Die Entstehung und Entwicklung des Faschismus

Ende Juni 2020 stellte die Oppositionspartei „Süd-Tiroler Freiheit“ (STF) einen Beschlussantrag, „die Entfernung der faschistischen Relikte in Südtirol zu fordern“.

Man wird sehen, wie der Landtag im Herbst darüber befinden wird, darf sich aber wohl nicht zu viel davon erhoffen.

Bilder aus der Zeitschrift „Tiroler Stimmen 02/2020“ der „Süd-Tiroler Freiheit“. Das linke Bild zeigt eine der vom Faschismus in der Nähe der Grenze zu Österreich errichteten „Totenburgen“, in welche man von allen Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkrieges zusammen getragene Gebeine von Gefallenen eingemauert hat. Die Toten halten nun für Rom Wacht an der neuen „heiligen Grenze“. Das mittlere Bild zeigt das faschistische „Siegesdenkmal in Bozen“, dessen Säulen aus Liktorenbündeln bestehen, welche das Symbol der Faschistischen Partei waren. Das rechte Bild zeigt den Alpini-Kopf des Denkmals in Bruneck zur Erinnerung an den faschistischen Eroberungskrieg in Abessinien.
Bilder aus der Zeitschrift „Tiroler Stimmen 02/2020“ der „Süd-Tiroler Freiheit“. Das linke Bild zeigt eine der vom Faschismus in der Nähe der Grenze zu Österreich errichteten „Totenburgen“, in welche man von allen Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkrieges zusammen getragene Gebeine von Gefallenen eingemauert hat. Die Toten halten nun für Rom Wacht an der neuen „heiligen Grenze“. Das mittlere Bild zeigt das faschistische „Siegesdenkmal in Bozen“, dessen Säulen aus Liktorenbündeln bestehen, welche das Symbol der Faschistischen Partei waren. Das rechte Bild zeigt den Alpini-Kopf des Denkmals in Bruneck zur Erinnerung an den faschistischen Eroberungskrieg in Abessinien.

Am Gerichtsplatz in Bozen wurde 1943 ein 95 Tonnen schweres Propaganda-Denkmal für den „Duce“ installiert, der wenig später schmählich unterging. Man sieht auf der Reliefplatte Mussolini hoch zu Roß mit seinem Faschistengruß und darunter steht sein Leitspruch: „Credere, obbedire, combattere“ („Glauben, gehorchen, kämpfen“). Dieses Relief sollte den Aufstieg des faschistischen Italiens darstellen und die Unterwerfung Abessiniens und Libyens verherrlichen. Man stelle sich vor, in Deutschland oder Österreich würde heute noch auf einem großen Stadtplatz Adolf Hitler die Bevölkerung mit steinernem Gruß beehren. Die weltweite Empörung würde die Entfernung erzwingen. „Bella Italia“ aber sieht man offenbar Vieles nach.Für den SID ist dieser Antrag der „Süd-Tiroler Freiheit“ ein Anlass, auf die Entstehungsgeschichte des Faschismus und dessen Gedankenguts zu verweisen. Der SID-Herausgeber und Historiker Georg Dattenböck hat dazu eine Zusammenfassung zur Verfügung gestellt und als Beispiel für die verlogene Propaganda des Faschismus einen teils heiteren, teils tragischen Bericht über Die wissenschaftliche Polarforschung als Mittel faschistischer Propaganda“ mitgeliefert.

Die Herrschaft des Faschismus in Südtirol wird hier jedoch nicht ausführlich behandelt, weil dies den Rahmen sprengen würde. Die Vertiefung dieses Themas ist einem zukünftigen SID vorbehalten.

Die Entwicklung des Faschismus – vom internationalen Sozialismus zum nationalen Imperialismus

Von Georg Dattenböck

Ein junger anarchistischer totalitärer Sozialist

Der junge totalitäre Sozialist Benito Amilcare Andrea Mussolini (*29.7.1883) war ein guter Redner. Er benutzte intuitiv die rhetorische Technik der Appelle an niedere Instinkte und diffuse Gefühle der Massen. Sein geistiger Ziehvater  war zunächst Karl Marx. Dieser hatte die Arbeiterklasse im Sinne seines „historischen Materialismus“ wissenschaftlich schulen wollen. Doch die sich Mitte des 19 Jahrhunderts als politische Parteien formierenden Arbeiterbewegungen und deren Führer benutzten meist die hemmungslose Agitation gegen die erklärten Klassenfeinde.

1902 emigrierte Mussolini in die Schweiz, wo er als Sekretär einer italienischen Maurergewerkschaft für die sozialistische Bewegung arbeitete. In dem linken Migrantenmilieu gedieh ein radikaler Anarchismus, der offenbar über ein verzweigtes und mächtiges Netzwerk verfügte.

Der Verfasser ist der Ansicht, daß der italienische Anarchist Luigi Lucheni, der 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth (Sisi) in Genf ermordete und ein Anhänger des führenden Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin war (der für Karl Marx dessen „Manifest der Kommunistischen Partei“ erstmals ins Russische übersetzte hatte), von den gleichen anarchistischen Kräften in der Schweiz instrumentalisiert wurde, bei denen auch Benito Mussolini verkehrte. Es wurde z.B. nie geklärt, wie Lucheni vorzeitig die geheim gehaltene Ankunft der Kaiserin in Genf hatte erfahren können. Hier muss es entsprechende geheime und mächtige Verbindungen gegeben haben. Lucheni hatte nach dem Mord den triumphierenden Ausruf getätigt: „Es lebe die Anarchie! Es leben die Anarchisten!“

Schweizer Polizeifoto von Benito Mussolini.

Die Schweizer Polizei stufte Mussolini auf Grund seiner Kontakte als Anarchisten ein. Er wurde mehrfach eingesperrt und im April 1904 wegen Passfälschung aus der Schweiz ausgewiesen und nach Italien abgeschoben. Dort ließ man ihn wieder laufen, obwohl er 1903 wegen Desertion verurteilt worden war.

