„Die Deutschen brauchen keine Schulen“

So lautet der Titel eines auf zeitgeschichtlichen Dokumenten beruhenden Dokumentarwerkes über die Geschichte des Schulwesens in Südtirol vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart.

Herausgegeben wurde die neue Publikation unter leitender Betreuung durch die Südtiroler Historikerin Dr. Margareth Lun vom Verein Südtiroler Geschichte und dessen Obmann Roland Lang.

Die Südtiroler Historikerin Dr. Margareth Lun und der Obmann des Vereins Südtiroler Geschichte, Roland Lang

Den Anstoß, ein solches Dokumentarwerk zu schaffen, bildete ein handgeschriebenes Schulbuch aus dem Jahr 1914, das dem Heimatforscher Karl Saxer zugekommen war. Es handelt sich um eine Sammlung von handgeschriebenen Texten von Schülern, die der damalige Lehrer, Organist und Chorleiter Josef Lechner in Buchform hat binden lassen und die ein einzigartiges Zeugnis der Schulkultur jener Zeit darstellen. Dieses bemerkenswerte Zeitdokument ist ausschnittweise in der vorliegenden Dokumentation wiedergegeben. Das Original befindet sich nun im Heimatmuseum Steinegg.

Titel des Schulbuches und Beginn eines Aufsatzes des Schülers Josef Weisensteiner (7. Schuljahr): „Die Entstehung des österreichischen Wappens. Das österreichische Wappenschild hat einen weißen Streifen auf rotem Feld. …“

Dieses alte Schulbuch hatte die Herausgeber und Mitarbeiter an dem vorliegenden neuen Dokumentarwerk dazu bewegt, die weitere Entwicklung der deutschen Schule in Südtirol in den darauf folgenden Jahrzehnten zu untersuchen und anhand von Dokumenten und Zeitzeugenschilderungen darzustellen.

„Die Deutschen brauchen keine Schulen und wir brauchen auch keine Deutschen!“ “

Diese Worte warf der damalige italienische Vizepräfekt Giuseppe Bolis einer Abordnung deutscher Eltern an den Kopf, die im Oktober 1923 von ihm Aufklärung über den geplanten Abbau der deutschen Volksschulen und deren Ersetzung durch italienische Schulen begehrten.

Aus „Innsbrucker Nachrichten“ vom 27. Oktober 1923

 Am 26. Oktober 1923 meldeten die „Bozner Nachrichten“, dass das regierungsamtliche Nachrichtenblatt „Gazzetta Ufficiale“ bekannt gegeben habe, dass ein neues „Volksschulen-Dekret“ der Regierung verfügt habe, dass in allen „Elementarschulen des Königreichs“ der Unterricht „in der Staatssprache erteilt“ werde.

Aus „Bozner Nachrichten“ vom 26. Oktober 1923

Am 3. November 1923 demonstrierten an die 600 deutsche Mütter aus dem Überetsch, dem Eisacktal und dem Etschtal vor dem Amtssitz des Vizepräfekten Giuseppe Bolis in Bozen für die Beibehaltung der deutschen Schule.

Auf dem Buchumschlag ist ein Foto dieser Demonstration abgebildet, welche von einem Bataillon (!) bewaffneter Polizisten beaufsichtigt wurde.

Diesen Frauen erklärte der Vizepräfekt, dass ihnen das Gefängnis oder die Verbannung auf eine süditalienische Insel drohe, sollten sie sich der italienischen Staatssprache und der italienischen Schule widersetzen.

Der Kampf um die deutsche Schule

„Der Kampf um die Beibehaltung der deutschen Schule und des Unterrichts in der Muttersprache sowie um die Loslösung von der Bevormundung und der Beeinflussung durch Kirche und Staat sollte eines der prägendsten Merkmale für ein ganzes Jahrhundert Südtiroler Schulgeschichte werden“, schreibt die Historikerin Dr. Margareth Lun in ihrem Vorwort zu diesem Buch.

Faschismus – Unterdrückung – „Katakombenschulen“

Noch vor der offiziellen Annexion Südtirols hatte der General-Zivilkommissär Luigi Credaro 1919 in das Südtiroler Schulwesen eingegriffen, die deutsche Volksschule in Laag in der Gemeinde Neumarkt aufgelöst und die Errichtung einer italienischen Schule verfügt.

Nun, unter der Herrschaft des Faschismus, ging es nicht mehr um einzelne lokale Eingriffe in das Schulwesen, sondern um die Beseitigung der deutschen Schulen im ganzen Land, die ohne Zaudern durchgeführt wurde.

