal nach 4 Tagen einen Klumpen kalte Pasta, und Wasser. Nachmittag kamen dann furchtbare Stunden. Wurde wiederum beim Verhör mit harten Faustschlägen  auf den Hinterkopf behandelt. Zweimal fiel ich vom Stuhl zu Boden. Nach einem weiteren starken Schlag weiß ich nichts mehr. Bin am Samstagfrüh noch ganz benommen aufgewacht, und mir wurde dann ein langes Protokoll vorgelegt, das ich ohne zu lesen unterschrieben habe. Weiß heute noch nicht was darin steht, da ich der ital. Sprache nicht mächtig bin, und ebenso noch nicht vor dem Untersuchungsrichter war. Habe heute noch, nach 2 Monaten Haft, mit dem Kopf zu leiden. Wurde hier in Bozen behandelt, sowie 14 Tage nach Trient  ins Krankenhaus gebracht,  jedoch mein Kopfweh blieb, und kann fast gar nicht schlafen.

Mit diesen meinen furchtbarsten Erlebnis, nach Krieg und Militär, möchte ich diesen Bericht abschließen mit besten Grüßen an Ihnen für Ihr Verständnis dankend ergebenst Sepp Innerhofer, Meran, Schloß Goyen – derzeit Dantestr. 28a Bozen.“

Sepp Innerhofer hatte den Brief an Magnago geschrieben, da, wie er sagte, die Öffentlichkeit über die Misshandlungen nicht informiert sei. Noch deutlicher konnte man den Wunsch nach Öffentlichmachung des Folterskandals wohl nicht ausdrücken. Magnago aber reagierte nicht – wohl aus politischen Rücksichtnahmen und Gründen der Verhandlungstaktik. Er unterschlug der Öffentlichkeit alle an ihn und die SVP gerichteten erschütternden Briefe inhaftierter politischer Gefangener mit Berichten über die erlittenen Folterungen.

Mit diesem Verhalten ermöglichte er aber die weitere Fortsetzung dieser unmenschlichen Methoden. Innerhofers Bericht verschwand so wie viele andere in der Versenkung. Erst Jahrzehnte später gelang es Roland Lang vom „Südtiroler Heimatbund“ (SHB), der Vereinigung ehemaliger politischer Häftlinge, diesen Brief zusammen mit zahlreichen anderen von Magnago geheim gehaltenen Folterberichten in den SVP-Akten im Südtiroler Landesarchiv aufzufinden. Diese unter Verschluss gehaltenen erschütternden Berichte wurden dann im Jahre 2009 in dem Buch des Historikers Dr. Helmut Golowitsch „Für die Heimat kein Opfer zu schwer“ veröffentlicht.

Dr. Silvius Magnago (Bild links) verheimlichte der Öffentlichkeit die ihm vorliegenden Folterberichte. Der SHB-Obmann Roland Lang entdeckte sie Jahrzehnte später in archivierten SVP-Akten und machte sie der Öffentlichkeit zugänglich.

Das Innerhofer durch Folter aufgezwungene vorgefertigte „Geständnis“ sollte ihm im Mailänder Südtirol-Prozess 3 Jahre und 3 Monate Kerker und den Verlust der Bürgerrechte für einen Zeitraum von 35 Jahren einbringen.

Links im Bild Sepp Innerhofer und rechts sein Leidensgefährte Alfons Obermair bei ihrer Vorführung vor dem Mailänder Schwurgericht. Obermair trägt eine Augenklappe. Er hatte ein Auge im Krieg verloren. Auf dem zweiten Auge war er durch die starke Bestrahlung mit Quarzlampen bei seinem Verhör auch beinahe blind geworden.

Aufklärungsarbeit an Schulen und in Abendvorträgen

Seit dem Jahr 2000 widmete sich Sepp Innerhofer einer zeitgeschichtlichen Aufklärungsarbeit, welche von der Landespolitik vernachlässigt wurde. Er hielt jährlich an die 30 Vorträge in Schulen und auf Abendveranstaltungen über die jüngere Südtiroler Landesgeschichte von der Faschistenzeit bis heute. Er berichtete auch über den Freiheitskampf der 1960er Jahre, die Folterungen und die Prozesse. Er bekannte sich zu dem grundlegenden Menschenrecht auf Selbstbestimmung.