Das geistige und politische Umfeld des jungen Mussolini – Sozialismus, Anarchismus, Nationalismus

Um Benito Mussolinis ideologische Gedankenwelt, seine ursprünglich starke Vorliebe für den Kommunismus und Anarchismus, sowie seine Kirchenfeindschaft zu verstehen, muss man auf seinen Vater Alessandro und dessen starken Einfluss auf den Sohn zurückblicken. (Eine gute zusammenfassende Darstellung findet sich in: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Alessandro_Mussolini)

Alessandro Mussolini war ein politischer Aktivist mit großer Sympathie für kommunistisch-anarchistische und antihabsburgische Revolutionäre. 1874 beteiligte sich Alessandro an politischen Unruhen in Predappio, er zeigte Neigung zur Gewalt und Zerstörung. 1878 wurde er wegen des Verdachts der Teilnahme an revolutionären Aktivitäten verhaftet. Er war, im Gegensatz zur Gattin, Atheist und hasste die katholische Kirche. Den Namen „Benito Amilcare Andrea“ wählte er für seinen Sohn deswegen, weil er drei Männer bewunderte:

Benito Pablo Juárez García, indianischer Herkunft, war Anwalt, Richter, Staatsanwalt und Präsident Mexikos gewesen. 1859 hatte er ein „Gesetz zur Verstaatlichung des kirchlichen Reichtums“ erlassen. Er hatte gegen europäische Invasoren seines Landes gekämpft und den Bruder von Kaiser Franz Josef, Maximilian v. Habsburg, als dieser Kaiser von Mexiko werden wollte, von einem Gericht 1867 aburteilen und erschießen lassen.

Amilcare Cipriani hatte bereits mit 15 Jahren an der Seite von Giuseppe Garibaldi mit den Truppen Piemonts gegen Österreich gekämpft. 1870 hatte er sich erneut Garibaldi bei der Eroberung Roms angeschlossen. Er war 1867 Mitglied der „Ersten Internationale“ und 1871 Mitglied der „Pariser Kommune“ geworden. Er war deswegen in eine Strafkolonie in Neukaledonien verbannt worden, war 1880 zurückgekehrt, in Italien verhaftet und zu sieben Jahren wegen Verschwörung verurteilt worden. 1893 war er Teilnehmer der „Zweiten Internationale“ in Zürich. Er war solidarisch mit der Revolutionärin und späteren Gründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, Róża Luksemburg, die für den „Spartakus-Bund” dessen Programm verfaßte. 1891 war Cipriani ein Delegierter bei der Gründung einer sozialistisch-revolutionär-anarchistischen Partei und sympathisierte mit dem Russen Peter Kropotkin, der für einen Anarchokommunismus eintrat. „Le Plébéien“  und andere anarchistische Zeitschriften waren das Forum des Cipriani.

Andrea Costa hatte Literatur studiert und unter dem Einfluss des erwähnten Anarchistenführers Michail Bakunin das Studium abgebrochen. Er betätigte sich als Agitator für dessen Theorien und arbeitete organisatorisch für Bakunin in der „Ersten Internationale“. 1883 wurde er in die Freimaurerloge „Rienzi“ aufgenommen, stieg zum 32. Grad auf und war Großmeister der Loge „Grande Oriente d’Italia“. 1892 war er Mitbegründer des „Partito dei Lavoratori Italiani“. Costa wurde Bürgermeister von Imola und Abgeordneter im Parlament.

1912 berief man den jungen Demagogen Benito Mussolini in den Exekutivausschuss des „Partito Socialista Italiano“ (PSI). Er wurde Chefredakteur des Zentralorgans „Avanti“ in Mailand. 1914 wurde er wegen offener nationalistischer Positionen entlassen und aus der PSI ausgeschlossen. 1915 unterschrieb Mussolini zunächst ein Anti-Kriegsmanifest und sprach sich für die Neutralität Italiens aus, spielte jedoch ebenso mit der von einer Minderheit entfachten Kriegsbegeisterung und mit antideutschen Gefühlen: so bezeichnete er das mit Italien im „Dreibund“ verbündete Deutschland als „einen Banditen, der seit 1870 auf der Straße der europäischen Zivilisation herumschleicht

Der junge Sozialist Benito Mussolini, hier auf einem Bild aus dem Jahre 1908, aufgenommen in Triest

Mussolinis Deutschenhass ging auch auf seine Tätigkeit im österreichischen Trient ab Jänner 1909 als Sekretär der sozialistischen Partei zurück, wo er den führenden Irredentisten Cesare Battisti kennenlernte, der italienischer Abgeordneter im Wiener Reichsrat war und dort Propagandareden gegen die Monarchie hielt.

Aus Anlass der 100-Jahr Feier des Tiroler Aufstandes von 1809 weilte Kaiser Franz Josef am 29.8.1909 in Innsbruck. Als Landsturmmänner bekleidete Tiroler zogen an der Ehrentribüne vorbei. Anschließend an diesen Festzug besuchte der Kaiser Süd- und Welschtirol. Benito Mussolini wurde als bekannter Agitator vorbeugend verhaftet und nach Italien abgeschoben.

Mussolinis Verhältnis zur Kirche

Historisch beachtenswert ist Mussolinis gestörtes Verhältnis zur katholischen Kirche. Als Internatsschüler der Salesianer in Faenza war er wegen vieler Schlägereien mit Mitschülern und zuletzt wegen eines bei einem Streit gezogenen Messers bereits nach zwei Jahren aus der Schule gewiesen worden. 1901 hatte er eine Ausbildung zum Volksschullehrer beendet und eine Stelle in einer kleinen Gemeinde in der Po-Ebene angenommen. Er wurde jedoch bald entlassen, weil er nachts betrunken durch den Ort zog und ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau begann. 1902 zog er daher in die Schweiz, wo er, wie bereits erwähnt, Anschluss an radikale extrem linke Kreise fand.

Die Wende zum extremen Nationalismus

Mussolini verstand die Thesen von Karl Marx als eine Anleitung zum „revolutionären Aktivismus und Syndikalismus“ und entnahm viele seiner Vorstellungen auch dem Gedankengut des Vordenkers von anarchistischer Gewalt und Aufruhr, des Franzosen Georges Sorel.

