100 Jahre Unrecht – Planung der Entnationalisierung Südtirols
Dieser Tage erinnerten der „Südtiroler Schützenbund“ und der „Südtiroler Heimatbund“ mit Aufsehen erregenden Protest-Plakataktionen an ein besonderes Jubiläum in Südtirol: Vor 100 Jahren wurde das faschistische Entnationalisierungsprogramm für Südtirol beschlossen, der Name „Tirol“ wurde verboten und die Einführung erfundener italienischen Orts- und Flurnamen begann. Diese sind bis heute die amtlich gültigen Orts- und Flurnamen in Südtirol.
Rückblick in die Geschichte:
Die Entnationalisierungs-Planung hatte bereits vor der Machtergreifung des Faschismus begonnen
Der italienische Journalist Ettore Tolomei war ab 1890 Herausgeber der italienischen Zeitschrift „La Nazione Italiana“. Er forderte die Einverleibung Südtirols in das Königreich Italien und begann 1901 mit der „Übersetzung“ deutscher und ladinischer Ortsnamen in das Italienische, um so die „Italianität“ Südtirols zu untermauern.
1906 gründete er die Zeitschrift „Archivio per l’Alto Adige“, in der er die Wasserscheide am Brenner als Grenze zwischen Italien und Österreich einforderte.
Nach dem Kriegseintritt Italiens wurde er 1916 von dem italienischen Generalstab offiziell mit der Erstellung eines italienischen Ortsnamensregisters für Südtirol („Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“) betraut. In Rekordzeit wurden tausende Südtiroler Orts- und Flurbezeichnungen italianisiert. Tolomei hängte vielfach an deutsche Namen einfach ein „a“ oder „o“ an. Zum Großteil erfand er aber einfach italienisch klingende Namen. Er und die faschistische Staatsführung hatten später die Stirn, dies als „wissenschaftliche Leistung“ zu bezeichnen.
Fortführung und Ausfeilung des Programms unter dem Faschismus
Nach der Machtergreifung des Faschismus hielt der mittlerweile von dem „Duce“ Benito Mussolini zum Senator ernannte Ettore Tolomei am 15. Juli 1923 im Stadttheater in Bozen eine Rede und stellte sein 32 Punke umfassendes Programm zur Entnationalisierung Südtirols – „Provvedimenti per l’Alto Adige“ – vor.
Die volle Bezeichnung des am 12. März 1923 von dem „Großrat des Faschismus“ genehmigten Programmes lautete: „Provvedimenti per l‘Alto Adige, intesi ad una azione ordinata, pronta ed efficace di assimilazione italiana“. Ins Deutsche übersetzt: „Maßnahmen für das Hochetsch zum Zwecke einer geordneten, schnellen und wirksamen italienischen Assimilierung“.
In diesen „provvedimenti“ forderte Tolomei das Verbot des Namens Tirol, die Beseitigung aller deutschen Schulen, das Verbot der deutschen Parteien, die Verpflichtung zur italienischen Amtssprache und die Italianisierung aller Orts- und Flurnamen bis hin zu den Namen der Berge, Täler und Wasserläufe. Letztlich forderte er auch noch die Italianisierung aller deutschen Familiennamen.
Was Tolomei hier forderte, war bereits zum offiziellen Regierungsprogramm geworden.
Verbot des Namens „Tirol“
Nun ging es Schlag auf Schlag. Am 7. August 1923 verbot der in Trient amtierende Präfekt Guadagnini im Auftrag der Regierung alle Bezeichnungen, in denen der Name „Tirol“ enthalten war.
Die Zeitung „Der Tiroler“ musste ihren Namen umändern in „Der Landsmann“.
Das Ortsnamens-Fälscherwerk
Mussolini wurde Ende Oktober 1922 Ministerpräsident. Am 23. März 1923 trat das von ihm und dem König unterzeichnete Königliche Dekret Nr. 800 in Kraft, welches 222 Südtiroler Gemeinden und weiteren 66 Orte mit Postamt oder Bahnhof amtliche italienische Namen verpasste, die zum Großteil von dem Scharlatan Ettore Tolomei frei erfundenen worden waren.
Am 10. Juli 1940 trat das von dem faschistischen Diktator Benito Mussolini unterzeichnete Königliche Dekret Nr. 174 in Kraft.
Dieses erklärte die von Tolomei in seinem „Prontuario dei Nomi locali dell’Alto Adige“ von 1935 (3. Auflage) veröffentlichten konstruierten italienischen Orts- und Flurnamen zu den offiziellen Ortsbezeichnungen Südtirols. Ihre Zahl war durch die unermüdliche Arbeit des faschistischen Fälschers und seiner Helfer mittlerweile auf eine Zahl von fast 16.800 (basierend auf rund 8.000 Grundformen) angewachsenen.
Dieses faschistische Erbe ist uns bis heute erhalten geblieben. Die faschistischen Ortsnamendekrete sind nach wie vor in Kraft. Amtlich sind nach wie vor die faschistischen Namensfälschungen, die deutschen Bezeichnungen – die eigentlichen Ortsnamen – sind lediglich geduldet.
Das traurige Versagen der heutigen Südtiroler Landesführung
Der bekannte Südtiroler Toponomastik-Experte Cristian Kollmann schrieb in der „Tiroler Schützenzeitung“ vom Juni 2023 eine viel beachtete Abhandlung über die faschistische Entnationalisierungspolitik und Ortsnamensfälschung in Südtirol und wies auf die mehr als berechtigte Protestaktion der Südtiroler Schützen hin.