Der letzte Abschied

Am 20. Mai 2019 nahmen die Angehörigen und zahlreiche Freunde an der Verabschiedung in der Martinskapelle in Schenna und an der anschließenden Beisetzung auf dem Ortsfriedhof teil.

Die mit Innerhofer befreundete ehemalige SVP-Landesrätin Martha Stocker hielt eine bewegende und politisch mutige Abschiedsrede. Sie nannte den Bauern und Freiheitskämpfer Sepp Innerhofer wegen seines mutigen Eintretens für die Menschenrechte „einen großen Europäer“.

Eine Abordnung des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB) legte einen Kranz an seinem Grab zusammen mit Säckchen nieder, welche Erde aus Nord-, Süd- und Welschtirol enthielten.

Die SHB-Abordnung (von links nach rechts): Roland Lang (SHB-Obmann), Sepp Mitterhofer (ehemaliger schwer gefolterter politischer Häftling) und Meinrad Berger (SHB-Obmann-Stellvertreter und ehemaliger politischer Häftling).

Neben dem Kranz liegen 3 Säckchen mit Erde aus allen Landesteilen Tirols.




Ein Dokumentarwerk enthüllt Hintergründe in der Südtirol-Politik

Dieser Tage ist ein neues, spannend zu lesendes Dokumentarwerk erschienen. Es wurde am 13. April 2019 durch den Autor Dr. Helmut Golowitsch  auf einer Buchpräsentation in Innsbruck vorgestellt.

Neuerscheinung
Helmut Golowitsch: „SÜDTIROL – OPFER GEHEIMER PARTEIPOLITIK“
Schriftenreihe zur Südtiroler Zeitgeschichte – Band 2
Leopold Stocker Verlag Graz – Stuttgart
ISBN 978-3-7020-1772-9
Das Werk ist im Buchhandel erhältlich. HIER zur Buchbestellung beim Stocker Verlag.

Über den Autor:

Bereits 2017 hatte der Verfasser Dr. Helmut Golowitsch seine Dokumentation „Südtirol – Opfer für das westliche Bündnis“ vorgestellt. Darin hatte er anhand von Geheimdokumenten die Geschichte des „Ausverkaufs“ Südtirols an Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch führende österreichische Bundespolitiker erforscht.

In der nun vorliegenden Fortsetzung „Südtirol – Opfer geheimer Parteipolitik“ widmet sich der Verfasser der Fortsetzung dieser Politik in den 1960er Jahren. Diese vollzog sich unter Umgehung der Tiroler Landespolitiker sowie der staatlichen Institutionen auf der Ebene geheimer Absprachen zwischen bestimmten ÖVP-Bundespolitikern und Politikern der „Democrazia Cristiana“ (DC). Rom blockierte damals den Beitritt Österreichs in den gemeinsamen europäischen Markt. Unter diesem erpresserischen Druck des EWG-Vetos fand sich Bundeskanzler Dr. Josef Klaus auch zu geheimer Zusammenarbeit mit italienischen Sicherheitsdiensten und zu gesetzlich nicht gedeckten Maßnahmen gegen exilierte Südtiroler und eigene österreichische Staatsbürger bereit.

All dies wurde auf der Buchpräsentation in Innsbruck vorgestellt.

Bedeutende Zeitzeugen und Fachleute waren der der Einladung des Andreas Hofer Bundes Tirol gefolgt und hatten an der anschließenden Podiumsdiskussion teilgenommen.

Von links nach rechts: Oberst Mag. Dr. Hubert Speckner, Historiker – Dr. Bruno Hosp, Zeitzeuge, ehem. Landeskommandant des „Südtiroler Schützenbundes“, Bürgermeister von Ritten, SVP-Landessekretär, Landesrat und Vizepräsident der „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ – Dr. Helmut Golowitsch, Zeitzeuge und Autor – Mag. Alois Wechselberger, Geschäftsführender Obmann des einladenden „Andreas Hofer Bundes“ (AHB) – Dr. Franz Pahl, Zeitzeuge, ehem. SVP-Landesjugendsekretär, Landtags- und Regionalratsabgeordneter, Präsident des Regionalrats – Dr. Eva Klotz, Zeitzeugin, Tochter des legendären Freiheitskämpfers Georg Klotz, ehem. Gemeinderätin in Bozen, Landtagsabgeordnete – Roland Lang, Obmann des „Südtiroler Heimatbundes“ (SHB)