Die Ideen Sorels befruchteten auch den „Futuristen“ Filippo Tommaso Marinetti (*22.12.1876), der ähnlich wie Mussolini aus einer Jesuitenschule verwiesen worden war und 1914 seinen Freund Mussolini kennengelernt hatte. Auch F. T. Marinetti sah zunächst in anarchistischen Attentätern seine Vorbilder: In dem Anarchisten Émile Henry, der einen Bombenanschlag auf das Café Terminus in Paris verübte; in Auguste Vaillant, der 1893 einen Bombenanschlag auf die Französische Nationalversammlung durchführte; in Francois Claudius Ravachol, der wegen Bombenanschläge auf einen Richter und Staatsanwalt verurteilt wurde.

Filippo Marinetti beim Turiner Buchfest 1934 mit seinem neuesten „Gedichtband“.

1909 veröffentlichte Marinetti sein „Futuristisches Manifest“, in welchem er bereits die Gewalt und den Krieg verherrlichte. Der „Futurismus“ sollte eine neue Kultur und letztlich neue politische Verhältnisse „über den Kommunismus hinaus“ begründen.

Der Journalist Jochen Vorfelder schrieb in „Der Spiegel“ (20.2.2009) über Marinettis „Futuristisches Manifest – Wir wollen den Krieg verherrlichen“:

„Sie waren Prediger einer brutalen Avantgarde: Im Februar 1909 veröffentlichten die Futuristen ihr Manifest – sie liebten den Tod, das Tempo, Maschinen. Sie hassten Frauen und das Establishment. Wortführer Tommaso Marinetti wurde Mussolinis Kulturminister – und kämpfte für Hitler vor Stalingrad.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs machte Marinetti und D’Annunzio endgültig zu politischen Weggefährten – der verklemmte Hohenpriester des Futurismus und der zwanghafte Erotomane (der angeblich seidene Nachthemden mit einem kreisrunden Ausschnitt unter dem Nabel trug) wurden Unterstützer Benito Mussolinis. Der hatte sich gerade von den Sozialisten abgewandt und agitierte dafür, Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären. Als überzeugter Interventionist schloss sich D’Annunzio dem Duce an, auch Marinetti war von der Aussicht auf Krieg begeistert und lud Mussolini als Redner zu Futuristischen Abenden ein. Nachdem Marinetti im September 1914 in Mailand bei einer Veranstaltung von Kriegsbefürwortern österreichische Flaggen auf der Bühne verbrannt hatte, wurde er mit zwei Gesinnungsgenossen gar inhaftiert. Als Italien im Mai 1915 in den Krieg eintrat, war Marinetti wieder auf freiem Fuß und meldete sich freiwillig. Die meisten Futuristen taten es ihm nach. D’Annunzio, der begeisterte Pilot, obwohl bereits älter als 50 Jahre, ging zur Luftwaffe; Marinetti diente erst bei den Freiwilligen Radfahrern und Automobilsten und später bei den Gebirgsjägern. (…)

Den Krieg begriffen die beiden ‚Kämpfer-Dichter‘ als konsequente Fortsetzung ihres Futuristischen Aktionismus, sich selbst verstanden sie – nach dem Wortlaut ihres Manifests – als ‚angriffslustige Bewegung‘. (…) Marinetti gründete 1918 seine eigene Futuristische Partei, in deren politischem Manifest er ein Loblied auf den Anarchismus und die (kommunistische) Oktoberrevolution sang (…) Die Partei ging bald in Mussolinis neuer faschistischer Bewegung auf – doch die theatralische Liebe zum Faschismus blieb weder bei Marinetti noch bei D’Annunzio ungetrübt.“

Marinetti wurde von dem Chefideologen der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, der auch heute noch für sehr viele Internationalsozialisten das große Vorbild ist, für dessen anarchistischen „Futurismus“ stark gelobt. Doch Marinetti lief nicht zu Gramscis Kommunisten über, sondern vollzog die Wende zum extremen Nationalismus und wollte später auch seinen Freund Mussolini auf diesem Weg begleiten.

1916 fungierte Marinetti als Präsident der präfaschistischen „Nationalen Bewegung für die Wacht am Brenner“. Hier dokumentiert sich sehr klar, dass bei den Anarchisten und den mit diesen verwandten Futuristen, den Faschisten, sowie auch Teilen der italienischen Linken, die Jahrzehnte lange Propaganda der Irredentisten auf sehr fruchtbaren Boden gefallen war.

Unter dem Titel ,,Tricolori del Brennero. Movimento Nazionale per la Guardia al Brennero („Die Trikolore auf dem Brenner. Nationalbewegung für die Wacht am Brenner“) wurde ein Manifest Marinettis als Flugblatt mit „10 Geboten“ veröffentlicht:

Das Flugblatt mit dem Manifest Marinettis

Übersetzt lauten die 10 Thesen:

 

  1. Göttlichkeit Italiens.
  1. Die alten Römer haben alle Völker der Erde übertroffen. Der Italiener von heute ist unüberwindlich.
  1. Der Brenner ist kein Endziel, sondern ein Ausgangspunkt.
  1. Der letzte Italiener ist mehr wert als tausend Ausländer.
  1. Die italienischen Erzeugnisse sind die besten der Welt.
  1. Die italienischen Landschaften sind die schönsten der Welt.
  1. Um die Schönheit einer italienischen Landschaft begreifen zu können, muss man geniale Augen, d.h. italienische Augen haben.
  1. Italien hat alle Rechte, denn es hat das absolute Monopol schöpferischen Geistes und wird es auch in Zukunft innehaben.
  1. Alles, was jemals erfunden worden ist, haben Italiener erfunden.
  1. Deshalb muß jeder Fremde Italien mit einem Gefühl religiöser Ehrfrucht betreten.

F.T. Marinetti

Bei diesem Manifest handelte es sich weder um einen Faschingsscherz noch um eine Selbstpersiflage. Diese 10 Thesen waren tatsächlich ernst gemeint.