Zur aktuellen Situation führt Cristian Kollmann in seinem Artikel aus:
„Was viele immer noch nicht wissen: Die faschistischen Ortsnamendekrete sind – trotz Pariser Vertrags und Autonomiestatuts – bis heute in Kraft. Immer wieder gab es Versuche im Südtiroler Landtag, sie abzuschaffen, doch sämtliche Anläufe scheiterten jedes Mal an der fehlenden Zustimmung durch die Südtiroler Volkspartei – von den italienischen Parteien und den Grünen ganz zu schweigen. …
Wohl ist es wahr, dass die vom Großrat des Faschismus beschlossene Assimilierung im ‚Alto Adige‘ nicht so schnell vorangeschritten ist wie ursprünglich gewünscht. Aber: Gut Ding braucht Weile! 100 Jahre, nachdem sie eingeleitet wurde, ist die Assimilierung immer noch nicht vollzogen. Sie wurde aber auch nicht gestoppt. Unaufhaltsam, so scheint es, schreitet sie voran – langsam, aber sicher!
Das beste Beispiel hierfür ist der Südtiroler Landeshauptmann, oder, treffender bezeichnet, der Präsident der Provinz ‚Alto Adige‘, denn ein ‚Land Südtirol‘ gibt es offiziell gar nicht.
Dieser ‚Präsident‘ steht sinnbildlich für das mangelnde Verständnis für eine wissenschaftliche und ideologiefreie Herangehensweise, für das mangelnde Gespür für die Wichtigkeit der Authentizität und historischen Fundiertheit unserer Namenlandschaft, für das mangelnde Wissen darüber, was mit der Etikette .Alto Adige“ bis heute bezweckt werden soll. …
Für die Römer ist der Präsident des ‚Alto Adige‘ sicher ein Erfüllungsgehilfe, ein ‚bravo ragazzo‘ (Anm.: „guter Junge“), leistet er doch willfährig einer Assimilierungspolitik Vorschub, die bis heute auf der römischen Agenda steht. Ettore Tolomei, der Erfinder des ‚Alto Adige‘, hätte sicher auch seine Freude an diesem altoatesinischen Gehorcher. Tatsächlich scheint das ‚Alto Adige‘in seinem Kopf bereits einen festen Platz eingenommen und sich wohl auch in seinem Herzen tief eingenistet zu haben. Anders ist es nicht zu erklären, dass dieser ‚Präsident‘ im Jahr 2021 einen Antrag der Süd- Tiroler Freiheit ablehnte, der die offizielle Einführung von ‚Sudtirolo‘ – und sei es zumindest als Bezeichnung alternativ zu ‚Alto Adige‘ – vorsah …
Das Nein des Südtiroler Landtages zu ‚Sudtirolo‘, das mit großer Mehrheit beschlossen wurde, zeigt vor allem eines: Die Assimilierungspolitik im ‚Alto Adige‘ wird mittlerweile besonders hierzulande von den eigenen politischen Vertretern eifrig vorangetrieben. …
Doch was für eine Autonomie hat Südtirol eigentlich, wenn diesem Tiroler Landesteil bis heute nicht einmal seine eigenen Namen zugestanden werden? Wer sind die Bremser?
Sie sitzen nicht nur in Rom, sondern auch in Bozen. Die Mehrheit der Südtiroler Vertreter ist im Landtag zu ‚Altoatesinen‘ mutiert, zu einem Kleinrat von Faschismusverstehern und Faschismusversteherinnen, Mitgehorchern und Mitgehorcherinnen, angeführt von einem Ober-Gehorcher, einem ‚altoatesinissimo‘!
Hat der Großrat des Faschismus also sein 1923 gestecktes Ziel erreicht? Noch nicht ganz, aber: Gut Ding braucht Weile.“
In einem Leserbrief an die „Tiroler Schützenzeitung“ vom August 2023 legte Cristian Kollmann noch nach:
„Im Frühjahr 2023 hat sich der Südtiroler Landtag – zum wiederholten Male – gegen die Abschaffung der drei faschistischen Ortsnamensdekrete ausgesprochen. Man wolle kein Öl ins Feuer gießen, hieß es von Seite der SVP, und man arbeite lieber lösungsorientiert. … All dies zeigt nur eines: Kompatschers Herz schlägt noch mehr als das seiner Vorgänger, für Italien und dessen relativierende Politik der faschistischen Kulturverbrechen.“
Am 30. Juni 2923 erklärte Roland Seppi, der Landeskommandant des „Südtiroler Schützenbundes“ in einer Presseaussendung:
„Es ist eine Schande für die Kulturnation Italien, für ein modernes Südtirol, für die Schutzmacht Österreich und für das demokratische Europa, faschistische Ortsnamenfälschungen weiterhin anzuerkennen.
Die Verbreitung von faschistischem oder nationalsozialistischem Gedankengut nennt man in Österreich und Deutschland ‚Wiederbetätigung‘.
Diese Wiederbetätigung wird strafrechtlich verfolgt. Bei uns grüßt der Faschismus in Form der Ortsnamen fröhlich von jedem Ortsschild.
Wir erwarten uns endlich nachhaltige Lösungen in dieser Frage. Die Wiedergutmachung durch die historische Wahrheit wäre ein Zeichen demokratischer Reife.“
Man wird sehen! Wenn die „Südtiroler Volkspartei“ (SVP) ihre italophile Haltung nicht ändert, wird man es in Rom jedoch wohl kaum für nötig halten, von sich aus in diesem Sinne zu handeln.