Im Publikum sah man noch Sven Knoll, den Landtagsabgeordneter der Süd-Tiroler Freiheit und deren Pressesprecher Cristian Kollmann, den Experte für die Umsetzung der doppelten Staatsbürgerschaft für Südtiroler, DDr. Franz Watschinger, den Landeskommandanten des Südtiroler Schützenbundes Elmar Thaler und Univ. Prof. Dr. Erhard Hartung als früher betroffenen Zeitzeugen.

Der Autor Dr. Helmut Golowitsch sprach dem Historiker Oberst Mag. Dr. Hubert Speckner seinen großen Dank für dessen bahnbrechende Forschungsarbeit und die kollegiale Unterstützung durch Übermittlung wertvoller Dokumente und Akten aus.

In der Podiumsdiskussion erklärte Dr. Bruno Hosp, dass dieses Werk in Einblick in große Ungerechtigkeiten gebe, welche die Menschen damals ertragen mussten. Ihnen widerfahre nun Gerechtigkeit und die Geschichte werde endlich wahrheitsgetreu dargestellt.

Dr. Eva Klotz dankte dem Autor und dem Historiker Dr. Hubert Speckner für ihren Einsatz, mit welchem sie der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Wahrheit einen großen Dienst erwiesen hätten.

Dr. Franz Pahl erklärte: „Der Historiker Helmut Golowitsch stellt die Wahrheitsfrage, er schürft in der Tiefe, räumt täuschende Kulissen ab, zerpflückt geschönte Mythen und liefert beweiskräftiges Originalmaterial schwarz auf weiß. Wer sich der Wahrheit stellt, hat niemals etwas zu verlieren, sondern nur zu gewinnen, vor allem aber Selbstachtung und die Achtung aller Zeitgenossen.”

Dokumentation zum Inhalt

Der angebliche „Terroranschlag“ auf der Porze-Scharte

Als es am 25. Juni 1967 auf der Porzescharte im Grenzgebiet zu Österreich zu einem angeblichen „Terroranschlag“ kam, welcher auf der italienischen Seite Menschenleben zum Opfer fielen, blockierte Italien den von Österreich angestrebten EWG-Beitritt. Rom forderte von der Regierung in Wien ultimativ, dass in der Südtirol-Frage den Vorstellungen der italienischen Regierung folge.

 Italien beschuldigte fälschlicher weise österreichische Staatsbürger, auf der Porze-Scharte im österreichisch-italienischen Grenzgebiet Minenfallen gelegt und dadurch 4 italienische Soldaten getötet zu haben.

Der Historiker und Mitglied der Österreichischen Landesverteidigungsakademie, Oberst Mag. Dr. Hubert Speckner hat dazu wesentliche Akten im österreichischen Staatsarchiv entdeckt, die der Forschung bislang noch nicht bekannt waren. Er hat sie dem Autor Dr. Golowitsch zugänglich gemacht, vor allem aber auch selbst wissenschaftlich ausgewertet.

Die von Dr. Speckner entdeckten Akten sind ein wesentliches Fundament der neuen Dokumentation.

Dr. Speckner hat selbst in einem Aufsehen erregenden Werk dargelegt, dass die italienischen Darstellungen dem angeblichen „Attentat“ nicht stimmten und sich die Dinge nicht wie behauptet abgespielt haben konnten.

In der nun vorliegenden Dokumentation von Dr. Helmut Golowitsch werden zwei neue Sprengsachverständigen-Gutachten wiedergegeben, welche die Untersuchungsergebnisse von Dr. Speckner aufgrund der physikalischen Gegebenheiten voll bestätigen.

Österreichische Zeugen: Keine Tatspuren am „Tatort“

Einen Tag am 26. Juni später hatte sich der Lienzer Bezirkshauptmann Dr. Othmar Doblander zusammen mit dem Bezirksgendarmerie-Kommandanten Scherer mit einem Hubschrauber zu dem unmittelbar an der österreichischen Grenze gelegenen angeblichen „Tatort“ hinauffliegen lassen.