Die deutsche Zeitung „Zeit“ (Nr. 02/9.1.1947) schrieb unter dem Titel „Zehn Gebote des Wahnsinns“ über dieses Flugblatt:

„Man vergisst zu leicht. Vor allem vergisst man, wie alles angefangen hat. Beispielsweise, wie der faschistische Wahn in die Welt kam, der die Trümmer und das Chaos, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen, verschuldete! (…) Dieses Flugblatt ist ein erschreckendes Dokument menschlicher Überheblichkeit und faschistischen Geltungswahns. (…) Jedem, der heute diese zehn Gebote liest, wird ein Schauer über den Rücken laufen. Welcher Arroganz, welcher Anmaßung und welchen Irrsinn ist der Mensch unter dem Einfluss eines krankhaften, faschistisch entstellten Nationalwahns fähig! Jeder kann die Folgen dieser Arroganz selbst übersehen. Jeder weiß auch, was Lüge war an diesen Behauptungen! Aber es ist gut, sich immer wieder klarzumachen, wie es begann. Auf daß die Menschheit hellhörig werde gegen die Schalmeien, die der tödliche Verführer zu blasen beliebt.“

Diese „italienischen Schalmeien“ hörten sich z. B. von Italiens Außenminister Tommaso Tittoni, der Italiens führender Diplomat bei den Pariser Friedensverhandlungen war, in einer Rede am 27.10.1919 so an:

Die Völker fremder Nationalitäten, welche unter unsere Gesetzgebung fallen, sollen wissen, daß uns der Gedanke des Unterdrückens und der Entnationalisierung völlig fremd ist, daß ihre Sprache und kulturellen Institutionen respektiert werden, und daß sie alle Vorrechte unserer freiheitlichen und demokratischen Gesetze genießen werden.“ (Franz Huter: „Südtirol. Eine Frage des europäischen Gewissens; S. 298, Wien 1965)

Die Gründung der faschistischen Bewegung

Am 23. März 1919 versammelte sich in Mailand ein bunter Haufen von etwa einhundert Aktivisten, unter denen sich zahlreiche revolutionäre Gewerkschafter und Sozialisten befanden, die mittlerweile das marxistische Gedankengut gegen die Vorstellung einer nationalistischen Diktatur ausgetauscht hatten. Sie gründeten die „Fasci italiani di Combattimento“ – die „Italienischen Kampfbünde“. Das lateinische Wort „fasces“ bezeichnet die römischen „Liktorenbündel“. Die Verwendung des italienischen Begriffs „fasci“ sollte Bezug auf altrömische Traditionen nehmen und die angestrebte Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte bezeichnen.

1921 wurde die Bewegung umbenannt in „Partito Nazionale Fascista“ (PNF) und stellte somit eine politische Partei dar. Die Mitglieder der faschistischen Partei uniformierten sich durch das Tragen schwarzer Hemden.

Die Machtergreifung des Faschismus

In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1922 versammelten sich tausende von faschistischen „Schwarzhemden“ zu einem putschartigen „Marsch auf Rom“. Statt den Spuk mit Polizei und Militär auseinander zu treiben, ernannte der König Vittorio Emanuele III. Benito Mussolini zum Regierungschef und unterstützte in der Folge die Umwandlung des Staates in eine Diktatur durch königliche Dekrete.

Der futuristische und nunmehr faschistische Vordenker Marinetti widmete seinem „teuren und großen Freund“ Mussolini im Jahre 1924 einen Sammelband, betitelt: „Futorismo e Fascismo“. 1929 bedankte sich Mussolini dafür, indem er Marinetti zum Mitglied der „Neuen Akademie der Künste“ bestellte und damit auch dessen „Futurismus“ salonfähig machte.

Die Einigung mit dem Vatikan

Nach dem ab 28.10.1922 erfolgten „Marsch auf Rom“, forderte Mussolini, um seine damals noch schwankende machtpolitische Position zu verfestigen, die Italiener dazu auf, fest an Christus und an ihn selbst als den „Duce“ zu glauben.

Der Vatikan kannte jedoch die Persönlichkeitsstruktur, die Absichten und wirren Ziele Mussolinis und von dessen anarchistischen Freunden nur zu gut. In jedem Dorf Italiens saß ein Pfarrer, der bei Bedarf sofort nach oben berichtete. Deshalb knisterte es sehr stark in den katholisch-faschistischen Beziehungen. Diese untergründig immer schwelende, starke Gegnerschaft, beschrieb treffend die konservativ-liberale „Preßburger Zeitung“ bereits am 1. April 1928 unter dem Titel: „Faschismus und Vatikan. Mussolinis Kampf gegen Papst“:

„Mussolini wird auf einen offenen Widerstand stoßen, von dem er sich nicht ohne weiteres erholen wird. Der Heilige Stuhl hat seine Stimme gegen die Politik des italienischen Diktators erhoben. Der Papst hat eine Rede gehalten, in der er sich gegen die Bestrebungen des Faschismus auflehnte. Es ist kein Geheimnis, daß ein Teil der katholischen Kirche in Italien offen zum Faschismus neigt. Der Schritt des Papstes hat die geheimen Ziele Mussolinis enthüllt. So weiß man nunmehr, was Mussolini unter der Verständigung des Faschismus mit dem Papst gedacht hat: Nichts anderes als Unterwerfung des Papstes.“ (zitiert 2016 von Margita Gáborá in: „Der Fall Nobile / Amundsen“; Internet).

Mussolini hatte zunächst mit der unglaublich primitiv-dreisten Propagandafloskel „an Christus und an ihn zu glauben“, im bürgerlichen Lager und bei vielen Christen, immer mehr Erfolg.

Nun bot Mussolini dem Papst die territoriale Souveränität des Kirchenstaates an, welcher 1870 aufgelöst worden war. Papst Pius IX. unterschrieb am 11. Februar 1929 die „Lateran-Verträge“, die den Status der Vatikanstadt als unabhängigen Staat garantierten. Ab nun begannen sich auch katholische Priester zum Faschismus zu bekennen.

Feldkaplane der Alpini marschieren stramm mit dem Salute Romano

Das Hauptmotiv von Papst Pius XI. für den Vertrag mit Mussolini war der gemeinsame Kampf gegen den Erzfeind, den Kommunismus. (1943, als der Stern des „Duce“ bereits vor den Augen der Welt hell verglühte und die Alliierten auf italienischem Territorium gelandet waren, sollte Papst Pius XII. auf die Seite der Westalliierten wechseln, um nun zusammen mit den neuen Verbündeten weiterhin den Kommunismus eindämmen zu können.)