 

Einer der vielen dokumentarischen Belege aus dem Buch: Ein nunmehr italienischsprachiges Schulzeugnis

Die deutschen Schulkinder wurden zwangsweise in die faschistische Jugendorganisation „Balilla“ eingegliedert und mussten an faschistischen Feiertagen die verhasste faschistische Uniform tragen und faschistische Kampflieder lernen.

Deutsche Schulkinder in Balilla-Uniform

In dieser Situation appellierten die Südtiroler Abgeordneten Eduard Reut-Nicolussi, Karl Tinzl, Wilhelm von Walther und Friedrich von Toggenburg in einem Aufruf an die deutschen und ladinischen Landsleute: „Jetzt gilt’s erst recht, deutsche Art und deutsches Wort für Kind und Enkel zu erhalten.“

In der Folge entstanden Notschulen im Untergrund, die sogenannten „Katakombenschulen“, in denen auf Bauerhöfen oder auch im Wald Kinder in der deutschen Sprache von aufopfernden und mutigen Lehrkräften unterrichtet wurden.

Geheimer Schulunterricht auf einem Bauernhof

Die dringend benötigten Schulbücher wurden unter anderem von jungen Freiwilligen in nicht ungefährlichen Märschen aus Nordtirol heimlich über die Jöcher des Alpenhauptkammes nach Südtirol gebracht.

Heimlicher Büchertransport über die Alpen

Das vorliegende Dokumentarwerk schildert anhand von Dokumenten und Erinnerungen von Zeitzeugen die damaligen tristen Verhältnisse.

In den staatlichen Schulen wurden die Kinder faschistisch indoktriniert. In italienischer Sprache wurde ihnen erklärt, welch großartiger Regierungschef der „Duce“ Mussolini sei.

Kinder, welche des Italienischen nicht mächtig waren, wurden von italienischen Lehrern geprügelt, wie die damalige Schülerin Eva Hatzis aus Olang der Historikerin Miriam Brunner zu berichten wusste:

„Die Lehrer zu dieser Zeit waren sehr brutal. Die haben die Kinder aus purem Privatvergnügen geschlagen.
Auch ich hatte eine Lehrerin, die am Morgen immer etwas auf Italienisch sagte, was wir zwangsläufig nicht verstehen konnten, und wenn niemand geantwortet hat, was sie von vornherein schon wusste, hat sie willkürlich einen Schüler an den Haaren zur Tafel geschleift und ihn dann dort verprügelt.
Wir waren alle eingeschüchtert bis aufs Letzte und sind auch nicht mehr gerne zur Schule gegangen. Man konnte sich auch nicht richtig verständigen. …
Die Lehrer, die uns unterrichtet haben, konnten alle gebrochen Deutsch und sie haben uns dann immer ausgehorcht, was wir zu Hause machen. Immer wieder ist es dann vorgekommen, dass sich einige Kinder verraten haben und dann die ‚fasci‘ (Anm.: Faschisten) zu ihnen nach Hause gekommen sind.“

Der ehemalige Lehrer und Bürgermeister der Gemeinde Kiens, Karl Pfeifhofer, berichtet am Beispiel seiner Gemeinde über die Katakombenschulen und liefert wertvolle Zeitzeugnisse.

Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es zahlreiche weitere Erlebnisberichte sowie zeitgenössische Fotos und Dokumente in Faksimile bietet. Der Leser taucht ein in eine vergangene Welt und nimmt teil an den schweren Erlebnissen der damaligen Zeit.

Der schwierige Wiederaufbau der deutschen Schule nach dem Zweiten Weltkrieg

Beeindruckend sind die Schilderungen, wie es trotz aller Schwierigkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gelang, das deutsche Schulwesen aufzubauen. Die Historikerin, Lehrerin und Politikerin Dr. Eva Klotz berichtet darüber anhand des Beispiels ihrer Mutter Rosa Klotz-Pöll, die als engagierte und mutige Lehrerin große Opfer gebracht hat.

Die opferbereite Lehrerin Rosa Klotz-Pöll

Der katholische Priester Josef Ferrari – ein Vorkämpfer für die Wiedererrichtung der deutschen Schule in Südtirol

In einem weiteren Beitrag stellt der Historiker Dr. Othmar Parteli das bedeutende Lebenswerk des heimattreu gesinnten Klerikers und ersten Schulamtsleiters Josef Ferrari dar. Dieser führte nach Kriegsende Verhandlungen mit den Amerikanern, um die deutsche Schule in Südtirol zu retten und um damit den deutschen Schülern den Unterricht in ihrer eigenen Muttersprache zu sichern, Er war maßgeblich am Aufbau und an der Qualität der deutschen Schule in Südtirol beteiligt.