Er konnte überhaupt keine „Tatspuren“ feststellen. Es waren auch keine Italiener in dem gesamten Gebiet zu sehen. Nach einer solchen „Tat“ hätten zahlreiche mit der Spurensicherung befasste Polizeibeamte auf der Porzescharte sein müssen. Nichts! Keine Spuren, keine Tatortkommission!

Am 26. Juni besichtigten ein oder mehrere Berichterstatter der „Tiroler Tageszeitung“ den angeblichen „Tatort“ auf der Porzescharte. Das Ergebnis dieser Ortsbegehung bestätigte die Beobachtungen des Bezirkshauptmannes Doblander, die damals freilich nicht öffentlich bekannt waren. Die TT“ berichtete am 27. Juni 1967: Der angebliche „Tatort war völlig unberührt und es gab keinerlei „Tatort“-Spuren.

Es gibt noch weitere Zeugenaussagen von Mitarbeitern der österreichischen Verbundgesellschaft, die ebenfalls bestätigen, dass es zunächst auf der Porzescharte keinen „Tatort“ gab.

Waren die Toten Opfer einer Verminungs-Übung?

Damalige Berichte der einheimischen Bevölkerung lauteten dahingehend, dass die italienischen Toten Unfallopfer einer Verminungsübung auf dem nahe gelegenen italienischen Militärgelände im Gebiet des Kreuzbergpasses gewesen waren.

Dieses italienische Militärgelände war das Übungsgebiet italienischer Spezialeinheiten. So übte dort eine Spezialeinheit „Sabotatori-Paracadutisti“ („Fallschirmjäger – Saboteure“), zu deren Aufgaben das Legen von Minenfallen gehörte.

Nachstehen damalige Schlagzeilen der „Tiroler Tageszeitung“:

Demnach hätten die Italiener die Körper der Verunfallten dazu benutzt, um nachträglich einen „Tatort“ zu arrangieren, Österreicher zu beschuldigen und die Republik Österreich politisch unter Druck zu setzen. Dokumente und Augenzeugenberichte stützten diese These. Um dafür endgültige und detaillierte Beweise zu erhalten, wäre aber ein Zugang in die italienischen Geheimdienstarchive nötig. Dieser wird wohl nie gewährt werden.

Ein Österreicher darf „Bekennerschreiben“ finden

Als der „Tatort“ fertig war, ließ man den österreichischen Polizeioberstleutnant namens Alois Massak zu einer „Untersuchung“ zu. Er durfte eine kleines Holzgehäuse mit einer Zündvorrichtung finden, welches seltsamer Weise die Minenexplosion so unbeschadet überlebt hatte, dass auf dem Holzdeckel ein Bekennerschreiben des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) deutlich lesbar war. Ein Foto dieses „Beweisstückes“ durfte Massak seiner Regierung übermitteln.

Die eine Version des „Beweisstücks“

Wenige Zeit später übergaben die italienischen Behörden ebenfalls ein Foto dieser Selbstbezichtigung der „assassini neonazisti“ – der „neonazistischen Mörder“ der italienischen Presse. Seltsamer Weise hieß es in der Aufschrift auf diesem „Beweisstück“ plötzlich „MUESST“ statt „MUßT“, wie noch in der Aufschrift des an den Österreicher Massak übergebenen Foto des „Beweisstücks“ geheißen hatte. Bei allem Einfallsreichtum arbeiten italienische Geheimdienste offenbar nicht immer sorgsam genug. Hier hatte man wohl zwei ursprünglich angefertigte Vorlagen miteinander verwechselt.

Die zweite und etwas abweichende Version des „Beweisstücks“

Das EWG-Veto

Rom hatte bereits seit 1963 Wien unter starken politischen Druck gesetzt, indem Österreichs beabsichtigter EWG-Beitritt inoffiziell hinter den politischen Kulissen hintertrieben wurde.

Zahlreiche österreichische Zeitungen hatten erkannt, worum es Rom ging. Die österreichische Bundesregierung ging trotzdem in die Knie.