1930: Ein Strafgesetzbuch mit politischen Unterdrückungsparagraphen

Im Jahre 1930 unterzeichneten der italienische König Vittorio Emanuele III., der Ministerpräsident Benito Mussolini und der Justizminister Alfredo Rocco das königliche Dekret, mit welchem ein neues Strafgesetzbuch („Codice Penale“) in Kraft trat, dessen ausgefeilte Polit-Paragraphen ungehemmte Möglichkeiten der Verfolgung politischer Gegner boten. Vor allem aber legte sich das neue Strafgesetz als eiserne Klammer des Staates um die ihrer Identität beraubten Volksgruppen, welche in eine gemeinsame italienische Einheitsnation eingeschmolzen werden sollten.

In seinem zweiten Hauptteil („Dei delitti contro la personalita dello stato“) zählte der Codex jene „Delikte gegen die Persönlichkeit des Staates“ auf, die ab nun mit langjährigen Kerkerstrafen, mit dem Tod oder lebenslangem Zuchthaus zu ahnden waren:

*Beleidigung der italienischen Nation;

*Beleidigung der italienischen Fahne;

*antinationale Aktivität;

*politischer Defaitismus;

*Beleidigung des Staatsoberhauptes;

*subversive und antinationale Propaganda;

*Bildung von geheimen Gesellschaften.

Wer die bewaffneten Streitkräfte oder den faschistischen Großrat beleidigte (Artikel 290), konnte bis zu 6 Jahren Zuchthaus erhalten, auf die Beleidigung der italienischen Nation oder der italienischen Fahne standen 3 Jahre Kerker.

Wer aber versuchen sollte, eine Kolonie oder ein anderes Territorium vom italienischen „Mutterland“ loszulösen, verfiel nach Artikel 241 der Todesstrafe. (Nach 1945 geändert in: lebenslanger Kerker)

Kritik an der Staatsführung führte ab nun wegen „antinationaler Aktivität“ oder „Beleidigung der italienischen Nation“ in die Kerker der römischen Regierung oder in die Verbannung auf Gefängnisinseln.

Politische Häftlinge wurden in die Kerker von Gefängnisinseln im Mittelmeer deportiert

Viele Südtiroler wanderten aus nichtigen Anlässen für lange Jahre hinter Kerkermauern oder in die Verbannung auf Gefängnisinseln. An den Folgen der Verbannung starben der Rechtsanwalt Josef Noldin und das junge Mädchen Angela Nikoletti, die heimlich im „Katakombenunterricht“ den Kindern Lesen und Schreiben in deutscher Sprache beigebracht hatten.

Sie starben an den Folgen der Verbannung: Angela Nikoletti und Josef Noldin

Nach 1945 hielt die italienische Regierung es für angebracht, das faschistische Strafrecht nahezu unverändert in Kraft zu lassen und es in der Folge bei politischen Prozessen weiter anzuwenden.

Auch nach 1945 blieben nahezu alle faschistischen Unterdrückungsparagraphen weiterhin in Kraft.

Seine politischen Paragraphen dienten der allerchristlichsten Regierungspartei „Democrazia Cristiana“ (DC) nach wie vor zur Niederhaltung aufmüpfiger Südtiroler.

Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht oder Bestrebungen für eine eigene Landesautonomie wurden mit der Einleitung von Strafverfahren wegen „Angriff auf die Einheit des Staates“ oder „Anschlag auf die Verfassung“ beantwortet.

Die Verbrechen des italienischen Kolonialismus

1911 hatte der frühere Pazifist und Sozialist Mussolini den italienischen Eroberungskrieg in Lybien noch zum Anlass genommen, aus Protest zum Generalstreik aufzurufen. Er wurde zu einer fünfmonatigen Haft verurteilt. Der an die Macht gekommene „Duce“ Mussolini wollte jedoch, nach dem Vorbild des Römischen Reiches, wieder große tributpflichtige Provinzen in Afrika schaffen. Dazu war jedes Mittel recht. (s. dazu: Aram Mattioli: „Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933“; in: „Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Hrsg.: Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Campus 2004).

Nach der Machtergreifung Mussolinis verstärkte sich daher der Terror der Besatzungsmacht in Lybien. Das Ziel der faschistischen Politik war es, die fruchtbaren Küstengebiete rund um die Bucht der Großen Syrte unter Vertreibung der Einheimischen zu einem neuen „Lebensraum“ („spazio vitale“) für Hunderttausende landhungrige Kolonisten aus den ärmsten Regionen Italiens zu machen.

Die durch Enteignungen aus den fruchtbaren Gebieten in die Wüstenregionen verdrängten Einheimischen rebellierten aus Selbsterhaltungswillen gegen diese Maßnahmen. Es ging buchstäblich um ihr Überleben.

Mit ihren modernen Kampfmitteln, Flugzeugen und schnellen leichtgepanzerten Eingreiftruppen, brach die italienische Armee den Widerstand. Tiefflieger mähten die flüchtende Bevölkerung in Scharen nieder, erstmals wurde auch Giftgas gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, Tausende starben.

Italienisches KZ in der lybischen Wüste

In Abessinien (Äthiopien) fielen nach Angaben italienischer Historiker mehr als 300.000 Menschen den brutalen Methoden des italienischen Kolonialismus zum Opfer, zu denen auch der Abwurf von Giftgasbomben gegen Zivilsten gehörte. Massenweise Exekutionen und der Hungertod in den Konzentrationslagern forderten ihre Opfer. Die spätere äthiopische Regierung nannte eine Zahl von 407.000 getöteten Zivilisten. (Aram Mattioli: „Experimentierfeld der Gewalt“, Zürich 2005, S. 153)

Heute spricht so gut wie niemand mehr von diesen Opfern.

Öffentliche Hinrichtungen und Massaker mit Giftgasbomben

Den italienischen Kindern wurde die Vernichtung afrikanischer Zivilbevölkerung durch Giftgas in Karikaturen als lustiges Ereignis präsentiert

Nicht besser benahm sich das faschistische Regime auf dem Balkan, in Albanien und Griechenland. In den 29 Monaten italienischer Herrschaft über große Teile von Jugoslawien und Griechenland während des Zweiten Weltkrieges legte sich die Besatzungsmacht keinerlei Zügel an. An den Untaten war auch die faschistische Schwarzhemdenmiliz beteiligt, welche willkürlich Menschen festnahm, mit Dolchen und Bajonetten verstümmelte und anschließend öffentlich henkte.