Beiträge über aktuelle Schulfragen

Wer glaubt, dass alle Schulfragen heute politisch außer Streit stehen, der irrt. Es würde hier den Rahmen einer Buchbesprechung sprengen, dieses Thema ausführlich darzulegen. Dies kann jedoch in dem vorliegenden Dokumentarwerk nachgelesen werden.

Seit den 90er Jahren gibt es Geschichte- und Geografiebücher, die spezifisch auf Südtirol eingehen

In zwei Beiträgen beschreibt Dr. Margareth Lun den Wandel der Schule vom 2. Autonomiestatut bis heute und zeigt nach wie vor bestehende Probleme auf.

Die Mittelschullehrerin Mag. Verena Geier berichtet über das Thema „Schule und Südtirolkonvent“ sowie über die hitzigen Auseinandersetzungen über Sprachexperimente und die Beibehaltung des gesetzlich festgelegten Rechtes der Schüler auf muttersprachlichem Unterricht (Art. 19 des Autonomiestatuts).

Blick über die Landesgrenzen: „Verelsässerung: Wie eine Region von der Landkarte verschwindet“

Zwei Autoren zeigen auf, welche Bedeutung das Schulwesen in Zusammenhang mit dem Gebrauch der Muttersprache für das Weiterbestehen der Volkskultur und für das Überleben von Volksgruppen hat.

Der elsässische Sprachwissenschaftler Bernard Wittmann berichtet unter dem Titel „Verelsässerung: Wie eine Region von der Landkarte verschwindet“, über die Zerstörung der deutschen Schule im Elsass und welche Auswirkungen dies auf das Schicksal der deutschen Volksgruppe hatte. Die berichteten Zahlen geben darüber Aufschluss: Bei der Volkszählung von 1910 gaben 94 (!) Prozent der Elsässer Deutsch als Muttersprache an. Und heute, nur drei Generationen später, können nur noch fünf Prozent der Grundschüler Deutsch. Den Abschluss des Werkes bildet ein bedeutsamer Beitrag des Konsulenten für Internationale Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union, Dr. Johannes Ausserladscheiter. Er berichtet über die Bedeutung des Deutschen als Verkehrs- und Handelssprache seit dem 19. Jh. und erklärt mit Zahlen und Fakten die aktuelle Bedeutung der deutschen Sprache in Europa und in der Welt.

 Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Südtiroler Kulturgeschichte

Das Buch „Die Deutschen brauchen keine Schulen“ ist eine sehr interessante Tirolensie. Es ist eine fesselnde Reise durch 100 Jahre Südtiroler Schulgeschichte und damit ein wertvoller Beitrag zur Südtiroler Kulturgeschichte. Einmalig ist die Sammlung von Dokumenten, zeitgenössischen Fotos und Erlebnisberichten. Dem Werk ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Die Gestalter der Dokumentation

An der inhaltlichen Gestaltung dieses Buches haben erfahrene Bildungsexperten, Lehrer und Lehrerinnen mitgewirkt:

  • Johannes Ausserladscheiter (Unternehmer, Konsulent für Wirtschaftspolitik)
  • Miriam Brunner (Historikerin, Mittelschullehrerin)
  • Verena Geier (Mittelschullehrerin)
  • Eva Klotz (Historikerin, Lehrerin, Politikerin)
  • Cristian Kollmann (Sprachwissenschaftler)
  • Roland Lang (Obmann des Vereins Südtiroler Geschichte)
  • Margareth Lun (Historikerin, ehemalige Mittelschullehrerin, Museumsleiterin)
  • Efrem Oberlechner (Geometer, Berufsschullehrer)
  • Othmar Parteli (Historiker und ehemaliger Direktor des Amtes für deutsche Kultur und Direktor der Abteilung Museen)
  • Karl Pfeifhofer (Lehrer, ehem. Bürgermeister)
  • Günther Rauch (Publizist)
  • Karl Saxer (Heimatforscher)
  • Elmar Thaler (Unternehmer, Publizist)
  • Bernhard Wittmann (Historiker aus dem Elsass)

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„Die Deutschen brauchen keine Schulen“

Herausgeber: Verein Südtiroler Geschichte
Verlag: Effekt! Buch, Neumarkt
September 2020
ISBN 9788897053699
Gesamtbetreuung: Margareth Lun

Hier kann das Buch für 24,90 Euro direkt beim Verlag bestellt werden: www.effekt-shop.it/shop/buecher/die-deutschen-brauchen-keine-schulen/