Rom nahm das „Attentat“ auf der Porze-Scharte zum Anlass, am 29. Juni 1967 öffentlich den Beitritt Österreichs in den gemeinsamen europäischen Markt mit einem offiziellen Veto zu blockieren, da Österreich nichts gegen den Südtiroler „Terrorismus“ unternehme.

Rom stellte nun weitgehende Forderungen.

Wien anerkennt italienische Attentats-Version

Die ÖVP stand ab nun unter dem ständigen Druck Roms, ihrer europäischen christdemokratischen Alliierten, aber auch ihres eigenen mächtigen Wirtschaftsbundes. Die ÖVP-Alleinregierung unter Dr. Klaus schwenkte in allen Südtirol-Fragen zunehmend auf die italienischen Vorstellungen ein.

Wien anerkannte nun auch offiziell die italienische Version des angeblichen Geschehens auf der Porze-Scharte.

Die geheime Zusammenarbeit mit den italienischen Sicherheitsdiensten

Unter dem erpresserischen Druck des EWG-Vetos fand sich Bundeskanzler Dr. Josef Klaus unter Umgehung der Rechtshilfe-Vorschriften zu geheimer Zusammenarbeit mit italienischen Sicherheitsdiensten und zu gesetzlich nicht gedeckten Maßnahmen gegen exilierte Südtiroler und eigene österreichische Staatsbürger bereit.

Bundeskanzler Dr. Josef Klaus stand bereits seit Jahren in engem persönlichem Kontakt mit führenden Politikern der „Democrazia Cristiana“ (DC), vertrat die enge politische Anbindung an die Interessen der Westmächte und war nur allzu bereit, Rom gegenüber willfährig zu sein.

In einer Ministerratssitzung erklärte Klaus am 4. Juli 1967 nun, dass alle Südtiroler Freiheitskämpfer – in seiner Diktion „Terroristen“ – hinter „Schloss und Riegel“ gehörten.

In seinem Bestreben, Italien zur Aufhebung seines Vetos gegen Österreichs Eintritt in die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) zu bewegen, nahm es die ÖVP-Alleinregierung Dr. Klaus in Angriff, alle noch in Freiheit befindlichen Südtirol-Aktivisten in geheimer Zusammenarbeit mit den italienischen Sicherheitsdiensten auszuschalten.

Der österreichische Bundeskanzler Dr. Josef Klaus (ÖVP) und sein Innenminister Dr. Franz Hetzenauer (links) verhielten sich  Rom gegenüber mehr als willfährig.

*Es wurde das Bundesheer mobilisiert und eingesetzt, um Südtirol-„Terroristen“ bei einem allfälligen Überschreiten der Grenze abzufangen.

*Achtzehnjährige Grundwehrdiener erhielten einen mehr als problematischen Schießbefehl gegen Menschen.

Junge unerfahrene Buben sollten diesem unsäglichen Befehl zufolge auch in der Dämmerung und über größere Distanzen sofort erkennen, wer ein „Sprengstoffverbrecher“ sei und dann „nur auf Beine“ zielen. Gott sei Dank kam es in der Folge jedoch zu keinem derartigen Zwischenfall.

Zwangsaufenthalt für geflüchtete Südtiroler

*Nach Österreich geflüchteten Südtirolern wurden Zwangsaufenthalten angewiesen oder sie wurden unter allerlei Vorwänden in Polizeigewahrsam genommen.

Es gab Protestplakate und Protestkundgebungen gegen die Vorgangsweisen der österreichischen Bundesregierung.

*Da aufgrund der österreichischen Rechtslage eine Rechtshilfe an die italienische Justiz in politischen Fällen nicht zulässig war, wurde dieses Verbot umgangen, indem auf geheimen Treffen italienischer und österreichischer Sicherheitsbeamter in der Schweiz den Italienern das gewünschte Material zur Verfolgung Südtiroler Freiheitskämpfer ausgehändigt wurde.

Es wurden den Italienern Namen, Verhörergebnisse und auch Polizeifotos von Exil-Südtirolern heimlich zur Verfügung gestellt.