Anderen Verdächtigen wurde der Kopf abgeschnitten und auf einer Stange in das Dorf getragen, Männer wurden massenhaft erschossen und die Frauen und Kinder in die Konzentrationslager geschickt. Diese Untaten richteten sich in den Städten auch gegen die Juden. (Claus Gatterer: „Im Kampf gegen Rom“, Wien-Frankfurt-Zürich 1968, S. 646ff)

Insgesamt dürften durch italienische Terrormaßnahmen auf dem Balkan zwischen April 1941 und September 1943 mehr als 200.000 Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sein. Der italienische Historiker Brunello Mantelli geht sogar von rund 350.000 Opfern aus. („Die Italiener auf dem Balkan“, in: Christoph Dipper u. a. (Hg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 200, S. 57 ff)

Die hygienischen Verhältnisse in diesem Lager waren schrecklich, die Ernährung bestand aus zweimal einem Teller Suppe pro Tag. Entsprechend hoch war die Todesrate der völlig entkräfteten Internierten.

Halbverhungerte Kinder in dem italienischen Konzentrationslager auf der Insel Rab. (Bild aus der slowenischen Dokumentation „Muceniska pot k Svobodi“, Ljubljana 1946)

Propaganda und Lügen als Zwillinge – Ein Beispiel: Die wissenschaftliche Polarforschung als Mittel faschistischer Propaganda

Natürlich zeichnete Mussolini in seinen Propagandareden ein gänzlich anderes Bild. Auch die faschistische Propaganda stellte Italien als Kulturbringer zum Segen der Menschheit dar.

Abzulehnen war und ist die propagandistische Ausbeutung hervorragender wissenschaftlicher Forschung und Forscher durch totalitäre Ideologen. Wissenschaft und Forschung vertragen grundsätzlich keinen blinden Chauvinismus. Dass jede Nation auf erfolgreiche Forscher und Entdecker stolz sein kann, steht dem nicht entgegen.

Das faschistische Italien war jedoch darauf aus, sich auch auf wissenschaftlichem Gebiet Ruhm um jeden Preis zu erwerben. Dies führte in einem Fall, den ich nachstehend schildern will, zu skurrilen wie auch tragischen Ergebnissen.

Ein italienisches Luftschiff

Der Oberst Umberto Nobile, Mitglied der faschistischen Partei, war ein bekannter Luftschiff-Konstrukteur und hatte das leistungsfähige 106 m lange Luftschiff „N1“ geschaffen, dessen Jungfernflug im März 1924 stattfand und das später „N1 Norge“ heißen sollte.

Umberto Nobile und sein Luftschiff „N 1 Norge“

Bei dem folgenden Bericht greift der Verfasser u.a. auf das Buch von Hans-Otto Meissner „Mein Leben für die weiße Wildnis. Die Expeditionen des Roald Amundsen“ (Stuttgart 1971) zurück.

Der Vorschlag zur Nordpol-Expedition

1925 trat Amundsen nach dem Scheitern einer Flugboot-Expedition nur 245 Kilometer vor dem Nordpol, mit der Idee an den Luftschiff-Konstrukteur Umberto Nobile heran, mit einem Luftschiff den Nordpol in Richtung Alaska zu überfliegen, um das bis dahin ziemlich unbekannte, riesige Gebiet wissenschaftlich zu erkunden. Amundsen war ein bekannter Polarforscher, der bereits im Dezember 1911 den Südpol erreicht hatte.

Roald Amundsen und sein Zelt am Südpol im Jahre 1911

Mussolini begrüßt das Vorhaben

Ein reicher Amerikaner namens Lincoln Ellsworth war von der Idee Amundsens begeistert und spendete 100.000 Dollar. Norwegens Parlament und der Aeroclub spendeten ebenfalls Geld.

Auch der Regierungschef Benito Mussolini begrüßte dieses Vorhaben. Oberst Umberto Nobile, wurde von ihm selbst beauftragt, dem Wunsche Amundsens zu entsprechen.

Dem „Duce“ schien die geplante Fahrt zum Nordpol eine Gelegenheit, Italien einen ersten Platz in der Geschichte der Polarforschung zu sichern und damit zur weltweiten Verherrlichung seines Regimes beizutragen.

Nobile wurde nach Oslo eingeladen und in Amundsens Haus wurden erste Gespräche geführt. Meissner (S. 200) berichtet u.a. über dieses Gespräch:

Nobile: „Der Duce bringt Ihrem kühnen Projekt große Interesse entgegen, Capitano  Amundsen …“

Amundsen: „An welchen Preis hat der Ministerpräsident Mussolini gedacht?“

Nobile: „An gar keinen, wir schenken Ihnen das Luftschiff.“

Amundsen: „Was sind die Bedingungen?“

Nobile: „Die N1 fährt unter italienischer Flagge, und ich habe das Kommando wie bisher.“ Amundsen: „Mit Ihrer Führung des Schiffs, Herr Oberst, bin ich gerne einverstanden. Wir sind sogar darauf angewiesen, und ich hoffe, daß Sie noch einige Leute der bisherigen Besatzung mitbringen. Aber die N1 fährt selbstverständlich unter norwegischer Flagge, und ich bin der Leiter des Unternehmens.“

 Oberst Nobile schien sehr enttäuscht: „Das ändert die Situation, nur der Duce kann darüber entscheiden.“

Meissner (S. 200): „Benito Mussolini kam den Norwegern weit entgegen. Er gab sich mit dem erstaunlich billigen Preis von 80.000 Dollar zufrieden. Nur sollte man am Nordpol auch die italienische Fahne abwerfen, das Kommando im Schiff Nobile überlassen und die Fahrt als gemeinsames Unternehmen der Norweger und Italiener deklarieren. Lincoln Ellsworth konnte teilnehmen und in seiner Person die USA vertreten. Gegen die Gesamtleitung Amundsens hatte der Duce d’Italia nichts einzuwenden. Der Verkauf kam zustande, und die Vorbereitungen liefen an. Als erstes wurde die N1 auf den Namen „Norge“ getauft (…). Benito Mussolini war selbst dabei.“

Nobiles plötzliche Forderungen und seine Gesinnung

Im Februar 1926 wurde ein erster Test durchgeführt, die offizielle Übergabe des Luftschiffs fand am 29. März 1926 in Ciampino statt. Amundsens Unternehmen war von Anfang an von Intrigen, taktischen Plänkeleien, unerwarteten Geldforderungen und Mussolinis propagandistischen Interessen begleitet. Meissner (S. 201):

„Mit Nobile jedoch gab es Schwierigkeiten. Er verlangte erst 40.000, dann sogar 55.000 Norwegen-Kronen für sein Kommando während des Fluges, eine geradezu phantastische Summe für damalige Begriffe. (…) Dann wollte er, daß der Polflug die ‚Amundsen-Ellsworth-Nobile-Expedition‘ genannt wurde. Auch diesem Wunsch des Colonello mußte man entsprechen, ebenso einem Verlangen auf eine hohe Lebensversicherung. Er wollte außerdem das Recht haben, später über den Polflug eigene Berichte zu veröffentlichen. (…) Noch vieles andere im Verhalten des Colonello trug dazu bei, daß ein wirklich gutes ‚Betriebsklima‘ nicht zu erreichen war.“

Am 7. Mai ankerte „Norge“ über dem Ny-Alesund in Spitzbergen. Mit Nobile gab es erneut Probleme, wie Amundsen berichtete. Meissner (S. 204):

„Schlimm für den Oberst, daß er sich die Blöße gab, Riiser Larsen (2. Kommandant) zu bitten, im Falle einer Notlandung sollten die Norweger nicht nur an ihre eigene Rettung denken, sondern auch den Italienern helfen. Amundsen schäumte vor Wut, da ihn schon der Gedanke zutiefst empörte, er könnte jemals einen Menschen in Not verlassen. (…)  ‚Daß dieser Mensch annehmen konnte‘, sagte Amundsen, ‚Männer unseres Schlages könnten so gemein sein, verrät Nobiles miserable Gesinnung. Sein Dünkel, seine Selbstherrlichkeit und Selbstsucht haben in meinen Erfahrungen nicht ihresgleichen.‘“

Amundsens Großmut

Zur gleichen Zeit wie die „Norge“ flog ein amerikanisches dreimotoriges Fokker-Flugzeug unter dem Kommando von Evelyn Richard Byrd, Offizier der US-Kriegsmarine, in die Bucht ein. Byrd, dies wusste Amundsen seit langem, wollte ebenfalls über den Pol fliegen. Amundsen ertrug es gelassen, Nobile kochte jedoch vor Wut. Amundsen bot Byrd sogar seine Hilfe an. Meissner (S. 205):

„Wir müssen so rasch wie möglich aufsteigen‘, drängte Nobile, ‚wir dürfen jetzt keinen Tag mehr verlieren!‘ Aber Leiter der Expedition war Roald Amundsen. ‚Ich gebe die Weisung zum Starten, wenn das letzte Detail der Vorbereitung fertig ist. Sicherheit vor allem, sonst interessiert mich gar nichts.‘ Es war ihm jetzt gleich, wer zuerst den Pol überflog. Byrd wollte nur zum Pol und sofort wieder zurück nach Ny-Alesund. Wissenschaftliche Beobachtungen und Vermessungen konnte er nicht durchführen, erst recht nicht über dem Pol stehen bleiben.  Die ‚Norge‘ aber war mit einer Fülle von Instrumenten ausgerüstet, um der wissenschaftlichen Forschung zu dienen.“

Byrds Fokker stieg auf, er erreichte nach seinen eigenen Angaben den Nordpol und war nach 16 Stunden wieder zurück. Amundsen gratulierte ohne Neid zum „wohlverdienten Erfolg der Vereinigten Staaten“ und spendiert zwei Kisten Champagner.

Erst am Abreisetag der „Norge“, dem 11. Mai 1926, wurde entschieden, wer an Bord klettern durfte: sechs Italiener, ein schwedischer Meteorologe, der amerikanische Millionär Lincoln Ellsworth und neben Roald Amundsen sieben andere Norweger, treue Gefolgsleute Amundsens. Amundsen nahm in einem Korbstuhl an einem Seitenfenster Platz. Um 8 Uhr 55 morgens begann die historische Fahrt der „Norge“.

In der Kabine der „Norge“ über dem Pol, Amundsen in der Mitte (Bild aus: Hans-O. Meissner, S. 209; Verlag Cotta, Stuttgart 1971)

Meissner (S. 206ff):

„Nach dem Bericht Roald Amundsens war die ‚Norge‘ durch Nobiles Nervosität dreimal in Gefahr, das Eis zu rammen. Erst im letzten Augenblick gelang es Riiser Larsen, das Schiff wieder auf geraden Kurs zu bringen. Dabei wurde Nobile vom Steuer gestoßen und gezwungen, das Kommando zweitweise abzugeben. (…) Zwei Jahre später ist ja unter seinem Kommando die ‚Italia‘ aufs Eis gestoßen. (…) Sehr oft schwebte das Schiff knapp 100 Meter über dem Polareis, damit man deutlich beobachten, filmen und fotografieren konnte. Ein Motor setzte aus. Das hätte in Flugzeugen jener Jahre den Absturz bedeutet, zumindest eine riskante Notlandung. Aber die ‚Norge‘ besaß drei Motoren, und so genügten die beiden anderen. (…) Ohne Hast wurde der schadhafte Motor repariert und sprang wieder an.“

 Eine peinliche und provokante faschistische Propaganda

 „Am 12. Mai 1926, morgens um 1 Uhr 25, war das fliegende Schiff über dem Nordpol angekommen. Es senkte sich bis auf 80 Meter Höhe und blieb stehen. Amundsen ließ die norwegische Fahne hinab fallen. Das Tuch, nicht größer als ein Taschentuch, war an einem Stab befestigt, dessen bleigefüllte Spitz sich beim Fall in das Eis bohrte. Rasch hatte das Fähnchen festen Halt am Nordpol gefunden, hell leuchteten die bunten Streifen auf weißer Fläche. Danach folgte eine amerikanische Flagge der gleichen Größe, die Lincoln Ellsworth abwarf.