Prozess gegen Österreicher – Beweismittelunterdrückung durch das Innenministerium – falsche Zeugenaussage

*Gegen die von Italien in der Causa Porze-Scharte beschuldigten Österreicher Peter Kienesberger, Dr. Erhard Hartung und Egon Kufner wurde ein Prozess angesetzt. Der ÖVP-Innenminister Dr. Hetzenauer enthielt dem Gericht wesentliche in den österreichischen Akten aufliegende entlastende Beweise vor und es kam sogar zu einer Falschaussage eines hohen Polizeibeamten. Den anschließenden Schuldspruch hob allerdings der Oberste Gerichtshof wieder auf und in der folgenden Verhandlung kam es 1971 dann zu einem klaren Freispruch. Eindeutige Beweise hatten ergeben, dass die von Italien Beschuldigten keine Täter waren.

Von links nach rechts: Die zu Unrecht Beschuldigten Egon Kufner, Dr. Erhard Hartung und Peter Kienesberger in Erwartung des Urteils.

Schlagzeile in der Tageszeitung „Kurier“ vom 19. Mai 1971

*In Italien kam es ebenfalls zu einem Prozess gegen die drei Österreicher – in Abwesenheit und geführt nach der alten faschistischen Strafprozessordnung. Hier kam es selbstverständlicher Weise zu einer Verurteilung.

Wien duldet Folterungen eigener Staatsbürger

*Angesichts der überaus kooperativen Haltung der Regierung Klaus ließ man in Italien auch gegenüber verhafteten Österreichern alle Hemmungen fallen. Die österreichischen Staatsbürger Hans Jürg Humer und Karl Schafferer wurden schwer gefoltert. Dem österreichischen „Bergisel-Bund“ war ein detaillierter Bericht der Mutter eines der Gefolterten zugekommen. Ihr Sohn hatte ihr bei einem Besuch im Gefängnis flüsternd mitgeteilt, wie schwer er zwecks Erpressung eines Geständnisses gefoltert worden war. Dieser Bericht wurde Bundeskanzler Dr. Josef Klaus und seinem Außenminister Dr. Waldheim übermittelt und verschwand dort auf Nimmerwiedersehen, ohne dass Wien einen Finger für die gefolterten eigenen Staatsbürger rührte. Die Berichte müssen damals vernichtet worden ein, denn sie sind auch heute im Staatsarchiv nicht mehr auffindbar.

Der Autor Helmut Golowitsch – damals Mitarbeiter im Bergisel-Bund – hatte jedoch Kopien verfertigt gehabt, die jetzt in der vorliegenden Dokumentation wiedergegeben sind.

Widerstand von ÖVP-Landespolitikern und des Justizministers

Das geheimdienstliche und sicherheitspolizeiliche Zusammenspiel mit Rom hatte man damals nicht nur vor der österreichischen Bevölkerung, sondern vor allem auch vor den Nordtiroler Landespolitikern geheim gehalten.

Widerstand dagegen leistete der auf Rechtsstaatlichkeit bedachte parteifreie Justizminister Univ.-Prof. Dr. Hans Klecatsky. Er lehnte die Schaffung von Sondergesetzen ab.

Nordtiroler Politiker wie der Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP) und ehemalige altösterreichische Offiziere wie der oberösterreichische Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner (ÖVP) opponierten ebenfalls gegen die Wiener Linie, ließen Demonstrationen von Südtirol-Freunden zu und unterstützten finanziell die Familien inhaftierter Südtiroler Freiheitskämpfer.

Die vorliegende Dokumentation behandelt die Geschehnisse bis zu dem Jahr 1968. Ein noch in Ausarbeitung befindlicher weiterer Band soll im Herbst erscheinen und Verfolgungen von Südtirolern in Österreich und die politische „Erledigung“ der Südtirol-Frage durch die Autonomie-Lösung und Streitbeilegungserklärung behandeln. Hierbei hat Österreich im Interesse Roms auf eine international-rechtliche Absicherung des Autonomie-„Pakets“ verzichtet, um so die Aufhebung des EWG-Vetos zu erreichen.

Tatsächlich sollte Italien sein Veto gegen einen österreichischen EWG-Beitritt auch erst am 8. Dezember 1969 zurückziehen, nachdem am 22. November 1969 die Landesversammlung der „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) das unter Mithilfe Österreichs ausgehandelte, international nicht abgesicherte „Autonomie-Paket“ angenommen hatte.