Jetzt war Oberst Nobile an der Reihe. Aber er hatte Mühe, seine Fahne durchs Fenster zu bringen, denn sie war so groß wie ein Bettlaken. Dabei hatte man für alle drei Fahnen die gleiche Größe verabredet. Die italienische Trikolore blieb in einem der Propeller hängen. Zwei Männer mussten ein akrobatisches Kunststück vollbringen, um sie wieder loszumachen.

‚Wie kann nur ein erwachsener Mann seine Vaterlandsliebe nach dem Flächeninhalt der Nationalflagge bemessen?‘, liest man in dem Bericht Roald Amundsens. ‚Sein Verhalten in diesem höchst bedeutsamen Augenblick erschien mir so komisch und so albern, daß ich lautes Lachen nicht vermeiden konnte.‘

Zeitgenössisches Gemälde. Die „Norge“ über dem Nordpol

Das Flugschiff „Norge“ stieg wieder auf, fuhr Richtung Alaska und kam bei minus 40 Grad durch die sich bildenden Eiskristalle in ernsthafte Schwierigkeiten, doch wurde nach 40 Stunden, am 13. Mai, die Nordküste Alaskas erreicht. Damit war die Überquerung des Polarmeeres zum ersten Male geglückt. Meissner (S. 208):

„Aber eine dunkle Wolkenwand kam der ‚Norge‘ entgegen. Man konnte ihr weder ausweichen noch genügend Höhe gewinnen, um darüber zu schweben. Die Situation wurde kritisch, als Sturmböen das Schiff wieder nach Norden trieben. Die drei Motoren kamen dagegen nicht an. Wegen der atmosphärischen Störungen konnte die Schiffsführung keine Wettermeldungen aus Alaska empfangen. Die Orientierung ging verloren (…) die „Norge“ wurde herumgeworfen wie ein Ball. (…) Die Italiener beteten um Rettung.“

Nach 72 Stunden in höchster Not ankerte das Luftschiff in einer Eskimo-Siedlung namens Teller, 60 Kilometer von Nome im Westen Alaskas gelegen. Die Mannschaft der „Norge“ war zu Tode erschöpft und schlief zwei Tage in den Hütten der Eskimos.

Der wissenschaftliche Erfolg der Expedition

Amundsen Eintrag dokumentiert, daß er an den wissenschaftlichen Erfolg dieser Entdeckungsfahrt und an die Zukunft der Menschen dachte:

„Der kürzeste Weg von Europa nach Ostasien ist die Strecke über den Pol nach Alaska und weiter nach Japan. Auf dieser Route werden in absehbarer Zukunft die Menschen fliegen. Es werden nicht Hunderte sein, sondern Tausende, vielleicht an ein und demselben Tag. Mit Stolz erfüllt mich der Gedanke, daß wir die Ersten waren. Wir haben eine neue Epoche eingeleitet.“

Die Medien jubelten weltweit, Mussolini gab pathetische Interviews, die angeblich tiefe italienisch-norwegische Freundschaft wurde beschworen.

Der italienische „Duce“ Mussolini gab pathetische Interviews

An Alaskas Küste spürte man von dieser Freundschaft nicht so viel. In Seattle wurde die Mannschaft der „Norge“ jubelnd begrüßt, dem uniformierten Oberst Nobile wurde von einem Mädchen ein Begrüßungsstrauß überreicht und der einfach gekleidete Amundsen wurde übersehen. „Nichts anderes als Betrug“, schrieb Amundsen, denn Uniform zu tragen, war eigentlich nicht vorgesehen. „Dieser besoldete Luftschiffführer auf einem norwegischen Schiff, das einem Amerikaner und mir selbst gehörte, darf nicht den Ruhm an sich reißen, der ihm nicht gebührt“, heißt es in Amundsens Erinnerungen.

Nach seiner Rückkehr nach Italien wurde Umberto Nobile „für die außergewöhnliche Leistung“ zum General ernannt.

Es ging darum, den Ruhm Italiens zu mehren – Nobile landet auf dem Packeis

Mussolini und Nobile hatten Lust an Polarmeerexpeditionen gefunden. Von Spitzbergen aus startete Nobile mit dem Luftschiff „Italia“ zu drei weitere Expeditionen. Bei der letzten fuhr er am 24. Mai 1928 über den Nordpol. Funksprüche verkündeten auch diesen neuerlichen Triumph italienischen Unternehmungsgeistes. Dann brach die Radioverbindung ab, das Luftschiff „Italia“ schlug auf das Packeis auf, die Gondel und Hülle brachen auseinander, mit der Hülle flogen sechs Mann davon und blieben verschollen.

Auf einer Eisscholle aber lag, mit einigen Überlebenden, auch General Umberto Nobile.

Der Tod Amundsens

Der wegen des faschistischen Propagandarummels um „Norge“ und auch wegen Nobiles Verhalten verbitterte Amundsen brach trotzdem mit einem französischen Flugboot von Tromsö in Nord-Norwegen am 18. Juni zu einem selbstlosen Einsatz auf, um Umberto Nobile zu retten. An Bord waren zwei weitere Norweger und vier Franzosen. Eine letzte Meldung des Flugbootes wurde aufgefangen, dann war Stille. Am 31. August wurde das erste Wrackteil gefunden. Irgendwo zwischen Troms und der Bäreninsel war das Flugboot abgestürzt, es wurde bis heute nicht gefunden.

Nobile wurde gerettet

General Nobile nach seiner Rettung

Nobile wurde trotzdem gerettet. Am 23. Juni landete Oberleutnant Lundborg von der schwedischen Luftwaffe waghalsig mit einem Kufenflugzeug auf der Eisscholle und rettete, auf ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten, als ersten General Nobile. Bei einem zweiten Landeanflug auf das Packeis schoss die Maschine über das Ziel hinaus und havariert selbst auf dem Eis. Am 12. Juli erreichte der russische Eisbrecher Krassin das Packeis und barg die restlichen Überlebenden.